Viktor Iwanowitsch S., geb. 4.7.1925, im April 1942 deportiert (Reichsbahn)


Skizze des Lagers Schützenplatz und des Reichsbahnausbesserungswerks, angefertigt von Viktor Iwanowitsch S. im Oktober 2000

Viktor Iwanowitsch schrieb dazu einen Brief, der sich an den Fragen des Fragebogens orientierte:

"Im April 1942 (an das genaue Datum erinnere ich mich nicht) wurde ich aus Charkow nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt. Auf Befehl des deutschen Kommandanten der Stadt Charkow hatten sich alle Männer ab dem Alter von 16 Jahren und älter beim Arbeitsamt registrieren lassen müssen. Nach dem Eintragen in die Liste bin ich in ein anderes Zimmer geschickt worden. Dort waren drei Männer: einer von ihnen war Zivilist, die anderen beiden waren Polizisten. Der Zivilist hat meine Papiere durchgesehen und gefragt, bei wem ich jetzt wohne. Ich habe seine Fragen beantwortet. Dann hat er gesagt, ich müsse morgen zum Güterbahnhof kommen und nach Deutschland fahren. Und wenn ich nicht kommen würde, würde nicht nur ich selbst, sondern auch meine ganze Familie nach Deutschland verschleppt.
Wir wurden in einem Güterwagen unter Militärbewachung bis zur Station Peremyschl gefahren. Dort wurden wir ausgeladen und in das Jüdische Ghetto gebracht, bis die Wagen gewechselt waren (weil die Spurbreite der Eisenbahn in Russland breiter ist). Dann wurden wir in andere Wagen geladen und nach Frankfurt-am-Main gebracht, wo ein Durchgangslager war. Nach einigen Tagen wurden 50 bis 60 Männer ausgewählt und nach Göttingen in das Reichsbahnausbesserungswerk ("Dampflokomotivreparaturwerk") gefahren.
Zuerst waren wir in der Umgebung der Stadt einquartiert - im Dorf Geismar, in einem zweistöckigen Haus, das mit Stacheldraht eingezäunt war. [Das Lager ließ sich nicht eindeutig identifizieren. - C.T.] Zur Arbeit wurden wir durch die ganze Stadt in Begleitung von zwei Soldaten und einem Hund immer hin und her geführt. In Geismar haben wir uns einige Monate aufgehalten, danach wurden wir in ein in der Nähe des Arbeitsplatzes gebautes, großes hölzernes Lager für Russen - Schützenplatz - einquartiert. In dem Lager für Männer wohnten ungefähr 250-300 Männer. Wieviele Frauen im Frauenlager waren, weiß ich nicht.
Im Reichsbahnausbesserungswerk habe ich von April 1942 bis Ende April 1945 in der Drehabteilung gearbeitet. Zunächst habe ich geputzt und die Metallabfälle weggefahren, zusammen mit einem deutschen Mann namens Willi. Dann wurde ich als selbständiger Dreher eingestellt. Mein Vorgesetzter war ein älterer Deutscher, Herr Grube [August Grube - Wagenmeister bei der Reichsbahn, Göttinger Adressbuch 1939]. Ich habe in 2 und in 3 Schichten gearbeitet.
Die Baracke [im Lager Schützenplatz] war in Stuben eingeteilt. In jeder Stube wohnten 18-20 Männer, in jeder Baracke gab es 2-3 Stuben. [...]
Am 1. Januar 1945 am Mittag sind Bomben auf den Güterbahnhof gefallen. Einige Bomben haben unser Lager getroffen; viele Menschen wurden getötet [...] und verletzt. Wo sie begraben sind, weiß ich nicht.
Zu Essen gab es Folgendes:
Morgens: Kaffee (Ersatz natürlich)
Mittags: Kohlrübensuppe
Abends: ein Brot für 4 Männer (200 gr), 15 gr. Margarine und Ersatzkaffee.
Es gab keinen Essraum, wir haben im Freien gegessen.
Die deutschen Arbeiter haben sich uns gegenüber nicht schlecht benommen (und das kann man nicht über die Polizisten [Wachmannschaften] sagen).
Im Jahre 1944 wurde das Leben etwas leichter: Wir haben die Erlaubnis bekommen, ohne Bewachung zur Arbeit zu gehen. Wir haben auf den linken Ärmel das Zeichen "OST" - 8x8 cm - nähen müssen.
Eines Tages wurde auf die Stadt eine Bombe - Luftmine - geworfen. Viele Häuser wurden zerstört. Wir haben bei den Rettungsarbeiten geholfen.
Wir haben kein Geld bekommen. Und für Geld konnte man bei den Polen Brot und Zigaretten kaufen. Zigaretten haben wir bekommen ( 1 Packung pro Monat).
Es gab keinen Kranken im Lager, zum Glück, einen Arzt hatten wir auch keinen.
Wir konnten uns auch duschen, dort gab es auch warmes Wasser.
Im Jahre 1945 wurden wir von den Amerikanern befreit. Danach haben wir noch ½ Monat in demselben Lager gelebt. Die Amerikaner haben uns viele Lebensmittel gegeben und wir haben viel zu viel gegessen. Dann wurden wir in ein anderes Lager transportiert und weiter mit der Eisenbahn zur Elbe gefahren und dort der Sowjetarmee übergeben. Dort haben wir sehr strenge Kontrollmaßnahmen über uns ergehen lassen müssen. Danach wurden wir in den "Bautruppen" gesammelt und zur Arbeit nach Donbasheje (Donbass??) geschickt. 5 Jahre bin ich im Militärdienst gewesen und danach erst in meine Heimatstadt Charkow zurückgekommen. Danach habe ich weiter als Dreher in verschiedenen Betrieben gearbeitet. [...] In der Schmiedeabteilung arbeitete ein junges russisches Fräulein auf dem Schmiedewerk Nr. 1 (ihren Namen habe ich vergessen) In der Abteilung, in der ich gearbeitet habe, arbeiteten auch noch folgende ausländische Arbeiter: 2 französische Kriegsgefangene, 2 Holländer und ein Tscheche."


Quelle:

Fragebogen Viktor Iwanowitsch S., geb. 4.7.1925, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32 - Tollmien, Korrespondenz.

 


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