Seit Beginn des Forschungsprojekts am 1. April 2000 wurden insgesamt 240 Akten aus dem Stadtarchiv Göttingen und dem Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover gesichtet, von denen mehr als zwei Drittel direkt oder mittelbar verwertbare In-formationen zum Thema "Zwangsarbeiter in Göttingen" enthielten. Dies ist um so erfreulicher, als sich abzuzeichnen beginnt, daß diese verstreuten Informationen zwar die nicht erhaltenen Bestände des Arbeitsamts, der DAF und der Gestapo Göttingen nicht vollständig ersetzen können, aber doch ein sehr viel umfassenderes Bild von der Zwangsarbeiterbeschäftigung in der Stadt Göttingen vermitteln, als dies ursprünglich erwartet werden konnte. Die Aus-wertung ist allerdings sehr mühsam, da sich in einer 500 Blatt starken Akte manch-mal nur ein Schreiben mit einem dann aber vielleicht entscheidenden Hinweis findet und daher Zusammenhänge fast immer aus mehreren einzelnen Akten Schritt für Schritt rekonstruiert werden müssen. Die systematische Auswertung aller bisher durchforsteten Akten ist daher auch noch nicht abgeschlossen. Als besonders ergiebig erwiesen sich im Stadtarchiv Göttingen die Bestände der Polizeidirektion Göttingen: Denn die Göttinger Ortspolizei arbeitete direkt mit der Gestapo zusammen und sei es auch nur, indem sie die von der Gestapo festgenommenen ZwangsarbeiterInnen zumindest vorübergehend im Göttinger Polizeigefängnis unterbrachte. So fanden sich in einer "Einziehung der durch Reinigung und Transport der Gefangenen entstandenen Kosten" betitelten Akte die Namen von Hunderten von ZwangsarbeiterInnen, für die die Göttinger Polizei der Gestapo die Unterbringungskosten im Gefängnis in Rechnung stellte. Allerdings fehlt bei diesen Listen in allen Fällen die Angabe des Arbeitgebers (nicht alle im Göttinger Gefängnis inhaftierten ZwangsarbeiterInnen waren in Göttingen beschäftigt) und nur in Einzelfällen ist das "Delikt" wie etwa das Nichttragen des vorgeschriebenen Abzeichens (ein P für Polen, OST für sog. Ostarbeiter), "Arbeitsverweigerung", "Arbeitsvertragsbruch", "deutschfeindliche Umtriebe", auch Diebstahl (in der Regel Lebensmitteldiebstahl) oder auch manchmal einfach "Fluchtverdacht" angegeben. Ebenfalls sehr aufschlußreich waren die Akten des Göttinger Stadtbauamtes, da insbesondere die Göttinger Baufirmen, die im Laufe des Krieges zunehmend vor allem von öffentlichen Aufträgen insbesondere im Bereich des Luftschutzes und bei der Beseitigung von "Fliegerschäden" profitierten, in großem Umfang Zwangsarbeiter einsetzten. So fand sich in einer "Fliegerschäden 1950-1951" (!) betitelten Akte eine Liste mit den Namen von 104 Holländern, die im Auftrag der Stadt Göttingen nach dem Luftangriff vom 23. und 24. November 1944 mit Aufräumungsarbeiten beschäftigt waren. Diese Liste war deshalb in dieser Nachkriegsakte enthalten, weil der ausführenden Firma aufgrund des Kriegsendes ihre Auslagen von der Stadt nicht mehr erstattet worden waren und sie diese nun nachträglich einzutreiben versuchte. Aber auch in kleineren, abseitigen Beständen kann man fündig werden: So fand sich eine Akte über die Verhandlungen zwischen Stadt, Universität und der Göttinger Industrie über die "Errichtung von Krankenbaracken für Ausländer" aus mir nicht ganz erfindlichen Gründen - ebenso wie eine Reihe von anderen Akten aus der NS-Zeit - ausgerechnet