Briefe ehemaliger Göttinger "OstarbeiterInnen"

Zusammenstellung vom 8. Februar 2001


"Sehr geehrte Frau Cordula Tollmien, guten Tag!

Das ist ein Brief von Sinaida Michailowna. Großen menschlichen Dank für Ihre Arbeit, für den Fragebogen, den Sie mir zugeschickt haben.

Ich habe etwas zu erinnern, aber es sind schwere Erinnerungen. Als ich nach Deutschland verschleppt wurde, war ich erst 15 Jahre alt. Was konnte ich damals wissen, wo niemals aus meinem Dorf herausgekommen war, ehrlich gesagt.

Wir wurde wie Vieh in Güterwagen verlagen und abgefahren. Der Wagen war vollgestopft mit solchen Jugendlichen wie ich und auch mit Menschen, die etwas älter waren als ich. Wohin wir gefahren wurden und wie lange wir gefahren sind, konnten wir damals nicht erfahren.

Als wir in Deutschland ankamen, wurden wir wie Vieh ins Lager getrieben.
Das Lager war für Russen, dort waren Männer und Frauen untergebracht. Rings um die Baracken war Stacheldraht, der die Männerbaracken von den Frauenbaracken trennte. Das Lager war nicht direkt in der Stadt, sondern hinter der Stadt. Es war aus Holz gebaut.

Als wir von den Amerikanern bombardiert wurden, fiel eine Bombe aus Versehen auf eine Baracke. Es geschah am Neujahr 1944. [...] Sich daran zu erinnern, ist schwer, das Gedächtnis wird immer schwächer.

In der Fabrik arbeitete ich vom ersten bis zum letzten Tag, bis zur Befreiung. Was wir produzierten, wußten wir eigentlich nicht. Ich bearbeitete auf der Drehbank irgendwelche eisernen Platten. Danach wurden sie in einer Lösung gewaschen, um die eisernen Hobelspäne zu entfernen.

Das Leben war sehr schwer. Wir hatten nichts zum Anziehen, die Schuhe hatten Holzsohlen. Wir waren immer hungrig.

Sonntags wurden wir manchmal von deutschen Frauen geholt, um ihnen beim Kartoffelausgraben zu helfen. Das Verhalten dieser Frauen zu uns war menschlich. Sie gaben uns etwas zu Essen und auch etwas zum Anziehen. Sie erlaubten uns, Kartoffeln in die Baracken mitzunehmen. Aber unterwegs haben uns Polizisten alles abgenommen.

Das Leben war bitter. Mein Bruder und meine Schwester wurden ein Tag vor mir verschleppt.

Als wir von den Amerikanern befreit wurden, im Jahre 1945, und nach Hause abtransportiert wurden, wurde uns alles, was wir mitgenommen hatten, an der deutsch-polnischen Grenze abgenommen. Alles, was bei uns war: die Kleidung bis zum letzten Fetzen, alle Papier, Fotos usw.

Ich schicke Ihnen das Foto zu, das mir noch blieb. Bitte schicken Sie es mir möglichst zurück. Es ist für mich an Andenken an meine Schwester.

Damit beende ich meinen Brief. Entschuldigen Sie mich bitte, wenn ich nicht das geschrieben habe, was Sie wissen möchten. Kommen Sie zu mir als Gäste bei Gelegenheit. Dann werde ich wahrscheinlich ein bißchen mehr erinnern.

Hochachtungsvoll

Sinaida Michailowna"


"Sehr geehrte Cordula Tollmien,

Sie haben mich darum gebeten, meinen Aufenthalt in Deutschland während des Zweiten Weltkrieges ausführlicher zu beschreiben. Sie sind Historikerin und diese Angaben können Sie, vielleicht, für Ihre Arbeit gut gebrauchen. Ich werde versuchen, Ihnen zu helfen, es ist nicht so schwer.

Im März 1943 wurde unser Dorf Mazowo völlig niedergebrannt, alle Dorfbewohner mußten in einer Kolonne bis zur Station Korobez (Rayon Elninskij) zu Fuß gehen. Unterwegs wurde mein kleiner Bruder (er wurde im September 1941 geboren) schwer krank.

Von Korobez hat man uns in mehreren Waggons über Weißrußland nach Deutschland transportiert. Meine Mutter mußte mit meinem Bruder in einem abgesonderten Abteil bleiben (er hatte angeblich Typhus), als der Zug abfuhr, kamen die Soldaten, stießen meine Mutter zu uns ins Abteil und meinen kranken Bruder haben sie aus dem fahrenden Zug geworfen ..."


"Wie wir nach Deutschland kamen:

Ich, Ljubow Alexandrowna T., geb.1930, kam nach Deutschland zusammen mit meiner Mutter Anna Wasiljewna, geb.1908, und meiner kleinen Schwester, Ljudmila Alexandrowna, geb. 1937.

