NS-Zwangsarbeiter: Tschechen

Die ersten Opfer des europaweiten nationalsozialistischen Menschentransfers im Zuge des Zweiten Weltkrieges waren nicht die Polen, sondern – das wird häufig vergessen – die Tschechen, und das schon vor dem offiziellen Beginn des Krieges. Bereits Ende April 1939 kamen die ersten Tschechen nach Göttingen in die als Zulieferbetriebe für die deutsche Luftwaffe arbeitenden Göttinger Rüstungsbetriebe: zuerst in die Sartorius-Werke und die Physikalischen Werkstätten, kurz Phywe, dann auch in die in Weende gelegenen Aluminiumwerke und zur Firma Lambrecht; einzelne Tschechen arbeiteten auch bei der Gemog AG und in verschiedenen Göttinger Autowerkstätten. Ende Mai 1939 waren schätzungsweise zwischen 60 und 70 tschechische Facharbeiter in Göttingen.

Ab Sommer 1939 wurden gegen die tschechischen Arbeit verstärkt Zwangsmaßnahmen wirksam, in deren Folge im September 1939 auch nach Göttingen eine größere Gruppe von schätzungsweise 30 "Protektoratsangehörigen" für die Reichsbahn zwangsverpflichtet wurde. Im Juli und August 1940 kamen ebenfalls noch einmal insgesamt etwa 20 bis 30 Tschechen für die Reichsbahn nach Göttingen, nachdem allerdings zuvor ein Teil der im September 1939 nach Göttingen gekommen Tschechen an einen anderen Einsatzort versetzt worden war. Auch im April und Oktober 1941 sind einzelne tschechische Zwangsarbeiter bei der Reichsbahn nachweisbar.

Von Sommer 1939 bis zum Frühsommer 1941 sind auch wieder vereinzelt Tschechen bei den Aluminiumwerken und bei der Sartorius AG und jetzt auch bei der Firma Winkel - hier ausschließlich Frauen, die ersten weiblichen Zwangsarbeiterinnen in der Göttinger Industrie - und bei den optischen Werken Schneider & Co in Weende nachweisbar. Zu Schneider & Co kamen einzelne Tschechen auch noch 1943 und eine größere Gruppe im Februar 1944, darunter diesmal auch Frauen.

Seit Oktober 1939 arbeitete erstmals ein Tscheche bei einem Göttinger Fleischer. Auch 1940, 1941 und 1942 kamen immer wieder einzelne tschechische Zwangsarbeiter nach Göttingen zu den Göttinger Fleischern.

Ende März / Anfang April, im August und September und vereinzelt auch im Juli, August, November und Dezember 1942 wurden dann noch einmal schätzungsweise insgesamt 80 Tschechen zur Göttinger Reichsbahn zwangsverpflichtet. Sie waren nach wie vor hauptsächlich im Lager Sültebeck untergebracht, doch nutzte die Reichsbahn in einigen Einzelfällen jetzt auch Gasthäuser (Gasthaus "Zur Ratte" und "Niedersächsischer Hof"), die Wohnbaracke in der Güterbahnhofstraße und auch noch Privatunterkünfte. Dies war eine Auswirkung einer neuen Verordnung vom 4. Mai 1942, nach der zur Durchführung von "unaufschiebbaren Arbeiten besonderer staats- und wirtschaftspolitischer Bedeutung" nun alle arbeitsfähigen Bewohner des Protektorats ohne jede zeitliche Beschränkung dinestverpflichtet werden konnten. Aufgrund dieser Verordnung wurden zwischen Mai und September 1942 ingesamt 40 000 Dienstverpflichtungen ausgesprochen und jedem, der sich entzog, drohte die Verhaftung.

