Interview mit der Malte Kreutzfeld für die Göttinger Zeitung (göz), Ausgabe 3/ Sommer 2000 (auch abgedruckt in HNA 21.6.2000)

"Ein Stück Würde zurückgeben"

Einstimmig hat der Stadtrat im Februar Gelder bereit gestellt, um im Rahmen eines sechsmonatigen Werkvertrags die Situation städtischer Zwangsarbeiter zu erforschen. Für diese Aufgabe gewonnen wurde Dr. Cordula Tollmien, die sich bereits in dem kürzlich bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienenen Band 3 der Göttinger Stadtgeschichte in ihrem Beitrag über "Nationalsozialismus in Göttingen" mit diesem Thema beschäftigt hatte. göz sprach mit der Historikerin über ihre Arbeit.

göz: Seit Anfang April recherchieren Sie im Auftrag der Stadt zum Thema "Zwangsarbeiter". Was ist Ihre genaue Aufgabe?

Tollmien: Ich soll herausfinden, welche stadteigenen Betriebe im Zweiten Weltkrieg Zwangsarbeiter beschäftigt haben, wie viele es waren, was für Tätigkeiten sie ausüben mussten und unter welchen Bedingungen sie gelebt und gearbeitet haben. Sofern möglich, werde ich auch ermitteln, wie sie hießen, woher sie kamen, wie alt sie waren, also so viel wie möglich über die jeweilige Person in Erfahrung bringen.

göz: Was ist der Hintergrund dafür, warum will man das jetzt wissen?

Tollmien: Jetzt endlich, mehr als ein halbes Jahrhundert nach dem Ende des Krieges, wird dieser Teil der Geschichte nicht mehr verdrängt. Die aus den USA zu uns nach Deutschland getragene politische Diskussion zum Thema ist bekannt. Doch über die finanziellen Entschädigungen hinaus, die für die einzelnen Betroffenen von nicht zu unterschätzender Bedeutung sind, ist auch weitere Forschung zum Thema sehr wichtig. Zwangsarbeit, die Zwangsarbeiter sind ein Teil unserer Stadtgeschichte, und es ist der Stadt Göttingen daher hoch anzurechnen, dass sie sich dieser Geschichte stellt. Wie wir aus den Diskussionen in anderen Städten wissen, ist dies trotz der allgemeinen öffentlichen Diskussion leider immer noch nicht selbstverständlich.

göz: Welche Quellen untersuchen Sie hauptsächlich?

Tollmien: Zunächst spielt das städtische Archiv eine wichtige Rolle. Diese Unterlagen sind aber bei weitem nicht vollständig. So sind etwa die Unterlagen des Arbeitsamts Göttingen, das für die Verteilung der Zwangsarbeiter zuständig war, nicht mehr vorhanden, und die Unterlagen der Außenstelle Göttingen der Gestapo, der die strafrechtliche Verfolgung unterstand, wurden kurz vor Ende des Krieges vernichtet. Ergänzend werde ich daher auch das Haupt- und Staatsarchiv in Hannover nutzen: Dort gibt es eine Überlieferung des Landesarbeitsamtes, und auch die Akten des Oberpräsidenten von Hannover und des Regierungspräsidenten von Hildesheim enthalten sicher noch manchen interessanten Hinweis. Mühsam ist lediglich, dass es keine zusammenhängende Überlieferung zum Thema "Zwangsarbeiter in Göttingen" gibt, die Informationen daher wie in einem Puzzle aus einer Vielzahl von verstreuten, einzelnen Akten zusammengesetzt werden müssen.

göz: Recherchieren Sie auch die Situation von Zwangsarbeitern in einzelnen privaten Unternehmen? göz: Was geschieht mit den Ergebnissen ihrer Untersuchung?

Tollmien: Zunächst helfen solche Listen den Überlebenden, ihre Ansprüche nachzuweisen. Im übrigen aber ist dies eine Entscheidung, die die zuständigen städtischen Gremien zu treffen haben. Die Stadt könnte der Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" beitreten oder aber auch die in ihren Betrieben beschäftigten Zwangsarbeiter individuell entschädigen.
Mindestens genau so wichtig scheint mir aber, dass man auf diese Weise das Unrecht wahrnimmt und anerkennt. Diese Wahrnehmung gibt den Menschen ein Stück ihrer Würde zurück. Vielleicht ist es sogar möglich, Überlebende nach Göttingen einzuladen. Das bedeutet den betroffenen Menschen - wie ich etwa aus Frankfurt weiß, wo man vor einigen Jahren die ehemaligen Zwangsarbeiter der Adlerwerke eingeladen hat - sehr viel: Sichtbarsein ist ein Menschenrecht.

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