Wir wohnten in der Stadt Krjukowo am Dnjepr. Wir wurden von Deutschen von zu Hause in ein 4-stöckiges Haus getrieben und waren dort die ganze Nacht. Morgens wurden wir, wie auch die anderen Leute, von zwei SS-Männer mit Hunden aus dem Keller gejagt und in das Dorf Dmitrjewka getrieben.Wir hatten bei uns weder Essen noch Kleidung. Die Kolonne wurde von SS-Männern und Polizisten bewacht. In Dmitrjewka wurden wir in Güterwagen verladen, die voll von Menschen waren, die Wagen verschlossen und es ging los. Geöffnet wurden die Wagen nur in Polen, wo wir sauere Nudeln zu Essen bekamen. Wir erinnern uns daran mit Entsetzen. Dann fuhren wir weiter. In irgendeiner Stadt wurden wir gewaschen und unsere Kleidung wurde desinfiziert [durch Hitze]. Dann wurden wir zum Bahnhof gebracht und in einer Reihe aufgestellt. Deutsche in Uniform wählten die Leute aus, luden sie in einen LKW und fuhren sie weg."


"Sehr geehrte Frau Dr. Cordula Tollmien!

Vielen Dank für Ihre Hilfe bei der Lösung unseres Problems. Wir bedanken uns bei Ihnen dafür, daß die Verwaltung der Stadt Göttingen für historische Gerechtigkeit sorgen will. Sie haben mit der sehr schweren Arbeit begonnen, das Schicksal der Menschen zu untersuchen, die für ihr gesamtes weiteres Leben durch den Krieg beschädigt wurden.
Dieser Brief kommt von der Tochter von Melanja Fjedorowna K. Ich bin 48 Jahre alt, im Moment arbeite ich nicht. Ich bin mit der Pflege meiner kranken Eltern beschäftigt. Mein Vater ist 77 Jahre alt. Er ist Invalide, Kriegsversehrter. Eins seiner Beine ist amputiert; er leidet an vielen Krankheiten. Meine Mutter ist auch 77 Jahre alt. Im vorigen Jahr hatte sie eine schwere Form der Anämie (hippochronisches B12 Defizit). Außerdem hat sie Ischemie, die Herzkrankheit Kardiosklerose, Artereosklerose, ein Magengeschwür, Hypertonie usw.

Deswegen mußte ich mit meiner Arbeit aufhören und meinen Eltern helfen.

Den Fragebogen habe ich ausgefüllt, weil es für meine Mutter zu schwer ist zu schreiben. Das Schreiben hat mehr als eine Woche gedauert, weil die Erinnerung an die Vergangenheit für uns sehr schwer ist. Mehrere Ereignisse sind aus dem Gedächtnis verschwunden.

Die Menschen, die in Deutschland gewesen sind, haben keine Unterstützung vom Staat bekommen, sie wurden von der Gesellschaft verurteilt.

Deshalb haben wir die Tatsachen von unserem Aufenthalt in Deutschland vergessen, die Erinnerungen aus dem Gedächtnis gestrichen."


"Guten Tag, sehr verehrte Dr. Cordula Tollmien!

Hochachtungsvoll grüßt Sie, Olga Aleksejewna. Ich bin im voraus sehr dankbar für Ihre Aufmerksamkeit für meine Person und für Ihre Mühe, eine Bestätigung dafür zu finden, daß ich wirklich im Verlauf des Krieges in Deutschland zur Zwangsarbeit in einer Fabrik gewesen bin.

Ich bitte um Verzeihung dafür, daß ich die Antworten auf Ihre Fragen nicht in der Reihenfolge des Fragebogens beantworte. Meine Schwierigkeit besteht auch darin, daß ich an Alterssklerose leide und mich an viele Sachen nicht mehr erinnere. Meine Augen sehen schlecht. Ich habe wohl nicht so viel durchlebt, aber die vielen Operationen und die Narkose haben das ihre getan. Ich habe fünf Operationen ertragen. Mir wurden entfernt: Niere, Brüste; außerdem hatte ich zwei Bauchhöhlenschwangerschaften und eine eitrige Blinddarmentzündung.

Ich bat meinen einzigen Sohn, Ihnen zu antworten: Sein Vater kam nicht aus dem schrecklichen Krieg zurück, er kennt ihn nur vom Foto."


"Sehr geehrte Frau Cordula Tollmien, guten Tag!

Ich danke Ihnen sehr für Ihre Mühe. Sie müssen mich richtig verstehen. Das alles ist schon lange her. Ich bin jetzt 76 Jahre alt. Manchmal vergesse ich, was ich gestern gegessen haben. Mein ganzes Leben hindurch arbeitete ich als Buchhalter. Deswegen sind meine Nerven völlig kaputt.

Damals war ich ein einfacher Junge vom Dorf, hatte so wenig in meinem Leben gesehen. plötzlich geriet ich unter sehr schweren Bedingungen nach Deutschland."


"Es grüßt Sie Hochachtungsvoll Olga Iwanowna.

