Xenia Gerassimowna S., im September 1942 als 14jährige deportiert (Landwirtschaft, Lödingsen, Landkreis Göttingen) |
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Xenia Gerassimowna S., geb. 14.5. 1928 in Simferopol auf der Krim. Sie hatte zwei Brüder, ihr Vater war Angestellter beim Telegrafenamt; die Familie versteckte während des Krieges einen jüdischen Jungen, der dadurch überlebte. Xenia selbst wurde im September 1942 – da war sie 14 Jahre alt – nach Deutschland deportiert, weil sie ein Plakat für die Anwerbung von Ostarbeitern abgerissen hatte. Transportiert wurde sie gemeinsam mit vielen anderen Jungen und Mädchen in einem Viehwaggon. Sie versteckte sich unter der Bank, auf der der Wächter schlief. So konnte sie ein wenig schlafen. Zunächst kam sie zu einem Bauern in der Nähe von Northeim, dann nach Lödingsen, wo die Arbeit nicht ganz so schwer war. Im war sie die einzige Russin; es gab in Lödingsen nur noch zwei Ukrainerinnen (aus der Westukraine, also wohl polnischsprachig), drei Polinnen, eine polnische Familie, serbische Kriegsgefangene und polnische Männer. Um überleben zu können, musste sie so schnell wie möglich Deutsch lernen. Sie fütterte die Schweine, machte Hausarbeit, arbeitete im Garten und ab und zu auf dem Feld – sie stand um 6 Uhr auf, arbeitete bis zum Abendessen, dann musste sie noch Geschirrspülen; „Ich wurde“, schrieb sie, „wie ein Dienstmädchen behandelt, manchmal gut, manchmal wurde ich beschimpft, das hing von der Laune der Bäuerin ab“. Sie aß getrennt von der Familie zusammen mit den Polen: „Aber ich wurde immer satt. Sie schenkten mir auch Kleidung. Nur fühlte ich mich wie ein Untermensch, nicht gleichwertig.“ Das Schlimmste war für sie die Isolation. Es gab keinen Mensch, mit dem sie in Lödingsen russisch sprechen konnte. Mit den Ukrainerinnen fuhr sie verbotenerweise einmal nach Göttingen zum Tanzen. Am nächsten Morgen schlug sie der Bauer dafür. Als dann der Mann der Tochter des Bauern bei Stalingrad vermisst war, wurde es noch schlimmer. Sie wurde noch häufiger angeschrieen und konnte nichts mehr recht machen. Aus Verzweiflung floh sie zum Arbeitsamt Northeim, das für sie zuständig war, wo man sie aber wieder nur anschrie und zurückschickte. Nach dem Krieg (da war sie dann gerade 17 Jahre alt) wurde sie von den Engländern in die sowjetische Besatzungszone gebracht, nach Halberstein, wo sie noch bis November 1945 im Lazarett arbeitete. Wieder zu Hause machte sie eine Lehre zur Buchhalterin. Sie hätte gern studiert. Heute ist der häufigste Satz, den sie über ihre Zeit in Deutschland sagt: "Ich, wir haben das alles überlebt. Und wir leben noch heute. Darüber freue ich mich jeden Tag."
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Xenia Gerassimowna S. - das Foto wurde 1942 kurz vor ihrer Deportation in Simferopol aufgenommen. Xenia Gerassimowna S. im September 2005 |
Xenia Gerassimowna S., Fragebogen mit Briefe, 8.12.2000, und Fotos, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien, Korrespondenz und Foto-CD; Gespräche während eines Besuchs auf der Krim im September 2005
Susanne Kraatz, Verschleppt und vergessen - Schicksale jugendlicher "Ostarbeiterlnnen" von der Krim im Zweiten Weltkrieg und danach, Heidelberg 1995