unter den Handakten des damaligen Stadtkämmerers und Bürgermeisters von Göttingen Franz Claassen. Die Einrichtung von gesonderten Krankenbaracken für Ausländer (darunter auch eine Seuchenbaracke zur Isolierung der vielen Fleckfieberkranken unter den Göttinger ZwangsarbeiterInnen - Fleckfieber war eine typische Lagerkrankheit, die durch Läuse aufgrund mangelnder Hygiene übertragen wurde) war nach dem massenhaften Einsatz von ZwangsarbeiterInnen aus der Sowjetunion ab Februar 1942 notwendig geworden, da die NSDAP nicht mehr bereit war, die Behandlung von kranken ZwangsarbeiterInnen in den Göttinger Kliniken und damit in direktem Kontakt mit "deutschen Volksgenossen" zu dulden. Im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv Hannover waren abgesehen von den Beständen des Landesarbeitsamtes Niedersachsen und denen des Oberpräsidenten von Hannover, die neben allgemeinen Vorschriften auch Göttingen-spezifische Korrespondenz enthalten (so mußten etwa alle fleckfieberkranken ZwangsarbeiterInnen wegen der für Deutsche bestehenden Ansteckungsgefahr wöchentlich dem Oberpräsidenten gemeldet werden) vor allem einzelne Entnazifizierungsakten oder auch die Anklageschriften der Göttinger Staatsanwaltschaft von Interesse. Vor der Göttinger Staatsanwaltschaft wurden sowohl Vergehen von ZwangsarbeiterInnen (etwa sog. Rundfunkverbrechen, soll heißen das Abhören ausländischer Sender, was beispielsweise für einen bei der Phywe beschäftigen jungen Holländer zunächst Gefängnis, anschließend Konzentrationslager und - so lassen die erfolglosen Nachkriegsnachforschungen vermuten - damit wohl den Tod bedeutete) als auch von deutschen Frauen verhandelt, die wegen "verbotenen Umgangs" mit Zwangsarbeitern angeklagt und verurteilt wurden. Ergänzend herangezogen wurde außerdem die Einwohnermeldekartei der Stadt Göttingen, in der - entgegen unserer ursprünglichen Erwartung - zwar nicht alle, aber doch ein erheblicher Teil der Göttinger ZwangsarbeiterInnen zu finden sind. Allerdings sind Ausländer damals leider nicht - wie etwa in Hannover - in einer gesonderten Kartei erfaßt worden, sondern wurden in die allgemeine Kartei einsortiert. Durch die Mithilfe von Mitarbeitern des Göttinger Stadtarchivs bzw. gelegentlich von ehrenamtlichen Helfern konnte aus dem ca. 1200 Kisten umfassenden Gesamtbestand inzwischen zumindest ein kleiner Teil durchgesehen werden. Die inhaltliche Auswertung einzelner Meldekarten von ZwangsarbeiterInnnen, auf der im günstigsten Fall alle Arbeitergeber und die verschiedenen Wohnungen bzw. Lagerunterkünfte angegeben sind, brachte bereits einige sehr interessante, andernorts nicht zu gewinnende Erkenntnisse: So finden sich dort sehr viel mehr Firmen, die ZwangsarbeiterInnen beschäftigt haben, als bisher bekannt. Neben den bereits öffentlich mehrfach genannten Göttinger Rüstungsfirmen wie den Aluminiumwerken, Ruhstrat oder der Phywe vor allem die bereits erwähnten Göttinger Baufirmen (wie beispielsweise die bis heute existierenden Bauunternehmen Hildebrandt und Dawe oder die Holzgroßhandlung Holz-Henkel), aber auch Bäckereien und Fleischereien, Gaststätten und Cafés (nicht nur Cron & Lanz, sondern auch der Ratskeller oder das Hotel zur Krone), die Göttinger Schuhmacher (z.B. Hemer und Langer), das Einzelhandelsunternehmen Edeka ebenso wie das Fuhrunternehmen Uhlendorff, überraschenderweise