Lager Schützenplatz: "Ostarbeiterlager"
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Die Planungen für das Lager Schützenplatz begannen im Juni 1942, nachdem verfügt worden war, dass größere Barackenlager für Zwangsarbeiter künftig nicht mehr in unmittelbarer Nähe von Rüstungsbetrieben eingerichtet werden dürften, da die bereits erfolgten Bombenangriffe gezeigt hätten, dass Brandbomben, die auf ein Holzbarackenlager fielen, durch ihre Fackelwirkung eine unmittelbare Gefährdung der Produktion bedeuteten. Lediglich kleinere Lager, die nur aus wenigen Barcken bestanden, durften weiter in unmittelbarer Nähe von Rüstungsbetrieben auf dem Werksgelände eingerichtet werden. Auch die Göttinger Rüstungsbetriebe waren daher gezwungen, ihre diesbezüglichen Planungen zu modifizieren und - so sie bereits Baracken auf dem Firmengelände errichtet oder gar belegt hatten - die dort untergebrachten Arbeiter in eins der beiden in Göttingen geplanten Gemeinschaftslager umsiedeln. Eine erste Besprechung zur Standortwahl fand am 11. Juni 1942 im Göttinger Rathaus statt. Daran nahmen neben der hannoverschen Abteilung Rüstungsbau beim Reichsministerium für Bewaffnung und Munition, den überregionalen und örtlichen Vertretern des Luftschutzes, der Rüstungsinspektion und des Stadtbauamtes das Reichsbahnausbesserungswerk und die Göttinger Rüstungsfirmen Schneider & Co, Aluminiumwerke, Ruhstrat, Winkel und die Phywe teil. Beschlossen wurden je ein Lager auf dem Schützenplatz und auf der Eiswiese zu errichten, und Ruhstrat die Genehmigung für die Einrichtung des Lagers Tonkuhle zu erteilen. Das Lager Schützenplatz wurde für eine Belegung von 800 bis 1000 Mann geplant. Projektierung und Bau des Lagers wurde von der hannoverschen Abteilung Rüstungsbau des Reichsministeriums für Bewaffnung und Munition übernommen, die zu diesem Zweck sogar einen Architekten engagierten. Auch in den ersten Monaten des Bestehens des Lagers, das im Oktober 1942 erstmals belegt war, scheint die hannoversche Außerstelle Rüstungsbau im Ministerium Speer zunächst weiter für Betrieb und Kosten des Lagers Schützenplatz zuständig gewesen zu sein. Erst im Dezember 1942 ging die Verantwortung für das Lager an einen Zusammenschluss aller Göttinger Rüstungsbetriebe über, der zum Zweck der Unterbringung und Versorung der Zwangarbeiter gegründet unter dem Namen Küchenvereinigung e.V. firmierte. Das Lager Schützenplatz, das ein reines "Ostarbeiterlager" war, wurde im Laufe der Jahre mehrfach erweitert, wobei aus den Akten nicht ganz klar wird, ob wirklich alle Planungen immer realisiert wurden: Geteilt in ein Frauen- und in ein Männerlager bestand es insgesamt wohl aus mindestens zehn, wahrscheinlich aber bis zu zwanzig Holzbaracken mit im August 1944 fast 1000 Insassen; es gab eine Waschbaracke und ein Gebäude für die "Ordnungswachen". Es umfasste eine Fläche von 24100 Quadratmetern. Das Lager war mit Stacheldraht umzäunt und wurde auch von Hunden bewacht. Nach zwei Lagerstatistiken vom August und September 1944 war das Lager im August 1944 offiziell mit 950 Insassen belegt, nach einer Angabe vom September 1944 waren darin 475 Männer und 449 Frauen (insgesamt also 924 Menschen) untergebracht. Die Gesamtzahl der Zwangsarbeiter, die das Lager Schützenplatz durchlaufen haben, ist nicht ermittelbar, doch wissen wir, dass die Küchenvereinigung im November 1942 zunächst für etwas über 1100 und kurz vor Ende des Krieges, am 2. April 1945, dann für insgesamt 2800 Zwangsarbeiter zuständig war. Diese Zahl umfasst mindestens die Lager Schützenplatz und Eiswiese, ev. aber auch noch Zwangsarbeiter, die von den Rüstungsfirmen andernorts untergebracht waren. Das Lager wurde von allen Göttinger Rüstungsfirmen und auch von vielen mittelständischen Betrieben genutzt. Auch die Reichsbahn brachte "Ostarbeiterinnen" im Lager Schützenplatz unter und auch die Großwäscherei Schneeweiß, die eigentlich ein betriebseigenes Lager unterhielt, überwies einige ihrer Arbeiterinnen in das Lager Schützenplatz. Einem Schreiben der deutschen Arbeitsfront vom 14.1.1943 an die Ehefrau des Geschäftsführers von Spindler & Hoyer kann man entnehmen, dass die hauswirtschaftlichen "Ostarbeiterinnen" in ihrer Freizeit die im Lager Schützenplatz im Stopfen und Flicken unterwiesen werden und auch ein paar Worte Deutsch lernen sollten, um den deutschen Hausfrauen wirklich von Nutzen sein zu können. Nachdem schwangere Zwangsarbeiterinnen seit Ende 1942 nicht mehr automatisch in die Heimat zurückgeschickt wurden, reagierte die