Interview mit Friedrich V., geb. 1910, deutscher Arbeiter bei den Aluminiumwerken seit 1936, Mitglied der KPD, 13.1.1977

Kurzbiografie

1928/29 hatte ich meine Lehre als Drechsler beendet. Danach konnte man als Junggeselle noch ein halbes Jahr lang arbeiten, ehe man arbeitslos wurde. Für die Gesellen gab es keine Arbeit in den Kleinbetrieben, die unter dem Druck der Krise in die Knie gingen. Im Herbst stellte die Zuckerfabrik in Nörten einige hundert Arbeiter ein, die sechs bis acht Wochen dort arbeiten konnten. Man wurde für die kurze Zeit vom Arbeitsamt dorthin überwiesen. Sonst hatte man zu Betrieben keinen Kontakt, es sei denn, dass hier in der Gegend ein Stück Straße gebaut wurde, so dass zehn, zwölf Arbeiter gebraucht wurden. Sonst gab es im Bereich Nörten, wo ich wohnte, keine Arbeitsmöglichkeiten.
Göttingen hatte selbst genug Erwerbslose. Über das Arbeitsamt wurden wir an das Arbeitsamt Göttingen überwiesen und von dort an Betriebe vermittelt. Das Göttinger Arbeitsamt arbeitete über Nörten. Man hatte dort höchstens als Facharbeiter eine Chance eingestellt zu werden, anders kam man nicht in Göttinger Betriebe hinein. 1935/36 nahm dann die Industrie mehr Arbeitskräfte auch aus anderen Gebieten an. Northeim hatte keine Industrie, sondern nur kleine Handwerksbetriebe, während sie in Göttingen gut ausgebaut war. Vorne bei den Pförtnern musste man bereits einen Fragebogen ausfüllen, auf dem auch nach der politischen Einstellung gefragt wurde. Ich war vorbestraft, denn ich hatte meine Zeit im Konzentrationslager absitzen müssen. Als ich fragte, ob ich dies angeben müsse, hat man mir gesagt, ich brauchte gar nicht erst weiterzuschreiben. Sie zerrissen den Bogen und warfen ihn in den Papierkorb. Man kam in einen Göttinger Betrieb als politisch Bestrafter nicht hinein. An die Arbeitgeber musste wohl ein Rundschreiben geschickt worden sein, keine politischen Leute zu beschäftigen.
Im August 1936 hörte ich, dass das Göttinger Aluminium-Werk Arbeiter einstellte. Ich war noch beim Straßenbau der Firma Herbst in Northeim beschäftigt. Trotzdem fuhr ich nach Göttingen, meldete mich beim Pförtner und wartete nun auf den Fragebogen, aber ich bekam gar keinen. Neben mir stand ein Mann mittleren Alters, und als ich den Pförtner nach dem Fragebogen fragte, erkundigte sich dieser Mann, von was für einem Bogen ich denn überhaupt spräche. Ich erzählte ihm von dem Fragebogen, und er antwortete, so etwas gäbe es bei ihnen nicht. Er fragte noch nach diesem und jenem und sagte zu dem Angestellten, der dort auch sein Büro hatte, ich könnte nächste Woche anfangen. Als er weggegangen war, erkundigte ich mich, wer das denn gewesen sei, und erfuhr, dass es der Direktor Martin Schmidt gewesen sei. Er hasste die Nazis, weil man ihn in der Zeitung einmal durch die "Scheiße" gezogen hatte. Auf dem Aluminium-Werk wurde alles eingestellt: Gewerkschaftler, Sozialdemokraten, Kommunisten. Die Hauptsache war, es waren anständige Kerle. Martin Schmidt guckte sie an und stellte sie ein. Er ist auch gut dabei gefahren. Er hatte immer anständige Arbeitskräfte. Er sagte: "Hier wird keine Politik gemacht, hier wird nur gearbeitet!"

