NS-Zwangsarbeiter: Nachweisbeschaffung

Nachdem zunächst Polen, später dann auch Russland, Weißrussland und die Ukraine den ehemaligen Zwangsarbeitern eine Zulage zur Rente zahlten, hatten sich bereits seit Mitte der neunziger Jahre ehemalige ZwangsarbeiterInnen an verschiedene Stellen der Göttinger Stadtverwaltung gewandt und um einen Nachweis für ihre Zwangsarbeit gebeten. Aufgrund der schlechten Quellenlage und wegen der fehlenden Koordination zwischen den einzelnen beteiligten Stellen waren sie ausnahmslos negativ beschieden worden. Nachdem das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in Kraft getreten (12.8.2000) war, wurden diese Anfragen nun zentral im Stadtarchiv gesammelt und alle Betroffenen noch einmal angeschrieben.
Außerdem wurde Kontakt aufgenommen zu der 1988 in Moskau gegründeten "Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge MEMORIAL", die inzwischen nicht nur Dependancen in fast allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion, sondern auch in Polen und in Deutschland (Berlin) hat. Seit 1990 unterhält MEMORIAL ein Unterstützungs- und Forschungsprogramm mit dem Titel "Opfer zweier Diktaturen", das sich dem Schicksal der ehemaligen "OstarbeiterInnen" widmet, die nach Stalins Diktum, sie seien "Verräter des Volkes" auch nach ihrer Rückkehr in die Heimat vielfältigen Repressalien (bis hin zu erneuter Lagerhaft) ausgesetzt waren. Entstanden war dieser Forschungsschwerpunkt, nachdem Anfang März 1990 in einer Wochenbeilage der auflagenstarken Zeitung "Izvestija" ein Artikel erschienen war, in dem fälschlicherweise von deutschen Entschädigungszahlungen an ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter berichtet und auf MEMORIAL verwiesen worden war. MEMORIAL war daraufhin völlig überraschend von einer Flut von insgesamt 440.000 Briefen ehemaliger "OstarbeiterInnen" überrollt worden, die archiviert und in einer Computerdatenbank registriert wurden.

Aus dieser Datenbank erhielt das Stadtarchiv Göttingen die Namen und Adressen aller ehemaligen Zwangsarbeiter, die angegeben hatten, in Göttingen Zwangsarbeit geleistet zu haben. Wir verschickten daraufhin 114 Briefe mit Fragebögen an diese ehemaligen Zwangsarbeiter, von denen uns zu unserer großen Überraschung (schließlich stammten die uns von MEMORIAL zur Verfügung gestellten Daten aus dem Jahre 1990 und wir mussten damit rechnen, dass ein Großteil der Angeschriebenen inzwischen nicht mehr lebte) 67 antworteten, das ist eine Rücklaufquote von über 58 %.
Ein Teil der Antwortenden hatte allerdings Göttingen mit anderen Orten verwechselt, z.B. naheliegenderweise mit Göppingen oder nicht ganz so naheliegend mit Hattingen. Letzteres erklärt sich aus dem russischen Alphabet, das kein H kennt und dieses mit G transkribiert, bei schnellem Sprechen klingt Gattingen dann schnell wie Göttingen. Daher bezogen sich von den 67 Antworten nur 61 auf Göttingen.

Inzwischen hatten wir im Stadtarchiv durch intensive Recherche doch viel mehr auch namentliche Quellen gefunden, als wir ursprünglich erwartet hatten: So sind schätzungsweise etwa 5000 ehemalige Zwangsarbeiter in der allgemeinen Einwohnermeldekartei verzeichnet (zum überwiegenden Teil allerdings westliche, eine relativ große Gruppe von Polen, einige Westukrainer und nur wenige "OstarbeiterInnen"). In dieser Kartei sind die ehemaligen Zwangsarbeiter, wenn der Name bekannt ist und wenn man die Transkriptionsprobleme bei den russischen Namen außer Acht lässt, im Prinzip leicht auffindbar sind. Die Namen, die sich in andern, nicht von vornherein alphabetisch geordneten Quellenbeständen fanden, wurden von den Mitarbeitern des Stadtarchivs in eine Datenbank eingegeben.

