Nadeschda Alexejewna R., geb. 22.3.1937, im März 1943 gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder, der auf der Fahrt ermordet wurde, nach Deutschland deportiert (Landwirtschaft, Groß Ellershausen, damals Landkreis, heute Stadt Göttingen)

Nadeschda Alexejewna wurde am 22.3.1937 in Moskau geboren. Ihr Vater fiel im Sommer 1941 kurz nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion und man riet ihrer Mutter daher, weit nach Osten bis zum Ural, in die Stadt Tscheljabinsk zu fliehen. Doch Nadeschdas Mutter, Marija Grigorjewna, damals im siebten Monat schwanger war, wollte nicht so weit fort. Sie verließ zwar Moskau, ging aber mit ihrer damals vierjährigen Tochter ausgerechnet nach Westen, also der deutschen Armee entgegen, in das Dorf Masowo, wo sie Verwandte hatte. Das Dorf liegt in der Nähe von Smolensk – der westlichsten Stadt Russlands, die daher am längsten von allen russischen Städten unter deutscher Besatzung litt. Bei der Schlacht um Smolensk, die sich als Kesselschacht vom 10. Juli bis zum 10. September 1941 hinzog, wurde die Stadt fast vollständig zerstört, hunderttausende Sowjetsoldaten kamen ums Leben oder in deutsche Gefangenschaft, was für viele von ihnen den sicheren Tod bedeutete. Auch tausende Einwohner von Smolensk wurde getötet oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschleppt. Nach dem Sieg der Deutschen war Smolensk zwei Jahre, zwei Monate und neun Tage besetzt, bis die Stadt im September 1943 von der Roten Armee zurückerobert wurde.

Nur zwei Wochen nachdem Nadeschda mit ihrer Mutter in Masowo angekommen war, erreichte die deutsche Wehrmacht auch dieses Dorf. Dennoch lebte die Familie dort weitgehend unbehelligt, bis die Deutschen im März 1943 das Dorf niederbrannten und alle Einwohner auf einen Fußmarsch zu der 15 km entfernten Bahnstation Korobez zwangen. Ältere Dorfbewohner, die erschöpft nicht weiter gehen konnten, wurden von den deutschen Soldaten erschossen, "weil ältere Menschen nutzlos für die Deutschen waren", wie Nadeschda in ihrem Brief vom 27. Mai 2010 schrieb: "Aber meine Mutter (es war wie ein Wunder) schaffte es mit zwei kleinen Kindern bis nach Korobez." Nadeschda selbst war damals gerade sechs Jahre alt, ihr kleiner Bruder, der im September 1941 in Masowo geboren worden war, erst anderthalb.

In Korobez wurden Nadeschda, ihre Tante Natalja und deren Tochter Polina und ihre Tante Jekaterina mit den Kindern Wassilij und Raissa (zehn und acht Jahre alt) zusammen mit anderen Dorfbewohnern in einen Güterwagen verfrachtet, während die Mutter mit dem kleinen Bruder auf der Plattform der Waggons bleiben musste. Der kleine Bruder war auf dem Fußmarsch schwer erkrankt und die Deutschen fürchteten sich vor der Ansteckung durch Typhus, obwohl keineswegs klar war, dass der Kleine wirklich Typhus hatte. Als der Zug anfuhr, nahmen die Soldaten der Mutter den Bruder ab, stießen sie in den Waggon zu den anderen und warfen Nadeschdas kleinen Bruder aus dem Zug.

