NS-Zwangsarbeiter: "Ostarbeiter" (Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion)

Seine eigentliche brutale Dynamik entfaltete der Zwangsarbeitereinsatz nach dem Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941, dem Massensterben der sowjetischen Gefangenen und den am 20. Februar 1942 veröffentlichten sog. Ostarbeitererlassen, die dem wegen des eklatanten Arbeitskräftemangels unabwendbaren Einsatzes sowjetischer Zivilarbeiter einen organisatorischen Rahmen gaben.

Auch unter den ersten "Ostarbeiter" und "Ostarbeiterinnen" gab es wie bei den Westukrainern einige, die den Versprechungen der deutschen Werber geglaubt und sich "freiwillig" zum Arbeitseinsatz nach Deutschland gemeldet hatten – so wie vielleicht auch eine Gruppe junger Frauen aus Charkow, die im April 1942 nach Göttingen zur Großwäscherei Schneeweiß kamen. Wenn dies wirklich zutrifft, kann man wohl davon ausgehen, dass diese insgesamt etwa 20 jungen Frauen mit ihrer Meldung zum Arbeitseinsatz wie tausend andere auch den durch die Untätigkeit der deutschen Militärbehörden verursachten in Charkow besonders katastrophalen Zuständen zu entkommen versucht hatten. Im Übrigen wissen wir aus Zeitzeugenaussagen, dass es sich bei diesen "Anwerbungen" um Vorladungen gehandelt hat und dass es sich bei diesen ersten "Ostarbeiterinnen" in Göttingen mehrheitlich um Musikstudentinnen gehandelt hat, von denen kaum anzunehmen ist, dass sie sich als Studentinnen freiwillig zur Arbeit nach Deutschland gemeldet hatten.

Die Enttäuschung über das, was sie in Deutschland vorfanden, war bei den meisten "freiwilligen" "Ostarbeitern" groß und die Werbungserfolge entsprachen ganz und gar nicht den Erwartungen der deutschen Besatzungsbehörden . Diese ersetzten daher schon im Laufe des Jahres 1942 die vorgebliche "Freiwilligkeit" mehr und mehr durch Maßnahmen, die sie ganz offen selbst als "Sklavenjagden" bezeichneten: Menschenjagd auf offener Straße, Anzünden ganzen Dörfer, Androhung des Entzugs von Lebensmittelkarten und Einstellung von Unterstützungszahlungen bei "Arbeitsverweigerung" und gleichzeitig weitere Werbekampagnen für das "Arbeitsparadies" Deutschland – dieses System aus Versprechungen, sozialem Druck und brutalem Terror (in Polen bereits erfolgreich erprobt) erwies sich auch in den besetzten Gebieten der Sowjetunion als sehr wirkungsvoll.

Als erstes kamen nach Göttingen "Ostarbeiterinnen": Diese arbeiteten seit dem Frühjahr 1942 zum Beispiel
- in der Großwäscherei Schneeweiß,
- in der Konservenfabrik Hillebrand (während der Wintermonate wurden die Arbeiterinnen beispielsweise in der Reinigung Schacke eingesetzt),
- in den Göttinger Textilfabriken (der Strickwarenfabrik Schöneis & Co und der Göttinger Leinenweberei),
- in dem Musterkartenverlag Musterschmidt,
- in der Wein- und Essigfabrik Grotefend,
- in den Universitätskliniken
- und in den Göttinger Rüstungsfirmen:
  in der Phywe, bei Sartorius, der Ruhstrat AG, bei Spindler & Hoyer, Winkel, bei Schneider & Co, in der feinmechanischen Werkstatt von August Fischer, bei den Möbelfabriken Reitemeier und in den Aluminiumwerken.

Bei der Phywe, bei Sartorius, bei Spindler & Hoyer, bei Winkel, bei August Fischer, bei Reitemeier und bei Schneider & Co arbeiteten ausschließlich Ostarbeiterinnen, bei Ruhstrat und wahrscheinlich auch in den Aluminiumwerken waren auch Männer eingesetzt.

Auch bei der Reichsbahn waren seit April 1942 "Ostarbeiter" beschäftigt, die wie die Frauen, die bei Schneeweiß arbeiteten, aus Charkow stammten. "Ostarbeiterinnen" sind zu diesem frühen Zeitpunkt bei der Reichsbahn noch nicht nachgewiesen, diese kamen den vorliegenden Zeitzeugenaussagen nach erst ab ein Jahr später, also ab April 1943. Häufig wechselten sie auch aus anderen Betrieben zur Reichsbahn.