Guten Tag, sehr geehrte Kollegin Dr. Cordula Tollmien.
Entschuldigen Sie bitte, daß ich mch entschlossen haben, Ihnen einen Brief zu schreiben, ohne Sie zu kennen. Aber das Leben zwingt mich, Sie so weit wie möglich kennenzulernen.

Vor einer Woche habe ich den Brief mit dem Fragebogen von Ihnen bekommen und die Fragen sofort beantwortet.
Aber wie kann man das alles beschreiben, was wir in den schweren Zeit in Deutschland überlebt haben. Hunger, Kälte, Unterernährung, das Entsetzen der Bombenangriffe usw. Was kann man schreiben, Sie wissen doch selbst, wie der Krieg ist.

Wir haben in so schweren Zeiten gelebt, aber die Gegenwart hat uns auch nichts Gutes gebracht. Unser Leben ist sehr schwer. Die Rente reicht noch nicht einmal für Brot. Meine Rente beträgt 50 Rubel [das sind umgerechnet etwa 3-4 DM] Was kann man dafür kaufen? Alles ist sehr teuer. Es ist schon lange her, daß wir Fleisch und Butter gesehen haben. Man kann keine Milch, Makkaroni, Zucker für so wenig Geld kaufen. Die Rente reicht nicht.

Das Brot ist bei uns sehr teuer: 1,5 Rubel für ein kleines Brot von 500 gr.

Dazu muß ich noch zwei Menschen unterhalten: Meinen kranken und gelähmten Sohn, und mein Enkel lebt bei mir. Ich bin jetzt 75 Jahre alt und bin sehr krank und muß noch diese Menschen unterhalten. Die Arzneien sind so teuer, dafür habe ich kein Geld. Die Preise sind so hoch. Ich Alte kann mir keine Strümpfe leisten."


"Guten Tag, Frau Tollmien !

Ich habe Ihre Fragebogen bekommen und ausgefüllt. Schicken kann ich ihn aber nicht, weil das für mich zu teuer ist. Ich lebe sehr bescheiden, meine Rente ist klein.Und so habe ich entschieden, Ihnen einen Brief zu schreiben, so wird es billiger. Ich wohne allein, mein Mann ist gestorben. Die ältere Tochter ist auch gestorben. Die jüngere Tochter ist arbeitslos, sie wohnt allein. Ihr Mann ist auch gestorben. Wahrscheinlich, müssen Sie das nicht wissen, aber ich möchte Ihnen sagen, daß wir sehr schlecht leben."


In dem Fragebogen wurden auch nach der Ausbildung, dem Beruf und der jetzigen Lebensituation gefragt:


"Rentnerin; Rente: 48 Griwna, 99 Kop.; mein Mann ist auch Rentner, Kriegsinvalide; Rente: 225 Gr.; die Tochter pflegt uns; Hilfe: 5 Gr 60 Kop.; Enkeltochter 10. Klasse. Wir leben in einer 2-Zimmerwohnung."


"Hochschulbildung: Betriebswirtin - Buchhalter. Lebenssituation - Armut."


"Ich habe keine Ausbildung und keinen Beruf. Meine Lebensbedingungen als Rentnerin sind sehr schlecht."


"Buchhalter, jetzt bin ich Rentner. Die Lebensbedingungen sind im Moment sehr schlecht, sowohl materiell, als auch moralisch. Ich brauche dringend eine Bruchoperation."


"Ich habe in einem Porzellanwerk als Mechaniker gearbeitet. Jetzt bin ich Rentner. Von meiner Rente lebe ich sehr schlecht."


"Jetzt bin ich Rentnerin; meine Rente für 47 Berufsjahre beträgt 15 US-Dollar."


"Eine mittlere, spezielle Ausbildung (Techniker-Maurer). Jetzt bin ich Rentner, meine Rente beträgt 13 USD pro Monat, ich habe sehr schwere Lebensbedingungen."


"Ich bin ein Fräser von Beruf. Jetzt bin ich Rentner. Meine Frau ist eine Invalidin der 2ten Gruppe. ... Umgerechnet bekomme ich 40 Mark."


"Ich bin Rentnerin, mein Mann ist gestorben, ich bekomme eine Witwenrente. Meine Lebenssituation ist sehr schlecht (mein Geld reicht nicht mal für das Essen aus)."


"Aus gesundheitlichen Gründen (ich litt an Augenkrankheiten) habe ich jetzt mit der Arbeit aufgehört und bekomme Rente - 15 US-Dollar.


"Rentnerin, meine Rente beträgt 30 USD."


" Ich arbeitete als Maurer, jetzt bin ich Rentner. Im Moment herrschen in der Ukraine sehr schwere Lebensbedingungen, besonders für uns Rentner.


Erinnerungen ehemaliger "OstarbeiterInnen"

Aufbau des Fragebogens

Zusammenfassende Auswertung

Göttinger Direkthilfe für ehemalige Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen


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