Man transportierte die verbliebene Bevölkerung von Masowo durch Weißrussland und Polen (unterwegs wurden noch einmal die Alten und Kranken aussortiert und mussten mit ungewissem Schicksal zurückbleiben) in das Durchgangslager Lehrte bei Hannover. Das Durchgangslager Lehrte war Mitte 1942 eingerichtet worden und die Zwangsarbeiter wurden dort zunächst einmal registriert, entlaust (eine sehr demütigende und durch das brennende Desinfektionsmittel auch schmerzhafte Prozedur) und auf ihre Arbeitsfähigkeit überprüft. Letzteres allerdings in der Regel nur pro forma; nach den Aussonderungen während der Transporte wurde in Lehrte praktisch allen Deportierten – auch Alten und Kindern – eine Arbeitsbefähigungsbescheinigung ausgestellt. Insgesamt mindestens 700 000 Menschen wurden bis Kriegsende durch das Lager Lehrte geschleust, allein zwischen dem 1. Juli und dem 31. Dezember 1943 – also kurz nach der Deportation von Nadeschda und ihrer Familie – trafen 25 732 Menschen in Lehrte ein. Die meisten von ihnen kamen aus der Sowjetunion, darunter wie Nadeschda, ihr Cousin und ihre Cousinen auch viele Kinder. Die Deportieren blieben in Lehrte, bis ein Transport für den Arbeitseinsatz zusammengestellt wurde, manchmal dauerte dies nur ein paar Tage, manchmal mehrere Wochen. Untergebracht waren die Zwangsarbeiter in ungezieferverseuchten Baracken mit zweistöckigen Holzpritschen, die eigentlich mit einem Strohsack ausgestattet sein sollten. Den Alten und den russischen und polnischen Frauen mit ihren Kindern aber gab man kein Stroh, so dass sie auf bloßen Brettern schlafen mussten. Wenn andere Lagerinsassen versuchten, ihnen Strohsäcke zukommen zu lassen, wurde dies von der Lagerleitung sofort unterbunden. Auch die Verpflegung war schlecht und völlig unzureichend: eine kleine Brotration und täglich einmal eine wässrige Brühe, die sich Suppe nannte; für Säuglinge gab es keine Milch. In einer Ecke des Lagers wurden die Kinder, die Transport und Lager nicht überlebt hatten, still und heimlich beerdigt.

Sehr viele Göttinger Zwangsarbeiter durchliefen das Lager Lehrte, die meisten von ihnen wurden anschließend als "Ostarbeiter" in die Dörfer des Landkreises vermittelt. So kam auch Nadeschda mit ihrer Mutter (und einer Tante) zu einem Bauern in ein Dorf bei Göttingen. Da sie damals erst sechs Jahre alt war, erinnerte sie sich später nicht mehr an den Namen des Dorfes, aber sie gab uns eine sehr genaue Beschreibung – aus Kinderperspektive: "Nur das hat sich mir eingeprägt (ich war 1945 8 Jahre alt), dass ein nicht großer Fluss unweit von unserer Wohnstätte (etwa 30 m entfernt) vorbeifloss, sich neben dem Fluss eine Eisenbahn erstreckte und eine Autobahn ging, vor der eine Erhebung begann. Unserem Haus gegenüber stand eine kleine Kirche, und über der Straße von der Kirche stand ein vierstöckiges Gebäude mit Blumengarten – das Haus des Bauern, bei dem meine Mutter mit ihren Verwandten arbeitete." Obwohl das beschriebene Haus wahrscheinlich nur in Nadeschdas Erinnerung so groß war, dass sie es vierstöckig machte, ließ sich durch diese Beschreibung, durch die beigegebene Skizze und den Hinweis, dass sich Grone in Laufentfernung befand, dieses Dorf sehr eindeutig als Groß Ellershausen identifizieren.

"Unser Bauer", schrieb Nadeschda in einem zweiten Brief vom Oktober 2000, "war ein guter Mensch, er hat uns nie geschlagen (sein einziger Sohn war im Krieg – vielleicht rettete uns das, vielleicht war er immer so ein anständiger Mensch gewesen)." Der Bauer überließ ihnen auch – was keineswegs selbstverständlich war – getragene Kleidung, gab ihnen Lebensmittel, damit sie selbst kochen konnten, und auch die hygienischen Verhältnisse waren gut: die Zwangsarbeiter konnten sich in einem Badezimmer waschen. Da sie noch ein kleines Kind war, musste Nadeschda selbst hauptsächlich im Gemüsegarten arbeiten, während ihre Mutter natürlich alle Arbeiten verrichtete, die auf einem Bauernhof anfielen.