Einwohnermeldekarte eines Tschechen

Johann Spira kam am 25.4.1939 nach Göttingen; er arbeitete als Mechaniker bei der Firma Sartorius und wohnte zunächst in der Liebrechtstraße 4 bei dem Rentner August Lüdecke und dann in der Weender Landstraße 94 bei dem Eisenbahnsekretär i. R. Friedrich Knop. Am 25.8.1939 verließ er unerlaubt seine Arbeitstelle. Die Einwohnermeldekarten der ausländischen Arbeiter wurden in Göttingen in die normale Meldekartei einsortiert. Zum schnelleren Auffinden wurde die Nationalität rot unterstrichen. Da für die vergleichsweise geringe Zahl von Arbeitskräften aus dem "Protektorat" in Göttingen so gut wie keine anderen Quellen existieren, sind diese Einwohnermeldekarten die einzigen Spuren, die die ersten Ausländer, die als Folge der deutschen Besatzungspolitik im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges nach Göttingen kamen, hinterlassen haben.

Einwohnermeldekarte genau ansehen

Ab September 1942 ging man dann dazu über, nach militärischem Muster ganze Jahrgänge (auch Frauen) zu konskribieren, was zur Folge hatte, dass die durchschnittliche monatliche Rekrutierungszahl tschechischer Zwangsarbeiter von 1941 auf 1942 fast um den Faktor 3 anstieg. Nachdem der Generalbevollmächtigte für den Arbeitseinsatz Fritz Sauckel dann im Januar 1943 den Druck noch einmal erhöht hatte (er verlangte eine Steigerung auf mindestens 2000 Kräfte täglich, was sich allerdings nie realisieren ließ), kam Ende Januar und Anfang Februar 1943 auch zur Göttinger Reichsbahn wieder ein größeres Kontingent von schätzungsweise etwa 80 tschechischen Arbeitern, einzelne kamen auch noch Mitte März und Anfang April 1943 dazu.

Insgesamt kamen im Jahr 1943 schätzungsweise 200 tschechische Arbeiter zur Göttinger Reichsbahn, wobei ein Teil von ihnen lediglich von einem anderen Reichsbahnarbeitsplatz nach Göttingen gewechselt hatte. Gegen Ende des Jahres nutzte die Reichsbahn für ihre tschechischen Arbeiter neben dem Gasthaus "zur Linde" auch die in der Göttinger Innenstadt gelegene Gastwirtschaft "Engel".

Im Januar 1943 kamen 10 bis 15 und Anfang März noch einmal schätzungsweise fünf Tschechen für jeweils zwei Monate nach Göttingen, um an dem Umschulungsprogramm der Junkerswerke für deren Zweigwerk in Schönebeck teilzunehmen, das in den Göttinger feinmechanischen Werkstätten zunächst für Elsässer und dann für Flamen aufgelegt worden war.

Ebenfalls im Januar 1943 (und auch vereinzelt schon im September 1942) kam eine kleinere Gruppe von etwa zehn Tschechen zur Baufirma Drege, von denen einige schon im April des gleichen Jahres zur Firma Schneider & Co in Weende wechselten. Denkbar ist, dass die gesamte Gruppe auf einer Baustelle von Schneider & Co arbeitete. Die Firma nahm auch nach Bezug des neuen Firmensitzes immer wieder umfangreiche Ausbaumaßnahmen vor.

1944 kamen die meisten tschechischen Zwangsarbeiter wieder zur Reichsbahn, die meisten von ihnen allerdings diesmal nur noch durch einen Arbeitsplatzwechsel, so etwa eine größere Gruppe im September 1944, die zuvor in Kassel gearbeitet hatte. Für 1944 kam man insgesamt schätzungsweise noch einmal von etwa 100 tschechischen Arbeitern bei Reichsbahn ausgehen, wobei anzumerken ist, dass der größte Teil der tschechischen Zwangsarbeiter noch während des Krieges in die Heimat zurückkehrte.