Nachdem seit Oktober 1942 auch der Einsatz von "Ostarbeiterinnen" im privaten Haushalt erlaubt worden war, standen den Göttinger Hausfrauen auch sowjetische Dienstmädchen zur Verfügung. In mindestens 300 Göttinger Haushalten putzten und kochten "russische" Mädchen und versorgten – oft selbst noch halbe Kinder – die deutschen Kinder. Nicht selten entstanden dadurch gegenseitige Bindungen, die mit Kriegsende abrupt abbrachen. Dennoch war die Hausarbeit keine Idylle, es gab nicht nur verbale, sondern auch körperliche Misshandlungen von "Ostarbeiterinnen" in den deutschen Familien, auch in Göttingen. Zumindest aber ersparte den Zwangsarbeiterinnen der Einsatz im Haushalt, im Gaststättengewerbe oder im Gesundheitswesen in aller Regel den Lageraufenthalt. Auch in den Göttinger Schulen und im Städtischen Theater putzten Ostarbeiterinnen. Mitte 1944 wurden die "Ostarbeiterinnen" alle aus den Haushalten wieder abgezogen (das Theater wurde geschlossen) und in die Rüstungsindustrie umgesetzt.

Bis zum Herbst 1944 kamen regelmäßig Transporte von "Ostarbeitern" nach Göttingen. "Ostarbeiter" (Frauen wie Männer) waren in der gesamten gewerblichen Wirtschaft eingesetzt, auch in mittelständischen Betrieben:
Außer in den oben schon erwähnten
- in der Firma Feinprüf,
- in der Metallwarenfabrik Hermann Boie,
- in der Pergamentfabrik Rube,
- bei Vohl & Söhne und der Faserholz GmbH,
- in den Göttinger Autowerkstätten
und auch in der Saline Luisenhall;
- außerdem beim Theater (nicht nur als Putzfrauen, sondern auch als Bühnenarbeiter), in den städtischen Gas- und Wasserwerken, beim Luftschutzbau (dies zusätzlich zu ihrer normalen Arbeit in einem Göttinger Betrieb am Sonntag oder als Häftlinge im Göttinger Gerichts- oder Polizeigefängnis) und bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen,
- im Flakzeugamt und im Heeresverpflegungsamt der Wehrmacht
- und, als immer mehr Flüchtlinge nach Göttingen drängten, auch beim Behelfsheimbau.
- Spätestens ab Juni 1943 waren "Ostarbeiter" für verschiedenen Baufirmen (in erster Linie die Firma Fricke) auch auf mehreren Großbaustellen der Aerodynamischen Versuchsanstalt beschäftigt.

Mit dem Rückzug der deutschen Truppen aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion wurden noch einmal große Teile der Bevölkerung verschleppt, zumeist ganze Familien mit ihren Kindern: So kamen im Mai 1944 und dann noch einmal im Juli 1944 mehrere russische Familien (insgesamt wohl etwa 60 Personen) aus dem im Januar 1944 von den Deutschen geräumten lettischen Hafen Libau nach Göttingen zur Reichsbahn, darunter viele Kinder, auch drei- oder zweijährige Kleinkinder. Es ist wahrscheinlich, dass diese Familien schon in Libau für deutsche Betriebe, vielleicht für die "Deutsche Reichsbahn Ost", Zwangsarbeit geleistet hatten. Doch kam es in dieser dramatischen Schlussphase des Krieges auch noch zu neuen Verschleppungen von Menschen, die zuvor noch nicht für die Deutschen gearbeitet hatten. Fast die Hälfte aller in Deutschland beschäftigen "Ostarbeiter" wurde erst 1943/1944 rekrutiert und während des deutschen Rückzugs machte ihr Anteil sogar zwei Drittel an der Gesamtzahl aller neu eingesetzten ausländischen Zwangsarbeiter aus. So wissen wir etwa durch Zeitzeugenaussagen, dass die im März 1944 den Aluminiumwerken zugewiesenen 80 "russischen", in Wahrheit aus Weißrussland stammenden Familien erst zu diesem Zeitpunkt "mit Waffengewalt" zum Arbeitseinsatz in Deutschland gezwungen worden waren.

Viele von den Arbeitern aus den Transporten, die 1944 Göttingen erreichten, erkrankten an Fleckfieber.