Trotz dieser vergleichsweise guten Behandlung, zu der auch gehörte, dass die Zwangsarbeiter am Sonntag ihre Landsleute in Grone besuchen durften, blieb das Gefühl des Ausgeliefertseins, das auch ein kleines Kind empfand, für immer in der Erinnerung von Nadeschda lebendig: "Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht", schrieb sie im Oktober 2000, "alles war für uns fremd: fremdes Land, fremde Leute, alle wollten nur nach Hause. Aber es war Krieg und wir mussten uns zusammennehmen, wir mussten alles ertragen, wir mussten am Leben bleiben." Und weiter: "Am 20. April 1945 wurden wir von den Amerikanern befreit. Man übergab uns an russische Soldaten und dann konnten wir alle nach Hause." Auf dem Rückweg erkrankte die inzwischen achtjährige Nadeschda an Typhus und musste deshalb mit ihrer Mutter noch einen Monat in Weißrussland bleiben. Erst dann kam beide wieder nach Hause in ihr Dorf Masowo.

Anders als viele andere ehemalige Zwangsarbeiter hatte die Familie nach dem Krieg keine Repressalien seitens der sowjetischen Behörden zu erdulden. Mutter und Tante arbeiteten ihr Leben lang im Kolchos, Nadeschda konnte die Mittelschule besuchen (wo sie auch Deutsch lernte) und anschließend die Wirtschaftshochschule, die sie als Buchhalterin abschloss. Bis zur Rente im Jahre 1992 arbeitete sie für eine Baufirma in Smolensk.

Gefragt, wie ihr Leben nach dem Krieg in der Sowjetunion verlaufen sei, schrieb sie im Oktober 2000: "Wir mussten wieder aufbauen, alles restaurieren, was im Krieg zerstört worden war. Wir lebten sehr arm, bis alle unsere Wunden und der Kummer der Nachkriegszeit verheilte." Und auf die Frage nach ihrer jetzigen Lebenssituation antwortete sie mit nur einem Wort: "Armut".

1992 hatte die russische Regierung einer Verordnung erlassen, nach der ehemalige Zwangsarbeiter - auch Kinder - eine kleine Zuzahlung zur Rente erhalten sollten. Dafür musste jedoch der Aufenthalt in Deutschland während des Krieges und auch, dass die Kinder wirklich gearbeitet hatten, nachgewiesen werden. Damit scheiterte Nadeschda R. zunächst, weil sich keine Dokumente über ihren Aufenthalt in Deutschland fanden und weil die Zeugen, die sie beibrachte, nicht bestätigen konnten, dass Nadeschda bei der Deportation bei ihrer Mutter gewesen sei. Aufgrund ihrer genauen Beschreibungen konnte das Stadtarchiv Göttingen ihr aber Ende 2000 eine sog. Glaubwürdigkeitsbescheinigung ausstellen, wie sie auch für eine Zahlung durch die deutsche Bundesstiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" akzeptiert wurde. Auf der Grundlage dieser Bescheinigung erhielt Nadeschda R. auch die ihr zustehende Zusatzrente des russischen Staates und außerdem einen Ausweis als Naziverfolgte, mit dem sie in den Genuss kommunaler Vergünstigen kam.

Dennoch beträgt ihre Rente umgerechnet nicht mehr als etwa 30 Euro, von denen sie aber behauptet damit auszukommen: Sie könne sich, so schrieb sie im April 2001, noch etwas durch Arbeit für die Finanzbehörde dazuverdienen und das reiche ihr für ein bescheidenes Leben und sie sei – so Nadeschda R. im Mai 2010 – ein schon ziemlich alter Mensch und brauche mit ihren 73 Jahren für das ihr noch verbliebene Leben nicht mehr viel. Schon im Oktober 2000 hatte sie im gleichen Tenor geschrieben: "Ich bitte Sie, machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, ich kann auch ohne materielle Entschädigung weiter leben. Geld ist nicht das Wichtigste, wichtig ist, dass wir in Frieden leben und dass es keinen Krieg mehr gibt."