zuständigen NS-Instanzen auf den dadurch bedingten Anstieg von Geburten unter anderem mit der Weisung, dass auch schwangere Zwangsarbeiterinnen auf dem Land nicht mehr auf den Bauernhöfen, sondern in neu zu schaffenden zentralen Entbindungseinrichtungen entbinden sollten. Das Lager Schützenplatz fungierte vorrübergehend als eine dieser Entbindungseinrichtungen: Nachdem seit Ende Februar 1943 schon einzelne "Ostarbeiterinnen", die im Lager Schützenplatz "wohnten", dort auch entbunden hatten, fand am 24. März 1943 die erste Geburt eine Polin aus dem Landkreis im Lager statt. Seit September 1943 war auch die Krankenbaracke am Ludendorffring für Entbindungen eingerichtet worden. Dennoch kamen auch externe Zwangsarbeiterinnen noch zu diesem Zeitpunkt im Lager Schützenplatz nieder: Insgesamt sechs Polinnen und 13 Ostarbeiterinnen entbanden im Lager Schützenplatz. Die letzten Geburten fanden dort im Januar 1944 statt (mit einer auffällige Häufung von 8 Geburten allein in diesem Monat, was wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass die Krankenbaracke einfach überbelegt war). Ab der zweiten Hälfte des Januar 1944 entbanden alle Polinnen und "Ostarbeiterinnen" in der Krankenbaracke: "Ein Kind wurde geboren. Es lebte mit den anderen zusammen im Lager, im gemeinsamen Zimmer", schrieb eine der Zwangsarbeiterinnen der Phywe in ihren Erinnerungen. Die meisten der im Schützenplatz geborenen Kinder verließen das Lager allerdings bald nach der Geburt wieder und gingen entweder an ihren alten Arbeitsplatz oder in das Kleinkinderlager bei Schneeweiß. Das Lager diente im Übrigen auch als Sammellager für "Ostarbeiter", die dort nur kurzzeitig direkt nach ihrer Ankunft vor der Verteilung auf die jeweiligen Arbeitsstätten untergebracht waren, und - nach dem Einmarsch der Amerikaner am 8.4.1945 - dann wieder, um dort die Zwangsarbeiter aus den vielen kleinen und Kleinstlagern bei den einzelnen Betrieben vor ihrer Rückkehr in die Heimat zu konzentrieren. Am 1. Januar 1945, als die ZwangsarbeiterInnen gerade in ihren Baracken beim Mittagessen saßen, wurde das Lager Schützenplatz bombardiert. 39 ZwangsarbeiterInnen kamen bei diesem Bombenangriff ums Leben. Nach dem Krieg wurde die Baracken des Lagers Schützenplatz noch bis mindestens 1954 als Wohnbaracken unter anderem für ledige Reichsbahnarbeiter genutzt. |
Ausschnitt aus einem Stadtplan von 1939 mit dem Schützenplatz; gut zu erkennen das Schützenhaus.
Postkarte einer im Lager Schützenplatz untergebrachten Zwangsarbeiterin mit dem Absenderstempel "Gemeinschaftslager Schützenplatz" (Datum des Poststempels 17.9.1943). Text der Postkarte
Luftbild des Lagers Schützenplatz mit den Bombentrichtern nach dem Angriff vom 1.1.1945 (Städtisches Museum Göttingen)
Die ehemalige "Ostarbeiterin" Jelena Kijan vor einem Luftbild des zerstörten Lagers Schützenplatz. (Foto C. Tollmien 2003) |
Quellen und Literatur:
Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 49, Stadtarchiv Göttingen, passim; OB 15.4.1943, ebd. Nr. 54, o.P.; erste Planungen Schützenplatz und Eiswiese Juni 1942, ebd. Bauamt Abt. I Fach 1 Nr. 26 Bd. 2, o.P.; Lager Schützenplatz, ebd., Amt für Wohnungswesen Nr. 24 (AZ 6210/5); Handschriftliche Statistik vom 16.11.1942-31.12.1945, ebd. Ernährungsamt Nr. 50, o.P.; Statistiken August/September 1944, ebd. Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 541f. , Bl. 544-547; Lagerliste 12.7.1945, ebd. Bauamt Abt. I Fach 2 Nr. 35; Lagerliste vom 15.5.1945, ebd., AHR I A Fach 48 Nr. 3, Bl. 123; Lageraufnahme Belgischer Suchdienst 1949, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv, Film 3, Nr. 1467.
Sterbebücher 1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.
Briefwechsel mit der Bürgerschützengesellschaft, Besprechungen zur Einrichtung des Lagers Schützenplatz 1942-1944, Stadtarchiv Göttingen, Amt für Wohnungswesen Nr. 294 (insb. die Schreiben vom 17.6.1942, 11.6.1942, 25.6.1942,3.7.1942, 31.5.1943, 19.3.1943, in der Reihenfolge der Ablage o.P.).
Verschiedene Zeitzeugenaussagen ehemaliger "OstarbeiterInnen", Foto Jelena Kijan, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien (speziell Fragebogen Maria Jemeljanowa L., geb. 11.2.1926, o.D., Eingang 10.11.2000).
Cordula Tollmien, Slawko, Stanislaw und France-Marie. Das Mütter- und Kinderlager bei der Großwäscherei Schneeweiß in Göttingen 1944/45, in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankfurt/M./New York 2004, S. 363-388.
Geburtenbücher 1939-1945, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.