NS-Zwangsarbeit: Erinnerungen des damals siebejährigen Karl-Heinz H., geb. 17.2.1937, wohnhaft in der Hildebrandtstraße

Karl Heinz H., dessen Vater im kommunistischen Widerstand war, schilderte seine Erinnerungen in einer Mail vom 3.12.2005:

"Zum ersten Male traten Zwangsarbeiter in mein Bewusstsein, als die erste Bombe auf Göttingen fiel [November 1944 - C.T.]. Es kam überraschend, so dass wir nur in den Keller unseres Wohnhauses in der Hildebrandtsraße (nähe Schützenplatz) flüchten konnten. Dann kam eine gewaltige Explosion, die Tür wurde aus der Wand gerissen, und wir wurden durcheinander geschmissen. Die Bombe hatte den großen Gaskessel getroffen. Gegenüber der Gasanstalt, dort wo heute ein neuer runder Gasbehälter steht, stand ein Haus, das mit Zwangsarbeitern belegt war, ich glaube, es waren Belgier [Lager Sültebeck: Französische Kriegsgefangene]. Wir waren entsetzt über die vielen jungen Männer, die dort durch die Explosion getötet wurden [Entweder verwechselt Karl-Heinz H. hier den Angriff auf das Lager Sültebeck, bei dem nach den Akten kein Zwangsarbeiter getötet wurde, mit dem Angriff auf das Lager Schützenplatz nur etwas mehr als einen Monat später oder aber die damaligen Toten wurden in den Akten nicht registriert - C.T.]. Es ist seltsam, dass diese Toten mir zum ersten Male als Zwangsarbeiter bewusst wurden, denn mein Vater musste mit einer Truppe Polen die zerbombten Eisenbahngleise reparieren, das waren ja auch Zwangsarbeiter, galten aber immer als Arbeitskollegen. Eine andere große Gruppe von Belgiern und Franzosen wohnte nicht sonderlich bewacht direkt am Leinekanal, gleich hinter der Eisenbahnbrücke [ev. in einem Gasthaus - C.T.]. Wenn wir dort vorbeikamen, wurden immer Worte gewechselt, und sie schienen mir immer sehr vergnügt. Das Russenlager [Lager Schützenplatz - C.T.] wurde auch durch Bomben ins Bewusstsein gerückt. Bei einem großen Angriff entlang der Bahnlinie gingen etliche Bomben fehl und schlugen im Russenlager ein. Mein Großvater, der bei der Stadt die Pferde versorgte, musste mit einem Leiterwagen die ganze Nacht Leichen aus dem Lager transportieren, er konnte kaum darüber sprechen. Wohin die Toten gebracht wurden, weiß ich nicht. Einige Tage später war ich mit meiner Großmutter im Schrebergarten, der nahe beim Russenlager war. Ich war neugierig dort hingeschlichen. Ein Russe winkte mich an den Zaun. Er schob ein schwarzes Kästchen durch den Draht. Als ich danach griff, schrie er auf. Ein Uniformierter hatte ihm mit einem Knüppel, an dem ein Metallhaken war, derart ins Bein geschlagen, dass der Russe beim Zurückziehen hinstürzte und vor Schmerzen schrie. In Panik lief ich weg, ohne mich bedanken zu können. Das Kästchen war ein gefüllter Zirkelkasten, den ich lange aufbewahrte. Nach Kriegsende schenkten uns die letzten abziehenden Russen ihre Wolldecken, die meine Mutter auskochte und aus denen sie uns Hosen und Mäntel nähte. Einer der Russen war allem Anschein nach wahnsinnig geworden, terrorisierte alle Hausbewohner und tanzte die Nacht durch nach einer Melodie auf der Mundharmonika, die ich nie vergessen werde. Als ihn Amerikaner überwältigten und in den Jeep setzten, freute er sich plötzlich wie ein Kind und warf Kusshände um sich.


Karl Heinz H., im Alter von etwa 12 Jahren.

Zu den Polen, mit denen mein Vater arbeitete: Ihre Unterkunft war direkt an der Bahn auf dem Gelände der Firma Keim. Mein Vater sollte kurz vor Kriegsende noch verhaftet werden, und die Polen versteckten ihn in ihrer Baracke unter den Dielen. Ein Trupp Nazis, ich glaube es war SS, fanden ihn dort und schlugen die Polen zusammen, mein Vater kam in ein provisorisches Gefängnis in der Albanischule und von dort aus in eine Strafkompanie, die nicht einmal mit Waffen versehen den Amerikanern entgegengeschickt wurden. Mein Vater lief sofort zu den Amerikanern über, wurde aber dort durch ein Missverständnis von einem Amerikaner so sehr zusammengeschlagen, dass er gleich in ein Lazaret gebracht werden musste, von wo er nach einigen Wochen schon schwer verletzt nach Hause entlassen wurde. Gleich nach Kriegsende suchten die Polen den Anführer des Kommandos, das meinen Vater verhaftet hatte, fanden ihn und erhängten ihn. Sie blieben noch zwei Wochen in Göttingen, plünderten teilweise und brachten uns Lebensmittel. Wir hatten auch, da wir Kampfhandlungen befürchteten und in den letzten Tagen nach Grone flüchten wollten, auf unserem Weg vorbei am Heeresverpflegungsamt, das gerade geplündert wurde, Lebensmittel heraus geholt und mit auf unserem Leiterwagen genommen. So konnten wir, mit den Lebensmitteln der Polen und denen , die wir uns angeeignet hatten, unseren kranken und stark abgemagerten Vater aufpäppeln. Als alles verbraucht war, nutzte mein Vater seine Kenntnisse der Bahn als Waggonspringer. So hatten wir einmal einen Zentner Schokoladenstreusel oder einen Karton Seife, die wir nicht essen, nur tauschen konnten. Als dann scharf geschossen wurde, war auch diese Einkunftsquelle versiegt.

Zusammengefasst hatten wir zu den Franzosen und Belgiern, die nicht so sehr bewacht waren, auch persönliche Kontakte, es waren nette junge Leute. Die Russen waren streng bewacht und isoliert, zu ihnen hatten wir erst nach Kriegsende Kontakte, die überwiegend recht freundlich waren. Doch das war nur eine recht kurze Zeit, dann wurden sie abtransportiert. Stalin hat ja wohl diese armen Menschen nicht gerade freundlich empfangen."


Quelle:

Karl-Heinz H., geb. 17.2.1937, Mail vom 3.12.2005 und 7.11.2011 (Foto), Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien.

 


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