Nachdem sich die russische Partnerorganisation der deutschen Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" bei der Zahlung an ehemalige Kinderzwangsarbeiter unter 12 Jahren sehr schwer tat und Frau R. erst nach mehrmaliger Intervention von unserer Seite die ihr zustehende Zahlung erhielt, wurde Nadeschda R. angesichts der Verschlechterung ihrer persönlichen Lage aufgrund der ständig steigenden Preise Ende 2002 von uns in das Hilfsprogramm der "Göttinger Direkthilfe" aufgenommen. Aufgrund ihrer großen Bescheidenheit und weil sie sich wegen ihrer Armut schämte, hatte sie sich zunächst dagegen gewehrt, empfand unsere geringen Zahlungen dann aber doch als Ausgleich für die erlittenen Erniedrigungen, da man ihr bei den russischen Behörden zunächst nicht geglaubt hatte, dass sie als Kinderzwangsarbeiterin in Deutschland gewesen war. Nach der zweiten Zahlung Ende 2003 schrieb sie: "Ich schäme mich so sehr für unser Russland, das so reich ist in allem, aber so armselig zu seinen Menschen. Selbstverständlich gibt es auch bei uns Milliardäre, aber an Hilfe für die armen Leute denkt niemand. Die Preise für Lebensmittel und Dienstleitungen steigen nicht nur monatlich, sondern täglich. […] Für das Geld habe ich Gemüse und Kartoffeln für den Winter gekauft, auch ein bisschen Kleidung, die ich schon lange nicht nicht mehr erneuert hatte."

Auch wenn sie es sich nicht immer anmerken lässt: Frau R., das zeigen ihre Briefe, trägt schwer an ihren Erfahrungen während des Krieges, an dem Gefühl des Fremdsein in einem feindlichen Land, am gewaltsamen Tod des kleinen Bruders und an den langen Jahren des Kampfes um die Anerkennung als Kinderzwangsarbeiterin, vor allem aber an den elenden Lebensbedingungen, unter denen sie jetzt leben muss. Ihre Armut ist ihr peinlich, sie schämt sich für ihr Land, das seine alten Menschen so schlecht behandelt. Deshalb – vor allem – will sie nicht unter ihrem vollem Namen lesen, wie schlecht es ihr trotz eines langen arbeitsreichen Lebens heute geht.

Deshalb äußerte Nadeschda R. eine Bitte (übrigens die einzige Bitte, die sie je geäußert hat): Sie wolle bei allen Veröffentlichungen über ihre Person nicht, dass ihr Familienname genannt werde. Sie lasse mir (Cordula Tollmien, der Autorin dieser Homepage), so schrieb sie am 27. Mai 2010, in allem völlig freie Hand, aber "ich bitte Sie, nennen Sie nicht meinen vollständigen Familiennamen." Dieser Punkt war ihr so wichtig, dass sie diesen in ihrem Brief zweimal betonte.

Ihr Wunsch wird auf dieser Homepage selbstverständlich respektiert.

Zur Frage der Namensnennung von NS-Opfern finden Sie hier eine kurze Stellungnahme.

 

Marija Grigorewjna, Nadeschdas Mutter, geb. 1913, um 1970

Marija Grigorewjna, Nadeschdas Mutter, geb. 1913, um 1970

Frühere Fotos haben sich leider nicht erhalten.

Nadeschda Alexejewna R., geb. 1937, 1984

Nadeschda Alexejewna R., geb. 1937, 1984



Quellen:

Briefe Nadeschda Alexejewna R.: Brief ohne Datum (Januar 2000), Fragebogen mit Begleitbrief ohne Datum (Eingang 23.10.2000), Briefe 3.3.2001, 18.4.2001, ohne Datum (Eingang 5.12.2002), 12.11.2003, 10.12.2004, 25.3.2005, ohne Datum (Eingang 2.1.2006), 27.5.2010, und Fotos, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien, Korrespondenz und Foto-CD.

Erinnerungen des katholischen Geistlichen Hermann Hermans, übersetzt und bearbeitet von Louise Schweigart, veröffentlicht unter dem Titel: Ein Durchgangslager in Lehrte während des Zweiten Weltkrieges, in: Lehrter Land und Leute. Magazin zur Geschichte, Kultur und Heimatkunde, 3 (1995), S. 15 f.

 
Literatur:

Janet Anschütz / Irmtraut Heike, Feinde im eigenen Land. Zwangsarbeit in Hannover im Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2000, S. 24 f.

Homepage über Zwangsarbeit in Lehrte, Abschnitt Lehrte, Durchgangslager

 


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