aber auch so spezielle Fachbetriebe wie das Radiotechnikgeschäft Caspari, der Uhrmacher Wilichowski oder das Fotogeschäft Bieling. Sehr aufschlußreich sind auch die dort verzeichneten Geburten von Kindern von Zwangsarbeiterinnen, vornehmlich Polinnen und sog. Ostarbeiterinnen (eine Reihe von ihnen kam auch aus dem Umland zur Geburt nach Göttingen), die zunächst in der Göttinger Frauenklinik entbanden, nach Einrichtung der oben erwähnten Krankenbaracken für Ausländer aber in einer dieser Baracken. Viele Entbindungen fanden aber auch direkt im Lager statt. Was aus den Kindern im einzelnen wurde, läßt sich nicht immer feststellen. Systematischen Kindermord, wie etwa in den berüchtigten "Ausländerkinderpflegestätten", deren Einrichtung Himmler mit Erlaß vom 27.7.1943 angeordnet hatte, scheint es in Göttingen nicht gegeben zu haben. Doch war die Sterblichkeit der Kinder auch in Göttingen sehr hoch, wie etwa die Tatsache belegt, daß von vier "russischen Gräbern" auf dem Friedhof in Geismar drei Säuglings- oder Kleinkindergräber waren, wobei im übrigen zwei der betroffenen Mütter auf dem Stadtgut in Geismar arbeiteten; eines der Kinder war auch auf dem Gut geboren worden. In den bisher durchgesehenen Kisten der Einwohnermeldekartei sind durchschnittlich jeweils drei bis vier ehemalige ZwangsarbeiterInnen gefunden worden. Dies würde für Göttingen bei 1200 Kisten eine Gesamtzahl von 4500 bis 5000 ZwangsarbeiterInnen erwarten lassen. Doch ergab ein Vergleich mit der dem Stadtarchiv dankenswerter Weise kürzlich von einer Firma übergebenen Ausländerbetriebskartei, daß keineswegs alle der nach dieser Kartei bei dieser Firma beschäftigten ZwangsarbeiterInnen auch dem Einwohnermeldeamt gemeldet wurden. Es scheint sogar so gewesen zu sein, daß die Firma nur die sog. Westarbeiter (also Franzosen, Holländer und Belgier) regulär beim Einwohnermeldeamt registrieren ließ. Aber auch bei diesen ergibt sich keine vollständige Übereinstimmung: Nicht nur, daß sich in der Betriebskartei Namen finden, die nicht in der Einwohnermeldekartei auftauchen, auch umkehrt: In der Einwohnermeldekartei finden sich Namen von "Westarbeitern", die bei der betreffenden Firma gearbeitet haben und dort nicht in die Betriebskartei aufgenommen wurden. Dieses Beispiel zeigt, daß es - trotz der erweiterten Quellenbasis - so gut wie unmöglich sein wird, für Göttingen zu einigermaßen zuverlässigen Gesamtzahlen zu kommen. Selbst in den zeitgenössischen Quellen gehen die Angaben sehr weit auseinander: So findet sich für das erste Vierteljahr 1944 in einer Quelle die Zahl von 3000 "fremdvölkischen Arbeitskräften" für den Stadtkreis Göttingen, während in einer anderen von 6000 "ausländischen Arbeitern in Göttingen" die Rede ist. Um so wichtiger ist es, daß der Forschung vor allem aus den Firmen weiteres Material zur Verfügung gestellt wird. So existiert etwa bei einer anderen ehemaligen Göttinger Rüstungsfirma ebenfalls eine Betriebskassenkartei für "Ausländer" und getrennt eine weitere für "OstarbeiterInnen", die dem Stadtarchiv allerdings leider bisher nicht im Original zur Verfügung steht, sondern lediglich als eine im Rahmen einer von der Firma in Auftrag gegebenen Untersuchung angefertigte Auflistung. Eine solche Untersuchung über die Zwangsarbeiterbeschäftigung im eigenen Unternehmen haben in den letzten Monaten eine Reihe von