Obwohl es dafür nicht in jedem Fall direkte Nachweise gibt, kann man wohl davon ausgehen, dass OstarbeiterInnen in allen Rüstungsfirmen beschäftigt waren, die sich in der Küchenvereinigung zusammengeschlossen hatten.

Auch auf dem Klostergut in Weende wurde in einer Nachkriegsaufstellung ein "größerer Kräftebestand" von "Ostarbeitern" registriert.

Insgesamt arbeiteten von April 1942 bis Kriegsende in der Stadt Göttingen (einschließlich Geismar, Grone und Weende) nach neuesten Schätzungen um die 5000 "OstarbeiterInnen". Davon waren wie im Reichsdurchschnitt etwa die Hälfte Frauen.

Ostarbeiterinnen bei Schneeweiß

Eine Gruppe von jungen Ukrainerinnen aus Charkow, die seit April 1942 bei der Großwäscherei Schneeweiß arbeiteten.

Ostarbeiterinnen bei der Konservenfabrik Hillebrandt

Diese "Ostarbeiterinnen" arbeiteten seit Frühsommer für die Konservenfabrik Hillebrandt. Siehe auch Fotos aus deutschen Betrieben.

Ostarbeiterinnen bei der Firma August Fischer

Seit 1943 arbeiteten durchschnittlich etwa 10 "Ostarbeiterinnen" bei der Firma August Fischer, Obere Karspüle. Siehe auch Fotos aus deutschen Betrieben.

Ostarbeiter Reichsbahn

"Ostarbeiter" der Reichsbahn; das Foto wurde von dem Fotografen Adalbert Blankhorn gemacht.

Nikolaj Iwanowitsch M., geb. am 9. Mai 1918, gestorben am 2. November 1997, Zwangsarbeiter der Reichsbahn seit spätestens 1943 (siehe dazu auch die Erinnerungen seiner späteren Frau)

Unterbringung/Lager:

  • Das größte "Ostarbeiterlager" war das von der Küchenvereinigung e.V. unterhaltene Lager auf dem Schützenplatz.
  • Die Ostarbeiterinnen der Großwäscherei Schneeweiß, der Konservenfabrik Hillebrand, der Strickwarenfabrik Schöneis & Co, der Göttinger Leinenweberei), der Wein- und Essigfabrik Grotefend, der Pergamentfabrik Rube und der Universitätskliniken waren in eigenen Lagern auf dem Betriebsgelände untergebracht.
  • Auch die Rüstungsfirmen Ruhstrat AG (Lager Tonkuhle), Spindler & Hoyer, Schneider & Co, die feinmechanischen Werkstatt von August Fischer, die Metallwarenfabrik Hermann Boie und die Aluminiumwerken (Lager Aluminiumwerke) unterhielten eigenen Lager für "OstarbeiterInnen".
  • Eine Gruppe "Ostarbeiterinnen" waren im Lager Lehmkuhle der Firma Reitemeier in Rosdorf untergebracht.
  • Die Reichsbahn unterhielt das große Reichsbahnlager Masch, in dem neben "Ostarbeitern" auch Arbeiter anderer Nationalität untergebracht waren, und eine Vielzahl von "Ostarbeiterlagern" in Gasthäusern. Einige ihrer ArbeiterInnen brachte die Reichsbahn auch im Lager Schützenplatz unter und eine kleine Gruppe von "Ostarbeitern" auch bei der Eisenbahnbaufirma Keim.
  • Zumindest gegen Ende des Krieges waren "Ostarbeiterinnen" auch im Lager Eiswiese und im Lager Egelsberg auf dem Gelände des Flakzeugamts untergebracht.
     


    Erinnerungen von ehemaligen "OstarbeiterInnen" (Fragebogenaktion)

    Biografien und Erinnerungen ehemaliger "Ostarbeiterinnen"

    Biografien und Erinnerungen ehemaliger "Ostarbeiter"

    Erinnerungen ehemaliger OstarbeiterInnen an den Bombenangriff auf das Lager Schützenplatz am 1. Januar 1945

    Erinnerungen von weißrussischen Kinderzwangsarbeitern der Aluminiumwerke

    Zur Freizeitgestaltung für "Ostarbeiterinnen"

    Fleckfieber in "Ostarbeitertransporten"