Keine großen Gruppen, aber einzelne Tschechen arbeiteten auch in anderen hier nicht aufgeführten Göttinger Betrieben, so beispielsweise - wie wir aus Zeitzeugenaussagen wissen - im Göttinger Schlachthof oder - wie eine der ausgewerteten Einwohnermeldekarten ausweist - ab April 1941 als Kontorist bei der Firma Schöneis. Auch in den Göttinger Universitätskliniken waren Tschechen tätig.

Insgesamt arbeiteten von April 1939 bis Kriegsende in der Stadt Göttingen (einschließlich Geismar, Grone und Weende) nach neuesten Schätzungen etwa 600 "Protektoratsangehörige", die meisten von ihnen bei der Reichsbahn.

Unterbringung/Lager:

  • Die ersten Arbeiter aus dem Protektorat, die im Frühsommer 1939 nach Göttingen kamen, waren in Privatzimmern untergebracht.
  • Erstmals lagermäßig untergebracht wurden Tschechen von der Reichsbahn im Gasthaus Sültebeck, belegt durch eine Gruppe von ca 30 Tschechen am 25. September 1939 - dies war das erste Lager für ausländische Arbeiter in Göttingen. Bis Ende 1942 waren die tschechischen Zwangsarbeiter der Reichsbahn in Göttingen mehrheitlich im Lager Sültebeck untergebracht.

  • Die bei den Göttinger Rüstungsfirmen arbeitenden tschechischen Zwangsarbeiter waren in betriebseigenen Unterkünften oder im Gasthaus Zur Deutschen Eiche untergebracht, das auch die Opelhallen und die Reichsbahn vereinzelt nutzten.
  • 1942 wurden einzelne tschechische Arbeiter der Reichsbahn auch in der Wohnbaracke Güterbahnhofstraße, in den Gasthäusern "Zur Ratte" und Gesellschaftshaus Weende und - wenn auch immer seltener - auch noch in Privatunterkünften untergebracht.
  • Die tschechischen Umschüler für die Junkerswerke, die Anfang 1943 in Göttingen waren, waren im Gasthaus Maschmühle untergebracht.
  • Seit Januar 1943 wurden die tschechischen Zwangsarbeiter von der Reichsbahn im Geismaraner Gasthaus "Zur Linde" untergebracht (das Lager Sültebeck wurde von der Reichsbahn nicht mehr genutzt), ab November 1943 kam für die in der Güterabfertigung arbeitetenden Tschechen als Unterbringungsort die Gastwirtschaft "Engel" hinzu.
  • 1944 nutzte die Reichsbahn auch das Lager Eiswiese und das Lager Masch/Grüngürtel für Tschechen.


  • Sonderrecht für Tschechen
  • Tschechische Arbeiter von Frühsommer 1939 bis Kriegsbeginn in Göttingen
  • Gasthaus Sültebeck: Lager für Tschechen, Holländer, Belgier
  • Tschechische Künstler am Städtischen Theater Göttingen. Im Oktober und Dezember 1941 und auch noch im September 1942 kamen im übrigen einzelne tschechische Musiker nach Göttingen, die nur zwei Monate blieben und offenbar durch Deutschland tourten.

    Siehe auch
    Cordula Tollmien: Tschechen - "fremd", "fleißig" und "gefährlich" - die ersten Opfer des nationalsozialistischen Menschentransfers (April 1939 bis Kriegsbeginn), Unveröffentlichtes Manuskript 2004



  • Quellen und Literatur:

    Die obigen Schätzungen beruhen auf der Auswertung und einer entsprechenden Hochrechnung von 24,12 % der insgesamt 1082 Kisten (Zahl bereinigt um Kisten mit ausschließlich typisch deutschen Namen wie Müller, Schmidt, Schulze) der alten Einwohnermeldekartei, die im Stadtarchiv Göttingen aufbewahrt wird.

    Miroslav Kárný, Der "Reichsausgleich" in der deutschen Protektoratspolitik, in: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 26-50, S. 38, S. 41 ff.

    Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart München 2001, S. 41.


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