Forschungsprojekt: Geschichte

Ende August 1999 berichtete das Göttinger Tageblatt, dass ein ehemaliger polnischer Zwangsarbeiter aus Kanada die Rechtsnachfolger der Firmen Winkelhoff & Glaeser und Ruhstrat KG auf Lohnnachzahlung und Schmerzensgeld verklagt habe. Die Klage des ehemaligen polnischen Zwangsarbeiters wurde wie alle Klagen ehemaliger Zwangsarbeiter abgewiesen. Mit dem Gesetz zur Einrichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" schuf die Politik die Grundlage dafür, dass auch in Zukunft die deutsche Wirtschaft vor solchen Klagen verschont blieb.

Mit dieser Klage gegen zwei Göttinger Unternehmen aber gelangte die allgemeine öffentliche Diskussion über die Zwangsarbeiterentschädigung direkt in die sich von dieser Problematik bis zu diesem Zeitpunkt nicht betroffene fühlende Universitätsstadt. Göttingen ging es in dieser Hinsicht wie vielen anderen nicht von Großindustrie geprägten Städten und wie viele dieser anderen Städte auch reagierte man - nach Überwindung eines ersten Impulses von Abwehr besonders auf der Seite der betroffenen Firmen - auf die einzige angemessene Weise: Der Rat und Verwaltung der Stadt Göttingen beschlossen in Anerkennung der eigenen historischen Verantwortung, die Geschichte der NS-Zwangsarbeit in Göttingen aufzuarbeiten.

Bereits am 20. Januar 2000 beschloss der Kulturausschuss die wissenschaftliche Erforschung der Zwangsarbeiterbeschäftigung, zunächst eingegrenzt auf die direkt bei der Kommune beschäftigten Zwangsarbeiter und beauftragte damit die Historikerin Dr. Cordula Tollmien. Nach Vorlage ihres Berichts über "Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Göttinger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkriegs" im Dezember 2000 erweiterte der Kulturausschuss dann am 9. Januar 2001 den Forschungsauftrag auf die Arbeits- und Lebensumstände aller in Göttingen beschäftigten Zwangsarbeiter.

Inzwischen war das Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" in Kraft getreten (12.8.2000) und es zeichnete sich ab, dass das ursprüngliche Forschungsprojekt immer mehr zu einem Projekt der Nachweisbeschaffung werden würde. Ende des Jahres 2000 konnte allerdings noch niemand absehen, welche Ausmaße die Nachweisbeschaffung annehmen und dass sie mehr als zwei Jahre lang die Kräfte aller Mitarbeiter des Stadtarchivs, vor allem aber die der mit dem Forschungsprojekt betrauten Historikerin Dr. Cordula Tollmien in erheblichen Maße binden sollte.

Durch die intensive Kontaktaufnahme mit ehemaligen ZwangsarbeiterInnen im Zuge der Nachweisbeschaffung erhielten wir zunehmend Nachrichten von der extremen Not, in der vor allem viele ehemaligen "OstarbeiterInnen" heute leben, die sich nicht mehr von Aktivitäten des üblichen Forschungs – und Archivalltag überdecken ließen. Am 8. Februar 2001 fand sich daher auf Initiative von Dr. Ernst Böhme und Dr. Cordula Tollmien eine kleine Gruppe von Göttinger Bürgern zur "Göttinger Direkthilfe für ehemalige Zwangsarbeiter- und ZwangsarbeiterInnen" zusammen, die Spenden sammelten, einen Überweisungsweg fanden und die ehemaligen Göttinger „OstarbeiterInnen“ noch vor Beginn der Zahlungen durch die Bundesstiftung schnell und unbürokratisch unterstützen konnten.

Parallel zu dem städtischen Forschungsvorhaben und der privat organisierten finanziellen Hilfe für die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen wurden sowohl in den städtischen Gremien als auch in der allgemeinen Göttinger Öffentlichkeit zwei weitere Projekte diskutiert: zum einen eine Einladung an eine ausgewählte kleinere Gruppe von (noch reisefähigen) ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und zum anderen die Frage, ob und an welchem Ort man in Göttingen einen Gedenkstein aufstellen solle, der an das Unrecht, das den ZwangsarbeiterInnen in Göttingen widerfahren war, erinnern solle. Der Besuch wurde nach langwierigen- vor allem von Pastor Helmhard Ungerer, der auch die tragende Kraft der Göttinger Direkthilfe war, und von Cordula Tollmien bewältigten - Vorbereitungen im Mai 2003 realisiert und gleichzeitig konnte im Beisein der Gäste auch ein Gedenkstein eingeweiht werden.

Im Projekt Nachweisbeschaffung und in der Göttinger Direkthilfe schlug sich historische Forschung - was relativ selten ist - direkt und unmittelbar in tätiger Hilfe und menschlicher Begegnung nieder. Dennoch erschöpfte sich das Projekt "NS-Zwangsarbeit" keineswegs in sozialen Aktivitäten, auch der Forschungsertrag war erheblich: So wurden beispielsweise große Bestände serieller Quellen (wie die Einwohnermeldekartei und die Geburten- und Sterbebücher des Standesamts Göttingen) ganz neu für die Fragestellung erschlossen und es gelang auf dieser Basis erstmals eine einigermaßen zuverlässige Schätzung der Gesamtzahl der Göttinger Zwangsarbeiter. Außerdem wurde durch die auf Holländer, Franzosen und Deutsche erweiterte Kontaktaufnahme zu Zeitzeugen ein ganzer Quellenbestand neu geschaffen: Fragebogenantworten, Briefe, Berichte von ehemaligen "Ostarbeitern", Polen, Holländern, Franzosen, Interviews mit deutschen Zeitzeugen und ein dazu gehöriges, umfangreiches Fotoarchiv (Sa. 32- Sammlung Tollmien).

Regelmäßig wurden die Forschungsergebnisse seit Beginn des Projekts in Berichten, Interviews, Vorträgen und Publikationen der Öffentlichkeit präsentiert.

Übersicht über die Öffentlichkeitsarbeit des Projekts
 

Göttinger Tageblatt 25. Januar 2000

Göttinger Tageblatt 25. Januar 2000

Tageblatt lesen

Ausgefüllter Fragebogen

Ab September 2000 wurde an alle namentlich bekannten ehemaligen Göttinger Zwangsarbeiter ein Fragebogen verschickt: Dies ist eine Seite eines der ersten Fragebögen, der Anfang November 2000 ausgefüllt zurückkam.

Ehemalige Zwangsarbeiter vor dem Gedenkstein

Ehemalige Zwangsarbeiterinnen vor dem Gedenkstein am Tag der Enthüllung am 17. Mai 2003


 

Quellen:

Zwangsarbeiter klagt gegen Göttinger Firmen, Göttinger Tageblatt 28.8.1999.
Unüberprüfbare Altforderung / Arbeiter, Lager und Angst vor KZ, Göttinger Tageblatt 1.9.1999.

Literatur:

Tollmien, Cordula, Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Göttinger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkriegs, Göttingen Dezember 2000 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen, als Download hier).


 


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