Aber dennoch ließ sich zu den meisten Anfragen immer noch kein namentliches Dokument finden. Nun sieht das Gesetz vor, dass – wenn keine Unterlagen vorliegen – die Leistungsberechtigung auf andere Weise "glaubhaft" gemacht werden könne. Diese relativ offene Formulierung veranlasste uns im Stadtarchiv Göttingen – wie dies in der Folge dann eine ganze Reihe von anderen Archiven auch taten – sog. Plausibilitätsbescheinigungen auszustellen, also Bescheinigungen, die feststellten, dass die Angaben der ehemaligen Zwangsarbeiter den im Archiv bekannten historischen Tatsachen entsprechen und damit "glaubhaft" seien. Dabei war allerdings ein allgemeiner, nicht individuell spezifizierter Satz nicht ausreichend. Damit die Bescheinigung von den die deutschen Gelder verteilenden Partnerorganisationen in den verschiedenen Ländern anerkannt wurde, musste sie konkrete, detaillierte Angaben enthalten. Damit musste jede Bescheinigung als ein kleines Gutachten formuliert werden und war entsprechend zeitaufwändig.

Seit Dezember 2001 liefen dann im Göttinger Stadtarchiv auch vermehrt die sog. Listenanfragen des Archiverbundes "Nachweisbeschaffung für ehemalige NS-Zwangsarbeiter/innen" ein, eine standardisierte Nachfrage nach bisher nicht ermittelbaren Daten ehemaliger Zwangsarbeiter, die über eine zentrale Koordinierungsstelle an alle in Frage kommenden Archive weitergeleitet wurde. Diese Anfragen konnten mehrheitlich zwar nicht positiv beschieden werden, weil die vorgelegten Angaben nicht ausreichend waren und eine Nachfrage und direkte Kontaktaufnahme mit den Betroffenen nicht vorgesehen war, aber in über 40 Fällen konnten wir weiterhelfen.

Insgesamt wurden so vom Stadtarchiv Göttingen annähernd 200 Bescheinigungen (direkte Anfragen an die Stadtverwaltung, Memorial-Datenbank und Listenanfragen) ausgestellt (nicht gerechnet dabei die zahlreichen nicht Göttingen betreffenden Anfragen, die mit teilweise ausführlichen Begleitschreiben an andere Archive weitergeleitet wurden und auch nicht die Anfragen, für die erfolglos recherchiert wurde).
 

Ausgefüllter Fragebogen

Einer der ersten Fragebögen, der Anfang November 2000 ausgefüllt zurückkam.

Bescheinigung

Eine der ersten Bescheinigungen, die im Stadtarchiv Göttingen ausgestellt wurden.

Aufbau des Fragebogens für ehemalige "OstarbeiterInnen" und polnische ZwangsarbeiterInnen


 

Literatur:

Memorial bekommt Lew-Kopelew-Preis, Meldung in der Frankfurter Rundschau vom 8.4.2002

Barbara Stelzl-Marx, Das Schweigen brechen. Briefe ehemaliger Zwangsarbeiter an Memorial Moskau, in: Wilfried Reininghaus und Norbert Reimann (Hg.), Zwangsarbeit in Deutschland 1939-1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld 2001, S. 217-225.

Hans-Jörg Kühne, Die Stadt Bielefeld und die Entschädigung ihrer Zwangsarbeiter, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg 86 (2000), S. 91-111, hier S. 95 f.

Cordula Tollmien, Zeitzeugenbefragung am Beispiel der NS-Zwangsarbeiter, in: Archiv Nachrichten Niedersachsen. Mitteilungen aus niedersächsischen Archiven Nr. 6/2002, S. 9-21.


 


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