Göttinger Firmen in Auftrag gegeben. Die Göttinger Geschichtswerkstatt hat dankenswerterweise mit einer kleinen Arbeitsgemeinschaft einen organisatorischen Rahmen geschaffen, in dem die inzwischen existierenden verschiedenen Forschungsaktivitäten zusammengeführt werden, wobei insbesondere die konstruktive Zusammenarbeit mit Günther Siedbürger, der beauftragt wurde, über Zwangsarbeiter im Landkreis Göttingen zu forschen, hervorzuheben ist. Erfolgreich Kontakt aufgenommen wurde außerdem mit dem Archiv in Yad Vashem, Jerusalem, das mir innerhalb von wenigen Tagen Kopien der Göttingen betreffenden Transportlisten aus dem KZ Buchenwald zuschickte. Daher kennen wir inzwischen die Namen der am 3. Februar 1945 in Göttingen eingetroffenen Häftlinge aus dem Konzentrationslager Buchenwald, die für die SS Bauarbeiten an der Kavallerieschule auf dem Lohberg durchführen mußten. Ebenfalls Kontakt aufgenommen wurde mit der russischen Gesellschaft "Memorial", die zwischen 1991 und 1993 Kurzbiografien von ehemaligen Zwangsarbeitern in einer Datei gesammelt hat, die nach Einsatzorten sortiert auch deutschen Forschern zur Verfügung gestellt werden. Außerdem sind inzwischen eine Reihe von Anfragen ehemaliger Göttinger ZwangsarbeiterInnen sowohl im Stadtarchiv als auch beim Versicherungsamt eingegangen, die in fast allen Fällen aufgrund unserer nach wie vor lückenhaften Quellen allerdings negativ beantwortet werden mußten. Um den ehemaligen Göttinger ZwangsarbeiterInnen eventuell dennoch einen Nachweis Ihrer Entschädigungsansprüche zu ermöglichen, habe ich - auf der Grundlage des inzwischen in Kraft getretenen Stiftungsgesetzes - einen ausführlichen Fragebogen entwickelt, der sowohl den von Memorial erfaßten als auch den in Göttingen direkt vorstellig gewordenen ehemaligen ZwangsarbeiterInnen zugesandt werden soll. Wir können den ehemaligen Göttinger ZwangsarbeiterInnen dann eventuell bescheinigen, daß ihre Angaben über ihre in Göttingen geleistete Zwangsarbeit "glaubhaft" sind, was nach dem Stiftungsgesetz unter bestimmten Bedingungen ausreichend für die Begründung eines Entschädigungsanspruches ist. Zusätzlich gewinnen wir durch den Rücklauf dieser Fragebögen Aussagen von Zeitzeugen für unser Forschungsprojekt. Mit den Opferorganisationen anderer Länder (insbesondere Polens) soll demnächst Kontakt aufgenommen werden, um auch hier die Namen ehemaliger Göttinger ZwangsarbeiterInnen in Erfahrung zu bringen. Mit Göttinger Zeitzeugen ist ebenfalls ein kleines Befragungsprojekt angelaufen, das allerdings aus Zeitmangel bisher vergleichsweise stiefmütterlich behandelt werden mußte. Doch konnten bisher immerhin schon zwei Interviews geführt werden; einige weitere Adressen von potentiellen Zeitzeugen sind vorhanden; und es stehen ältere Interviewmitschriften aus einer 1988 von Katrin Prüger verfaßten Examensarbeit zur Verfügung. Um die Zwangsarbeiterbeschäftigung in Göttingen auch bildlich veranschaulichen zu können, habe ich außerdem den gesamten Fotobestand des Städtischen Museums systematisch auf Abbildungen von Personen und Gebäuden (insbesondere von Lagern oder den als Lagern dienenden Gasthäusern) durchgesehen - mit beträchtlichem Erfolg. Einige wenige Fotos wurden mir außerdem von einer Zeitzeugin übergeben, und die dem Stadtarchiv übergebene, bereits erwähnte Betriebsdatei enthält nicht nur Angaben zur Person der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen, sondern auch in fast allen Fällen ein bei "Firmeneintritt" aufgenommenes Paßfotos.
