NS-Zwangsarbeiter: Keine Fotos

Von Bedeutung ist auch, was nicht fotografiert wurde. So haben wir für Göttingen keine Fotos aus dem Arbeits- und Lageralltag der Zwangsarbeiter, was zweifelsohne mit dem herrschenden Fotografierverbot zusammenhängt. Denkbar wäre allerdings, dass bisher nicht entdeckte Fotos zumindest vom gemeinsamen Arbeitsplatz noch in Fotoalben von Göttingern vorhanden sind, doch sollte man nicht vergessen, dass trotz Zille und August Sander der normale deutsche Amateurfotograph nicht seinen (Arbeits-)Alltag, sondern das Besondere (Feste, Ausflüge, Reisen) ablichtete. Dementsprechend gibt es auch keine Fotos von Straßenszenen mit den hungernden und bettelnden Zwangsarbeitern in Göttingen, wie wir sie etwa von den Soldatenfotos aus dem Warschauer Ghetto kennen. Denn der dort fotografierende Soldat schoss quasi "Urlaubsfotos" aus einer fremden Welt (oft auch noch mit dem bekannten rassistischem Zooblick); er dokumentierte sein besonderes, außergewöhnliches Soldatenleben für seine Lieben daheim und für die Erinnerung nach dem Krieg, während im Göttinger Alltag, der zudem fast auschließlich von den in der Regel nicht-fotografierenden Frauen getragen werden musste, keine Zeit und kein Anlass für Fotos war.

Kein Foto vorhanden

Auch der deutsche Offizier, der die saubere und ordentliche Registrierung der französischen Kriegsgefangenen noch fotografisch dokumentiert hatte, machte später dann keine Fotos mehr von den halbverhungerten, kranken und verdreckten sowjetischen Kriegsgefangenen, die seit spätestens April 1942 ebenfalls auf dem Gelände des Lagers Lohbergs untergebracht waren. Es existieren solche Fotos, beispielsweise aus dem Kriegsgefangenenlager Oerbke (STALAG XI D). Insofern haben wir eine Vorstellung davon, in welchem grauenhaften Zustand die meisten sowjetischen Kriegsgefangenen waren, aber in Göttingen wurden sie offensichtlich nicht fotografiert.

Besonders auffällig aber ist, dass es keine Fotos von den mehr als 300 Zwangsarbeiterbabys gibt, die während der Kriegszeit in Göttingen geboren wurden. Weder sind Fotos aus dem Mütter- und Kinderlager Schneeweiß bekannt, noch hat Stan Goik die in der Krankenbaracke geborenen Säuglinge fotografiert, obwohl er praktisch Tür an Tür mit ihnen lebte und die Mütter während ihres Aufenthaltes sicher einmal das Gebärzimmer verlassen haben. Babys sind normalerweise das bevorzugte Objekt eines jeden Amateurfotografen und es gibt aus anderen Städten durchaus vereinzelt Fotos sowohl von den Müttern mit ihren Kindern als auch aus Kinderpflegeheimen (fotografiert von den deutschen Pflegerinnen), doch die Göttinger Zwangsarbeiterbabys wurden offensichtlich so vollständig übersehen, dass sich sogar Stan Goik, dessen Gedächtnis im übrigen ausgezeichnet war und ist, kaum an sie erinnerte.


 

Fotos von sowjetischen Kriegsgefangenen gibt es in: Zentralnachweis zur Geschichte von Widerstand und Verfolgung 1933—1945 auf dem Gebiet des Landes Niedersachsen (Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung).

Literatur:

Rolf Keller, "Russenlager" – Sowjetische Kriegsgefangene in Bergen-Belsen, Fallingbostel Oerbke und Wietzendorf, in: Hans-Heinrich Nolte (Hg.), "Der Mensch gegen den Menschen" – Überlegungen und Forschungen zum deutschen Überfall auf die Sowjetunion, Hannover 1992, S. 111-136, hier S. 124-136.

Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im zweiten Weltkrieg, Essen 1997, passim.
 


 Impressum