    "Ostarbeiterinnen" im "Arbeitserziehungslager" Watenstedt

    "Ostarbeiter" im "Arbeitserziehungslager" Liebenau

    "Ostarbeiter" im "Arbeitserziehungslager" Breitenau

    "Ostarbeiter" im Konzentrationslager Buchenwald

    Geburten von Kindern von "Ostarbeiterinnen" in Göttingen

    "Ostarbeiterinnen" als Hausschwangere

    Abtreibungen bei "Ostarbeiterinnen"



  • Quellen:

    Die obigen Schätzungen für die Anzahl der "OstarbeiterInnen" beruhen auf der Auswertung und einer entsprechenden Hochrechnung von 24,12 % der insgesamt 1082 Kisten (Zahl bereinigt um Kisten mit ausschließlich typisch deutschen Namen wie Müller, Schmidt, Schulze) der alten Einwohnermeldekartei, die im Stadtarchiv Göttingen aufbewahrt wird; ergänzt durch: Kleine Erwerbung Nr. 192 (Betriebsdatei Winkel), Stadtarchiv Göttingen; Sartorius 21.12.1942 und Statistiken August/September 1944, ebd. Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 472, Bl. 541f. , Bl. 544-547; Handschriftliche Statistik vom 16.11.1942-31.12. 1945, Statistiken der Verbrauchergruppen und des Bedarfs an Lebensmitteln vom 19.10.1942-12.11.1944 (nicht vollständig vorhanden), ebd. Ernährungsamt Nr. 50, o.P.; Ausländerliste 1940-1946, ebd., Geismar Nr. 716; Beschäftigungslisten Spindler & Hoyer, ebd. Dep. 104 Nr. 223; Schneider 10.11.1944, Ernährungsamt 4.11. 1944, ebd. Ernährungsamt Nr. 62, o.P; Meldung 27.4.1944, Bahnmeisterei 25.6.1944, Arbeitsamt Göttingen 14.9.1944, ebd. Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 508, 534, 549; Briefwechsel zwischen Aerodynamischer Versuchanstalt und Bauunternehmer Fricke 23.3.1944-18.9.1944, Akte Prüfstand B3 Ü;berschallkanal Nr. 711, Archiv der DLR, Göttingen (auf diese Dokumente hat mich freundlicherweise Günther Siedbürger hingewiesen); Lageraufnahme Belgischer Suchdienst 1949, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Film 3; Entnazifizierungsakte, ebd. Nds. 171 Hildesheim Nr. 17089; Beschäftigungsmeldungen 31.12.1944 R 12I/102 (Reichsgruppe Industrie), Bundesarchiv Berlin Lichterfelde; Liste ausländischer Arbeiter an den Universitätskliniken während der Kriegsjahre, auf der Grundlage von Lohnabrechnungen zusammengestellt von Mitarbeitern des Instituts für Ethik und Medizin, Stand Mai 2002 (diese Liste wurde mir freundlicherweise von den Institutsmitarbeitern zur Verfügung gestellt).

    Zeitzeugenaussage Sofija Stepanowna K. (geb. 1930), Fotos Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien.

    Lager von Kriegsgefangenen ausländischer Zivilarbeier im Landkreis Göttingen 21.4.1945, Stadtarchiv Göttingen AHR I A Fach 48 Nr. 3, Bl. 122.

    Literatur:

    Frank Baranowski, Geheime Rüstungsprojekte in Südniedersachsen und Thüringen während der NS-Zeit, Duderstadt 1995, S. 87.

    Ulrich Herbert, Fremdarbeiter - Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin / Bonn 1985, S. 158-162, S. 175 ff., S. 237.

    Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880-1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin / Bonn 1986, S. 134 -139.

    Rolf-Dieter Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft, in: Ulrich Herbert (Hg.): Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 234-250, hier S. 239 f.

    Kathrin Prüger, Osteuropäische Zwangsarbeiter (1939-1945) im Regierungsbezirk Braunschweig. Untersuchungen zu ihren Lebensbedingungen und ihrem Verhältnis zur deutschen Bevölkerung, Staatsexamensarbeit Göttingen 1988 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen), S. 87.

    Eckart Schörle, Gutachten zur Situation von "Zwangsarbeitern" bei der Firma Schneeweiß Göttingen während der Zeit des Nationalsozalismus, Göttingen im September 2000 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen), S. 74.

    Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart München 2001, S. 74.

    Cordula Tollmien, Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Göttinger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkriegs (Fassung ohne Namensnennungen), Göttingen Dezember 2000 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen), S. 39 f., S. 43 f.

     


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