Eine erste Auswertung der Akten ergab, daß man wohl davon ausgehen kann, daß in allen Ämtern der Göttinger Stadtverwaltung und in allen städtischen Betrieben ZwangsarbeiterInnen eingesetzt waren, und zwar sowohl zivile Arbeitskräfte als auch Kriegsgefangene: Sie arbeiteten bei der Müllabfuhr, bei der Kohlenverteilung, im städtischen Gaswerk, für das Bauamt, dort vor allem im Luftschutzbau und bei Aufräumarbeiten nach Luftangriffen, aber auch beim Bau von Behelfsheimen und vereinzelt sogar in der Verwaltung; sie arbeiteten in sog. Be- und Entladekolonnen, die dem städtischen Fahrbereitschaftsleiter unterstanden und nach einem Erlaß der Reichsinnenministers vom 4. Juni 1942 für die beschleunigte Be- und Entladung der Güterzüge zu sorgen hatten; sie arbeiteten für den städtischen Omnibusbetrieb und als Waldarbeiter für das Stadtforstamt; die städtischen Schulen wurden ebenso von Ostarbeiterinnen geputzt wie das städtische Theater, in dem aber beispielsweise ein Zwangsarbeiter auch als Friseur tätig war und ein ursprünglich als Sänger engagierter Holländer, von dem man vielleicht annehmen kann, daß er ursprünglich freiwillig nach Deutschland gekommen war, sich im August 1944 plötzlich in einem Lager in Volpriehausen wiederfand, wo er wahrscheinlich in den Fertigungsanlagen der dortigen unterirdischen Munitionsanstalt Schwerstarbeit verrichten mußte. Erstaunlicherweise scheinen nach jetzigem Kenntnisstand ausgerechnet bei der Friedhofsverwaltung keine Zwangsarbeiter zum Einsatz gekommen sein, obwohl wir aus anderen Städten wissen, daß zum Ausheben der Gräber nicht nur auf städtischen, sondern auch auf kirchlichen Friedhöfen bevorzugt Zwangsarbeiter eingesetzt wurden. Dies bedeutet allerdings nicht, daß sich die Göttinger Friedhofsverwaltung nicht um die Zuweisung von Kriegsgefangenen oder zivilen Zwangsarbeitern bemüht hätte; im Gegenteil, die begehrten ausländischen Arbeitskräfte waren lediglich so knapp, daß der Göttinger Friedhof offenbar nicht bedacht wurde. Auch für die Beschäftigung von Zwangsarbeitern auf dem Schlachthof haben sich bis jetzt in den Akten keine Belege finden lassen, doch ist beim Versicherungsamt die Anfrage einer ehemaligen Zwangsarbeiterin eingegangen, die in einem langen, absolut glaubwürdigen Brief berichtet, daß sie vorübergehend auch auf dem Schlachthof gearbeitet hat. Eine Besonderheit stellten die städtischen landwirtschaftlichen Güter da, die zwar der Stadt gehörten, aber durchweg von Pächtern bewirtschaftet wurden, die damit auch für den Einsatz von "ausländischen Arbeitskräften" verantwortlich waren. Dennoch liefen die Anträge auf die Zuweisung von Zwangsarbeitern zum Teil über das Betriebsamt, und die den städtischen Gütern zugeordneten Zwangsarbeiter wurden bei Bedarf auch für andere Arbeiten ausgeliehen: So arbeiteten die vier polnischen Kriegsgefangenen, die im April 1940 auf dem Stadtgut in Niedernjesa eingesetzt waren, zeitweise auch in den städtischen Kiesgruben und transportierten Koks für die Stadt. Der Zwangsarbeitereinsatz auf den Stadtgütern war quantitativ durchaus erheblich: Auf dem Stadtgut in Rosdorf beispielsweise arbeiteten zwischen 1940 und 1945 neben kriegsgefangene Franzosen über 50 Polen