Vera Aleksandrowna Sch., geb. 22.5.1922, deportiert im Frühjahr 1922 (Konservenfabrik Hillebrand, Chemische Reinigung Schacke und Munitionsanstalt Lenglern)

Vera Aleksandrowna Sch., geb. 22.5.1922, wurde im Frühjahr 1942 aus ihrem ukrainischen Dorf im Nikolajewskaja Gebiet gemeinsam mit anderen Dorfbewohnern nach Deutschland deportiert. Auch ihr Bruder wurde deportiert, er kam zu einem Landwirt in Österreich. Ihre Erinnerungen schrieb sie im Jahr 2003 auf:

Nach diesen Erinnerungen arbeitete Vera Sch. während der Sommermonate bis zu 15 Stunden am Tag in der Konservenfabrik Hillebrand, die auf dem Fabrikgelände im Brauweg 27 ein eigenes Lager unterhielt, in dem die "Ostarbeiterinnen" untergebracht waren. Vera Sch. war hauptsächlich mit dem Entkernen von Obst beschäftigt, manchmal aber auch mit der Ernte und dem Einkochen von Erbsen. Für die Ernte wurden sie unter Bewachung zu einem landwirtschaftlichen Betrieb in der Umgebung von Göttingen transportiert.

In den Wintermonaten, wenn es nicht einzukochen gab, arbeitete sie in der Dampffärberei und chemischen Waschanstalt Schacke (zwei Winter lang) und in der Munitionsanstalt Lenglern, ein 1934 erichtetes Lager für Munition und ein wegen der Unfall- und Vergiftungsgefahr gefürchteter Arbeitsplatz. Vera Sch. schrieb dazu: "Einen Winter arbeitete ich in einem Rüstungsbetrieb Lenglern, an die Zeit habe ich keine Erinnerung." "Es gab dort ein Lager für Bomben", war das einzige was ihr bei einer späteren Frage noch einfiel.

Für Hillebrand dagegen waren ihre Erinnerungen sehr konkret:

Mit den deutschen Arbeitern hätten sie sich gut verstanden, manchmal hätten sie ihnen sogar heimlich ein Stück Brot gegeben. Doch der Chef sei grob gewesen und habe sie manchmal mit dem Wasserschlauch geschlagen.

An Lohn hätten sie ungefähr 7 Mark im Monat bekommen, wofür sie sich aber nur Postkarten hätten kaufen können (und die Fotos, die beispielsweise der Fotograf Blankhorn anfertigte - C.T.)

In der Baracke auf dem Firmengelände hätten etwa 40 Frauen gelebt. Es habe dort kein fließendes Wasser gegeen, sondern nur ein Waschbecken und eine Waschschüssel. Und es habe in dem Lager eine sehr strengen Wächter gegeben: "Oft, wenn wir gerade eingeschlafen wurden, schrie er: „Aufstehen! Überprüfung!“. Wir schimpften auf ihn, natürlich auf russisch, er konnte uns aber nicht verstehen."

Verpflegt worden seien sie aus einer gemeinsamen Küche: "Morgens Tee ohne Zucker, zum Mittagessen Rübensuppe mit Würmern ohne Salz und Brot mit Zusatz, einen Laib für 7 Menschen. Wir aßen in der Baracke, wir waren niemals satt. Sonntags gab es eine Makaronisuppe aus der gemeinsamer Küche. Wir hatten immer Hunger." Deshalb hätten sie auch gebettelt (aber nicht gestohlen). Manche hätten ihnen Brot gegeben, anderen hätten sie als "Russische Schweine" beschimpft.

Zu dem Foto, auf dem die "Ostarbeiterinnen" von Hillebrand mti der Dolmetscherin beim Musizieren abgebildet sind, schrieb Vera Sch.:

"Die Frau ganz links war unsere Dolmetscherin. Sie ist in Göttingen geblieben. Sie war freiwillig nach Deutschland gekommen und ist nicht nach Hause zurückgekehrt. Sie war keine Ostarbeiterin, hat unser Brot nicht gegessen. Sie bekam Karten und sogar Geld, Mark. Sie sprach gut Deutsch. In den letzte Kriegstagen gingen wir betteln, sie nicht. Sie hat nicht schlecht gelebt. Wir aber lebten wie Sklaven. Wenn ich mich jetzt an dies alles erinnere, geht es mir schlecht.
Sie fragen, wo wir diese Balalajka herbekommen haben.
In Göttingen gab es ein gemeinsames Lager, dort wohnten Russen, Polen, Tschechen und viele andere Nationen [gemeint ist wahrscheinlich das
Lager Masch der Reichsbahn, denn nur dort waren so viele Nationen gemeinsam untergebracht - C.T.]. Von dort haben wir sie mitgenommen. Ein Mal haben wir dort einen Konzert veranstaltet, das sich auch Deutsche angehört haben. Wir haben uns bloß unterhalten, wir waren ja Sklaven. Nicht weit von uns gab es auch eine Textilfabrik, dort arbeiteten auch Russen [gemeint ist die Textilfabrik Schöneis - C.T.]. Sie kamen zu uns zu Besuch. Der Besitzer dieser Fabrik war etwa freundlichen zu ihnen, sie bekamen mehr zu essen als wir. Manchmal brachten sie uns etwas zum Essen mit. Das alles haben wir überlebt. Manchmal bekamen wir "Schlangen", so hieß es bei uns [gemeint sind Schläge mit dem Wasserschlauch = Schlange - C.T.], von Gelibrant [kyrillische Umschrift von Hillebrand- C.T.], so nannten wir ihn."

