Seit einem Erlass vom 26. Juni 1939 hatten Tschechen bei "Arbeitsverweigerung", politischer Betätigung oder "sonstiger staatsfeindlicher Einstellung" "Schutzhaft" zu gegenwärtigen. Am 4. Juli 1939 wurden die entsprechenden Bestimmungen dann ausgeweitet auf alle tschechischen Arbeitskräfte, die Befehle verweigert, Diebstähle begangen, geplündert, oder sich sonstiger krimineller Delikte schuldig gemacht hatten. "Damit", so Ulrich Herbert in seiner grundlegenden Studie von 1985 über "Fremdarbeiter", "war […] das Maß überschritten, in dem deutsche Arbeiter gemeinhin bestraft werden konnten: Schutzhaft für Diebstahl - eine Verschärfung des Strafmaßes, die die Tschechen tendenziell außerhalb der deutschen Rechtsordnung stellte." (S. 63)
Die Anwerbung arbeitsloser Tschechen für den "Reichseinsatz" war aufgrund von zunehmend negativen Berichten über den Arbeitsalltag in Deutschland schon im Juni 1939 in eine Krise geraten. Das Reichsarbeitsministerium erließ deshalb am 5. August 1939 einen Sondererlass, nachdem das Verlassen des Arbeitsplatzes nicht mehr ohne Zustimmung des zuständigen Arbeitsamtes möglich war; eine Verordnung der Protektoratsregierung vom 25. Juli 1939 sah außerdem die "Einführung einer allgemeinen Arbeitspflicht zur Durchführung besonderer staatspolitischer Aufgaben" für alle Männer zwischen 16 und 25 Jahren vor. Dies war die erste einer Folge von Dienstverpflichtungen zur Aushebung geschlossener Jahrgänge, wie sie später auch für andere Nationalitätengruppen in ganz Europa gang und gäbe wurde. Gleichzeitig hatte man im Sommer 1939 mit dem Aufbau eines dichten Netzes von formal zwar dem tschechischen Sozial- und Gesundheitsministerium unterstellten, faktisch aber von deutschen Beamten geleiteten Arbeitsämtern auch die institutionelle Basis für kontinuierlich effektive Anwerbungen geschaffen. Da es bis 1941 keine einheitlichen Durchführungsrichtlinien für die Arbeiterrekrutierung gab, legten die Arbeitsämter die Gesetze sehr extensiv aus. Das führte dazu, dass sich das Arbeitsamt neben der Gestapo in kürzester Zeit zur meistgefürchteten und meistgehassten Institution im "Protektorat" entwickelte - Das Prager Arbeitsamt hieß im Volksmund "Haus des Schreckens". Auch dies war ein Modell und ein Verfahren, dass im Krieg etwa auch in Polen oder später auch in den Niederlanden oder in Frankreich entsprechend angewandt wurde. Der Beitrag der deutschen Arbeitsverwaltung zur Durchsetzung und Etablierung der deutschen Besatzungsmacht innerhalb der jeweiligen Länder kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.
Auch in Göttingen war die Anwerbungskrise des Sommers 1939 deutlich zu spüren gewesen und so kamen im Juli und August 1939 nur noch ganz vereinzelt tschechische Arbeitskräfte. Dies änderte sich mit Kriegsbeginn. Zwar kamen nicht tausende von in Baracken unterzubringende Arbeitskräfte, wie Göring am 23. Juni 1939 auf einer Sitzung des Reichsverteidigungsrates fabuliert hatte, aber am 25. September 1939 doch immerhin um die 30 tschechische Arbeiter gleichzeitig zur Göttinger Reichsbahn. Und im Gegensatz zu den bisherigen Arbeitskräften aus dem "Protektorat" wurden diese nun nicht mehr in Privatquartieren, sondern gemeinsam im Gasthaus "Am Sültebeck" im Maschmühlenweg 14/16 untergebracht. Dies war die erste lagermäßige Unterbringung von ausländischen Arbeitern in Göttingen.
Vorgeschrieben war eine lagermäßige Unterbringung für tschechische Arbeitskräfte im September 1939 noch nicht; dies wurde erst im Dezember 1940 verfügt. Zwei Gründe sind daher für diese frühe Lagerunterbringung in Göttingen anzunehmen. Zm einen war die Reichsbahn als staatliche nicht örtlich gebundene Einrichtung daran interessiert, das ihr zur Verfügung stehende Arbeitskräftepotential jederzeit problemlos an verschiedene Einsatzorte verbringen zu können, war bei einem gemeinschaftlich untergebrachten Arbeitstrupp sehr viel leichter und schneller möglich war als bei in Privatquartieren wohnenden Einzelpersonen. Außerdem - und das ist die ideologische Ebene der für die Lagerunterbringung sprechenden Gründe - gab es auch schon vor dem ausdrücklichen Verbot des privaten Wohnens für Tschechen bei vielen lokalen Behörden Bestrebungen, eine stärkere Trennung von der deutschen Bevölkerung durchzusetzen. Man befürchtete dabei nicht nur eine "rassische" Gefährdung durch zu enge Kontakte, sondern vor allem eine politische Beeinflussung durch Arbeitskräfte aus einem Land mit einer lebendigen demokratischen Tradition.
Die Arbeitskräfte aus dem sog. Protektorat Böhmen und Mähren stellten sowohl in Göttingen als auch reichsweit nur eine vergleichsweise kleine Gruppe unter den ins Deutsche Reich zur Arbeit gezwungenen Menschen. Massenhaft wurde der Zwangsarbeitereinsatz erst mit dem Überfall auf Polen und der Verschleppung von tausenden und abertausenden Kriegsgefangenen und kurz darauf auch Zivilpersonen ins Deutsche Reich. Doch die Tschechen waren neben den ebenfalls seit Frühjahr 1939 systematisch zur Zwangsarbeit herangezogenen deutschen und österreichischen Juden das Modell: an Tschechen und Juden wurde sowohl technisch-logistisch als auch auf der rechtlichen Ebene erprobt und in die Tat umgesetzt, was wenig später zur Grundlage des europaweiten Zwangsarbeitereinsatzes werden sollte.
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Quellen:
Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen.
Literatur:
Ulrich Herbert, Fremdarbeiter - Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin / Bonn 1985, S. 63.
Miroslav Kárný, Der „Reichsausgleich“ in der deutschen Protektoratspolitik, in: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 26-50, hier S. 26-32.
Stephan Posta, Tschechische „Fremdarbeiter“ in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Dresden 2002., S. 37-80; S. 114 ff., S. 125 f.