und fast 90 Italiener und auch einige sog. Ostarbeiter. Auf dem Stadtgut in Geismar gab es eine richtige "Polenkaserne", in der so "haarsträubende hygienische Verhältnisse" herrschten, daß im Juli 1941 das Gesundheitsamt einschritt. Von der hohen Säuglings- und Kleinkindersterblichkeit auf dem Geismarer Stadtgut war oben schon die Rede. Genaue, zusammenfassende Angaben über die Zahl der von der Stadtverwaltung eingesetzten zivilen Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangenen zu machen, ist aus vielerlei Gründen so gut wie unmöglich: Einmal waren die von der Stadt eingesetzten Zwangsarbeiter nie dauerhaft dort beschäftigt. Aufgrund des großen Arbeitskräftemangels wurden nicht nur die ständig wiederholten Anträge aller städtischen Ämter auf Zuweisung von Kriegsgefangenen oder zivilen Arbeitern nie in der beantragten Höhe genehmigt, sondern die Stadt mußte darüber hinaus auch damit rechnen, daß ihr gerade zugewiesene Arbeiter von einem Tag zum anderen wieder entzogen wurden, weil sie etwa wie die vier im Sommer 1941 bei der Müllabfuhr eingesetzten Kriegsgefangenen zum Einbringen der Ernte in der Landwirtschaft benötigt wurden. Zum anderen waren viele bei der Kommune eingesetzte Zwangsarbeiter nur "geliehen", d.h. von Privatfirmen, der Wehrmacht oder der Reichsbahn für einige wenige Tage oder auch einmal Wochen zur Überbrückung der größten personellen Notstände zur Verfügung gestellt. Teilweise wurden die Arbeiter auch nur am Sonntag für städtische Arbeiten, etwa im Rahmen von Luftschutzmaßnahmen, eingesetzt, während sie in der Woche in einem privaten Betrieb schufteten. Hinzu kommt die schon erwähnte lückenhafte Überlieferung: So kennen wir beispielsweise für das Forstamt nur die Beträge, die dieses monatlich an das Kriegsgefangenenlager Fallingbostel für die zur Verfügung gestellten Kriegsgefangenen überwies, nicht aber deren Zahl. Für die Jahre 1940 bis 1944 existieren sogar statistische Angaben, über die bei der Stadtverwaltung beschäftigten "Ausländer, Juden und Kriegsgefangenen", doch läßt sich mit Hilfe anderer Quellen zeigen, daß diese jeweils zum 1. Juni des Jahres erhobenen Angaben wirklich nur punktuell den Stand des Stichtages wiedergeben, also beispielsweise die im April oder Mai des Jahres beschäftigten, aber vor dem 1. Juni wieder abgezogenen Arbeiter nicht erfassen. Lediglich so viel läßt sich mit Sicherheit sagen: Die Zwangsarbeiterbeschäftigung bei der Kommune war keineswegs marginal (sie bewegte sich - über alle Kriegsjahre gerechnet und ohne Berücksichtigung der teilweise sehr kurzen Einsatzzeiten - sicher im dreistelligen Bereich), auch wenn sie niemals in der von ihr seinerzeit gewünschten Höhe realisiert werden konnte. So entwickelte Oberbürgermeister Gnade im Mai 1940 Pläne für den Einsatz von 1000 Kriegsgefangenen (die er in zwei Scheunen auf dem Hainholzhof unterbringen wollte) und regte auch ein Jahr später noch einmal an, 500 Kriegsgefangene aus Fallingbostel beim Göttinger Straßenbau einzusetzen. Er mußte sich belehren lassen, daß Straßenbau (zumindest in Göttingen) nicht als kriegswichtig galt. Das Bauamt bekam russische Kriegsgefangene erstmals 1942 für den Bau des Staubeckens im Ebertal zugewiesen (die Zahl fehlt in der Quelle leider wieder). Weiterhin steht fest, daß - wie in vielen anderen Städten auch - auch bei der Göttinger Kommune