Auch bei den Ukrainerinnen aus Charkow, die bei Schneeweiß arbeiten mussten, wurde musiziert und auch sie besaßen Musikinstrumente.

Vera Sch. erzählte weiter:

"Wir machten auch Mist. Ein Mal wurden zur Fabrik Pfirsiche gebracht, große und mit guten Geschmack. Wir luden sie aus und haben versucht, 2 Kisten davon zu stehlen und in der Baracke zu verstecken. Aber wir haben nicht darüber nachgedacht, dass unser Chef diese Kisten vermissen würde. Er ist gekommen und hat gefragt, wer diese 2 Kisten genommen hat. Niemand hat es zugegeben. Er hat uns nicht geschlagen, aber sehr auf uns geschimpft. Wir haben gezittert und geweint.

Ein anderer Fall: Der Chef ist in unsere Abteilung gekommen und gesagt, Vera und Polina sollen zum Bahnhof gehen und dort etwas aus den Waggons ausladen. Ich habe Polina überzeugt, zusammen zu gehen. Wir haben uns in sein Auto gesetzt und sind eingeschlafen. Er hat uns überall gesucht und nicht gefunden. Dann hat er die Polizei angerufen. Uns wurde zur Last gelegt, dass wir weglaufen wollten. Die Polizei hat ihn aufgefordert, unsere Dokumenten dorthin zu bringen. Als er alles zusammen hatten und ins Auto einsteigen wollte, hat er uns erwischt. Wir haben einfach geschlafen. Wir wurden streng bestraft und ich besonders. Die Mädchen haben uns ausgelacht.

Neben der Fabrik gab es ein Militärwerk [die Aerodynamische Versuchsanstalt - C.T.]. An einem Wochenende begann sie plötzlich zu brennen. Wir haben unsere Koffer genommen und sind weggelaufen. Der Chef hat uns die Koffer kaputt gemacht und uns zurück ins Werk gebracht. Ehrlich gesagt, es war schrecklich."

Nach dem Krieg seien sie noch einen Monat in Göttingen geblieben und dann über Tangermünde nach Hause gefahren worden.

In einem späteren Brief schrieb Vera Sch.:

"Deutschland kommt zu mir in meinen Träumen. Es wäre sehr interessant, unsere Fabrik mir mal anzusehen. Die Deutschen haben uns nicht beleidigt, sie wohnten damals selbst sehr bescheiden. Ich würde gern mir die Leute ansehen, mit denen ich gearbeitet habe. Damals waren sie jung, jetzt aber sind sie alte Großmütter. Einige von ihnen haben mir geschrieben, lasst uns treffen. Sie sind für mich wie Verwandte. Wir lebten sehr freundlich miteinander, wie eine Familie. Wir haben gesungen, getanzt, aber hatten immer Hunger. In der Ukraine damals floss auch kein Honig, alle hatten Hunger und froren. Dasn Vieh haben die Deutschen nach Deutschland getrieben. Und danach dann auch uns."


Gruppenfoto der Arbeiterinnen der Konservenfabrik Hillebrand, 16.11.1942 - in der Mitte der Fabrikbesitzer Friedrich Hillebrand


"Ostarbeiterinnen der Konservenfabrik Hillebrand beim Musizieren - ganz links die Dolmetscherin Dusja (in Deutschland hieß sie Almira)


Vera Sch. (rechts) mit einer Freundin, ebenfalls Zwangsarbeiterin bei Hillebrand


Vera Sch. (links) mit einer Freundin, ebenfalls Zwangsarbeiterin bei Hillebrand


Vera Sch. (links) mit zwei Freundinnen - das Foto machte der Göttinger Fotograf Adalbert Blankhorn


Vera Sch. im Jahre 2003


Quellen:

Fragebogen und Briefe Vera Aleksandrowna Sch., geb. 22.5.1922, Eingang 9.9.2002, 25.3.2003, 2.9.2003, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32 - Tollmien, Korrespondenz und Fotos.

 


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