Natalia Sergejewna T., geb. 10.8.1924, deportiert im Juni 1942 (Universitätskliniken, Aluminiumwerke, Universitätskliniken, Haushalt, Gefängisaufenthalt) |
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Natalia Sergejewna T. lebte während des Krieges in der Stadt Perwomaisk (Odessagebiet), wohin sie vor dem Krieg zu ihrer Schwester geflohen war. Im Juni 1942 wurde sie von deutschen Polizisten aufgegriffen und in einen Viehwagen nach Deutschland gesetzt. Sie schrieb dazu im Januar 2001:
Nach einiger Zeit wurde Natalia Sergejewna T. in die Aluminiumwerke versetzt, wo sie in der Nachtschicht an einer Bohrmaschine arbeitete. Untergebracht war sie in einer Baracke für "Ostarbeiterinnen" des betriebseigenen Lagers der Aluminiumwerke, in dem - wie sich Frau T. richtig erinnerte - sich auch Baracken für russische, französische und italienische Kriegsgefangene befanden. Zu ihrem deutschen Meister "Onkel Hans" habe sie ein gutes Verhältnis gehabt, wohl auch weil sie Deutsch sprach. Nachdem sie sich nach drei Monaten Nachtschicht an der Bohrmaschine eine schwere Fingerverletzung zugezogen hatte, kam Natalia T. in der Ohrenklinik von Professor Hermann Frenzel, wo sie als Putzfrau sowohl in der Klinik selbst ("In der Klinik habe ich täglich die beiden Etagen geputzt.") als auch im Haushalt des Professors für dessen Frau arbeitete. Sowohl in der Klinik als auch im Haushalt Frenzel sei sie gut behandelt worden. Sie habe von der Frau Frenzel sogar Geld bekommen, wofür sie sich Seife, Zahnpulver, Briefpapier und Nadel und Faden kaufen konnte. Untergebracht war sie diesmal im Lager Schützenplatz, sie hatte aber die Erlaubnis, sich in der Klinik zu waschen. Auch an das Lager Schützenplatz hatte sie nicht so schlechte Erinnerungen wie andere ZwangsarbeiterInnen hat: "Ich wurde in dem allgemeinen Lager untergebracht, nicht weit von dem Bahnhof, das Schützenplatz hieß. Rings um das Lager war Stacheldraht. Am Eingang saß ein Hund, der uns alle vom Gesicht her kannte. Die Wache in dem Lager war nicht brutal, sie haben uns nur gebeten, die Lagerordnung zu beachten." Zu essen habe es täglich 200 gr Brot, 10 gr Margarine und einen Becher Ersatzkaffee gegeben. Zum Mittag gab es Kohlsuppe, die sog. Balanda. Manchmal habe sie von Deutschen, mit denen sie gearbeitet habe, ein Stück Brot oder etwas zum Anziehen bekommen und bei den Bewohnern der Dörfer in der Umgebung etwas Gemüse eintauschen können. Sie habe Kohl und Kohlenstückchen gestohlen, um den Ofen in der Baracke zu heizen. Für den Kohldiebstahl sei sie für ein paar Tage verhaftet worden, für den Kohlediebstahl nur beschimpft. Natalia Sergejewna hatte - wie man auf den Fotos sieht - auffallend lange und schöne Haare, die ihr zweimal, so schrieb sie, Unglück brachten. Einmal schon während des Transports in Deutschland in Polen, als sie gemeinsam mit etwa zwanzig anderen Mädchen zum Duschen und Desinfizieren in eine Sanitätsbaracke gebracht wurde:
Das zweite Mal brachten die Haare ihr kurz vor Ende des Kriegs im Frühjahr 1945 Unglück: "Neben dem Lager war eine einzelne Baracke, das war ein Krankenhaus für Kriegsgefangene [bekannt ist in Göttingen nur die Krankenbaracke zivile für "Ostarbeiter" und Polen; möglich, dass dort auch Kriegsgefangene behandelt wurden - C.T.]. Es war nicht verboten, dorthin zu gehen und mit ihnen zu reden. Dort arbeitete ein russischer Arzt (Feldscher) und ein bewaffneter älterer Deutscher. Die Jungen haben mich gebeten, die roten Buchstaben „SU“ auf den Rücken ihrer Jacken und auf den Knien ihrer Hosen wegzuschneiden und die Uniform wieder zu nähen. Ich habe die Jacken genommen, alles genau so gemacht, wie sie wollten, und sie ihnen zurückgegeben. In der Nacht darauf sind zwei Offiziere (niemand wusste, wer sie waren) geflüchtet. Sie sind am Leben geblieben und zu den Amerikanern übergelaufen.
Aber als die Ermittlungen wegen der Flucht begannen, sagte der deutsche Wachmann, er habe das russische Mädchen vom Schützenplatz mit den langen Haaren gesehen. So haben mich meine langen Haaren verraten. Der Feldscher wurde festgenommen und niemand erfuhr etwas über sein Schicksal. [...] Drei oder vier Tage nach der Flucht amen zwei Männer in ziviler Kleidung und nahmen mich mit. Was für eine Behörde das war, wusste ich nicht. Auch dort waren alle in ziviler Kleidung. Ich habe alles gestanden. Aber sie haben von mir verlangt, die Namen der geflüchteten Männer zu nennen. Ich wurde meistens nachts verhört. Dann haben sie plötzlich mit den Verhören aufgehört, weil die zweite Front schon durchbrochen war und die Amerikaner schon in Deutschland waren."
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Natalia Sergejewna T. im Alter von 15 Jahren (1938)
Nach ihrer Zwangsarbeitszeit in Göttingen 1950 Natalia Sergejewna T. im Jahre 2001 |
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Natalia Sergejewna T. (unten links) gemeinsam mit Lena und Natascha, zwei anderen ehemaligen "Ostarbeiterinnen" in der Umgebung Göttingens nach dem Ende des Krieges, 1946. Natalia Sergejewna arbeitete bis 1947 in Deutschland in einer Militärabteilung (wahrscheinlich in der sowjetisch-besetzten Zone) und kehrte erst danach in die Ukraine zurück. Dort erhielt sie zunächst keine Aufenthaltsgenehmigung für die Stadt Perwomaisk, wo ihre Schwester wohnte, und durfte ein Jahr weder arbeiten noch eine Schule besuchen. |
Fragebogen und Brief Natalia Sergejewna T., geb. 10. August 1923, ohne Datum (Eingang 25.1.2001), mit Fotos, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien, Korrespondenz und Foto-CD.
Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.
Namenslisten Gefängnisinsassen, Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 8 Nr. )
Gefangenenbuch des Landgerichtsgefängnisses Göttingen für das Rechnungsjahr 1943, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hann 86a acc. 75/85 Nr. 1 (exzerpierte Namensliste überlassen von Günther Siedbürger).
Tagesmeldungen der Kriminalpolizeileitstelle Hannover - Außenstelle Göttingen Bd. 1 Dezember 1943-1944 und Bd. 2 August 1944 bis März 1945, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 175 Nr. 1 (Meldung von der Festnahme zweier sowjetischer Kriegsgefangener 16.2.1945).