der Einsatz von Kriegsgefangenen gegenüber dem von zivilen Zwangsarbeitern überwog; außerdem wurden in Göttingen auch vorübergehend im Polizei- oder im Gerichtsgefängnis untergebrachte Gestapohäftlinge - wieder für Luftschutzbauten - eingesetzt. Zu berücksichtigen ist noch ein weiterer wichtiger Punkt: Viele städtische Baumaßnahmen wurden nicht direkt vom städtischen Bauamt ausgeführt, sondern als Fremdaufträge an private Baufirmen vergeben: So arbeiteten etwa die Göttinger Juden (deutsche Juden mußten seit Ende 1938 Zwangsarbeit leisten), die in den Wintern 1940/41 und 1941/42 als Zwangsarbeiter in einer sog. Judenkolonne zur Beseitigung von Hochwasserschäden der Leine am Wehr in der Flüte eingesetzt waren, für die Baufirma August Drege (Inhaber Heinrich Drege). Doch der offizielle Bauherr war der "Oberbürgermeister der Stadt Göttingen". Die Stadt stellte daher auch den vorgeschriebenen Antrag auf Genehmigung des Bauprojekts und bemühte sich bereits einen Tag nach der Deportation der Göttinger Juden am 26. März 1942 (allerdings erfolglos) um Ersatz durch russische Kriegsgefangene. Auch die schon erwähnten 104 Holländer, die vom 23. November bis zum 3. Dezember 1944 in Göttingen Aufräumungsarbeiten durchführen mußten, arbeiteten - obwohl vom Göttinger Bauamt angefordert und eingesetzt - für eine Privatfirma, in diesem Fall der Hannoverschen Hoch- und Tiefbaugesellschaft Fritz Schuppert, da nach Bombenangriffen - abhängig nur vom jeweiligen Einsatzpotential - auch auswärtige Firmen hinzugezogen wurden. Zahlenmäßig zuverlässige Angaben lassen sich also nicht insgesamt, sondern - wenn überhaupt - nur konkret, bezogen jeweils auf einzelne Arbeitseinsätze machen. Ich verweise diesbezüglich auf meinen noch zu erstellenden, ausführlichen Abschlußbericht. Noch schwieriger als Zahlen zu nennen, ist es, einzelne (zivile ausländische) ZwangsarbeiterInnen auch namentlich festzumachen. Bisher ist dies für die Stadtverwaltung nur in 36 Fällen gelungen; weitere Namen werden sicherlich noch bei der weiteren Auswertung der Einwohnermeldekartei auftauchen, in der bisher immerhin schon sieben bei der Kommune beschäftigte ZwangsarbeiterInnen ausfindig gemacht werden konnten. Nicht berücksichtigt in dieser Zahl sind die oben genannten Göttinger Juden und die ebenfalls namentlich bekannten 104 Holländer, außerdem auch nicht die auf dem Stadtgut Geismar beschäftigten ZwangsarbeiterInnen, die aufgrund einer bisher noch nicht ausgewerteten Ausländerliste der ehemals selbständigen Gemeinde Geismar wahrscheinlich alle namentlich bekannt sind. Bei den Kriegsgefangenen, die für die Stadt arbeiteten, war in keinem Fall ein Name angegeben (lediglich in den Friedhofslisten tauchen auch Namen von Kriegsgefangenen auf, doch dort findet sich kein Arbeitgeber), in vielen Fällen fehlt auch die Angabe der Nationalität. Die Stadt war jedoch nicht nur direkt als Arbeitgeberin, sondern darüber hinaus auf vielfältige andere Weise in die gesamte Zwangsarbeiterbeschäftigung in Göttingen eingebunden. Sie stellte sozusagen den organisatorischen Unterbau und leistete sowohl industriellen Trägern als auch staatlichen Institutionen mannigfache Unterstützung: So waren etwa die beiden größten von der Göttinger Industrie genutzten Zwangsarbeiterlager - das Ostarbeiterlager auf dem Schützenplatz und das Lager für westliche Zivilarbeiter