[…]

(Zwischenbemerkung: Das Arbeitsklima muss nach Ihren Schilderungen in den Alu-Werken einigermaßen erträglich gewesen sein.)
Das kann ich wirklich sagen. Wir 80 % Andersdenkende wurden vom Direktor Schmidt regelrecht gefördert. Wir konnten etwas werden, wenn wir die "Schnauze" hielten, nicht kritisierten, sondern arbeiteten. Die 20 % Nazis unter den Arbeitern waren größtenteils Hilfsarbeiter. Wir hatten einen Betriebsleiter, Karlchen G., der jahrelang in Russland als Ingenieur tätig gewesen war und der von daher die Verhältnisse kannte [Nach Aussage von V. gehörte G. zur Leitung der KP in Göttingen. Er war Obereinrichter in den Aluwerken.] Er hat uns gefördert und in andere Fabriken geschickt. Die SA-Leute hat er links liegen lassen. Sie merkten, dass sie im Alu-Werk nichts besehen konnten. Sie waren immer gehemmt.

[…]

Man darf nicht vergessen, dass in der nächsten Abteilung fast 80 % Frauen arbeiteten. Es gab nur einige Einrichter.

Die Dreherei und der Werkzeugbau waren in den Händen der Sozialdemokraten und Kommunisten. Unser Oberingenieur Engel war ein Nazi, wie er im Buche stand. Wo er uns auf den Fuß treten konnte, tat er es. Nachher arbeiteten bei uns auch Russen. Wir mussten ihnen erklären, was sie machen sollten. Da kam er an und sagte, wir hätten mit den Russen überhaupt nichts zu reden. Ich sagte ganz ruhig, dann müsste er ihnen die notwendigen Erklärungen selber geben. Wenn wir nicht sprechen dürften, müsse es ein anderer machen.

1945 kam ich eines morgens in den Betrieb und sagte, ich arbeitete nicht mehr. Man hörte schon den Kanonendonner der Amerikaner, die in Kassel waren. In diesem Moment kam Engel hinzu und fragte, ob ich die Maschine nicht anstellen wollte. Ich sagte: "Nichts mehr, Herr Engel! Wenn es sein muss, sind sie heute mittag schon da. Was wir heute machen, können wir gar nicht mehr wegschicken. Ich arbeite nicht mehr." Nach einer halben Stunde mussten wir zu ihm kommen. Er wollte ein "Lied singen", er sei wohl ein SA-Mann, aber auch nur gezwungenermaßen durch die Firma in Braunschweig, wo er vorher gearbeitet hatte. Ich sagte zu ihm, er könne es seiner Frau erzählen, doch nicht uns. Was er den Amerikanern erzählen würde und was sie ihm glauben würden, sei auch zweierlei.
Er türmte, sonst hätten die Russen ihn lebendig begraben, [Karl] G. konnte russisch und beruhigte die 300 russischen Arbeiter.

Nach 1945, als wir alle Maschinen wieder zusammengeholt hatten, sagten wir, Engel müsse aus dem Betrieb heraus. Wir waren zwanzig Einrichter und haben ihn persönlich aufgefordert zu kündigen und zu gehen. Er lehnte das natürlich ab. Nun gingen wir zu Schmidt und sagten, wenn Engel morgen wieder in den Betrieb käme, hörten wir auf zu arbeiten. Er antwortete, wir könnten doch nicht solch einen Quatsch machen. Wir blieben hart: entweder Engel oder wir.
Nachmittags fand eine Sitzung statt mit […]. Sie wollten uns beschwichtigen, doch ohne Erfolg! Schmidt gab schließlich nach, und Engel musste gehen.
Er war später bei mir in der Wohnung, und ich sagte zu ihm, er hätte sich das eher überlegen müssen. Er konnte nur nach unten treten, und das hat er gemacht. Er war etwa 1938/39 in den Betrieb gekommen. Er kam aus Braunschweig und wurde eingesetzt, weil der Betrieb größer wurde. Die Arbeit war für [Karl] G. zuviel. Engel stand unter G.

(Frage: Konnte Schmidt sich gegen Engel nicht wehren?)
Er musste vorsichtig sein, weil sie seine Frau bedrängt hatten. Seine Frau […] saß im Luftschutzkeller immer bei uns. Kam einer herein und grüßte mit "Heil-Hitler", sagte sie: "Den 'Heil-Hitler' lassen Sie mal draußen!"

[...]

Das Interview führte Ulrich Popplow.


Quelle:

Interview Friedrich V. 13.1.1977, Stadtarchiv Göttingen Dep. 77 I Nr. 98.

 


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