und Kriegsgefangene auf der Eiswiese - auf städtischen Grundstücken errichtet worden (nach den mir bisher vorliegenden Unterlagen ist im übrigen nicht erkennbar, daß die Göttinger Industrie für diese Grundstücke Pacht an die Stadt gezahlt hätte, d.h. diese Grundstücke wurden ev. sogar kostenlos überlassen). Die Stadt war über ihr Ernährungsamt für die Versorgung der ZwangsarbeiterInnen zuständig, und sie war selbstverständlich auch mit deren Erfassung und Kontrolle betraut. So wurden beispielsweise die Polenabzeichen ebenso über die Göttinger Ortspolizei bestellt und ausgeliefert wie die vom Arbeitsamt ausgestellten Arbeitskarten an die einzelnen Industriebetriebe verteilt. Auch die Überwachung und Kontrolle der Lager wurde gemeinsam von Ortspolizei und städtischem Gesundheitsamt durchgeführt; von der selbstverständlichen Zusammenarbeit mit der Gestapo, die nicht nur das Polizeigefängnis nutzte, sondern auch die Ortspolizei in ihre Ermittlungsarbeit einspannte, war schon die Rede. Darüber hinaus unterhielt die Stadt Göttingen seit Sommer 1940 sogar ein eigenes Kriegsgefangenenlager: Sie mietete dafür den Saal im sog. Gasthaus Sültebeck, das zum ehemaligen Gewerkschaftsbesitz im Maschmühlenweg gehörte. Seit Mai 1933 hatte die nationalsozialistische Südhannoversche Tageszeitung (ehemals Göttinger Nachrichten) die ebenfalls zu diesem Besitz gehörende ehemalige sozialdemokratische Zeitungsdruckerei und die dazugehörigen Büroräume im Volksheim okkupiert und trat nun gegenüber der Stadt auch für das Restaurant als Vermieterin auf. Das Lager, das für 250 Gefangene ausgelegt war und erstmals am 20. September 1940 mit etwa 120 Kriegsgefangenen belegt wurde, wurde von der Reichsbahn und den Göttinger Industriebetrieben (wie beispielsweise den Aluminiumwerken, Sartorius, der Phywe und den Göttinger Kohlenhändlern), also nicht in erster Linie von der Stadt selbst genutzt, die nach vielen vergeblichen Anträgen erst im März 1941 erstmals 15 Kriegsgefangene ins Lager Sültebeck für das Gaswerk zugewiesen bekam. Die Zustände in diesem Lager, in dem zunächst Tschechen, dann wohl vor allem Franzosen, aber auch Belgier und Polen untergebracht waren, müssen selbst für damalige Verhältnisse extrem schlecht gewesen sein: Schon im Mai 1941 klagten die Gefangenen nicht nur über schlechtes Essen, sondern auch darüber, daß sich die Wachmannschaften (die Stadt stellte seit Mai 1941 pensionierte Polizeibeamte als Hilfswachleute) einen Spaß daraus machten, die Gefangenen nachts aufstehen und exerzieren zu lassen. Auch ein Jahr später beschwerten sich im Lager Sültebeck untergebrachte Franzosen wieder über nicht ausreichendes Essen (die Essenszulage für Schwerarbeiter werde nicht an die Gefangenen weitergegeben), über mangelnde Waschgelegenheiten und fehlende Krankenversorgung, und auch der bauliche Zustand des Lagers gab seitens der Kontrolloffiziere so häufig Anlaß zu Beschwerden, daß Oberbürgermeister Gnade am Rande eines entsprechenden Schreibens notierte: "Ich hoffe, dass wir keine Verantwortung für das Kriegsgefangenenlager tragen" - dies war allerdings wohl kaum ein Ausdruck seiner Besorgnis um das Wohlergehen der im Gasthaus Sültebeck untergebrachten Kriegsgefangenen, sondern entsprang lediglich seiner Sorge um die auf die Stadt zukommenden Kosten.
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