NS-Zwangsarbeit: Physikalische Werkstätten AG (PHYWE AG), Göttingen, Grone, Salinenweg 2

Die Physikalischen Werkstätten wurden 1913 von Dr. Gotthelf Leimbach (1883-1957) als "Forschungs-GmbH zur Erforschung des Erdinnern" mit nur zwei Mitarbeitern gegründet. Ursprüngliches Ziel war, für den deutschen Berg- und Schachtbau geophysikalischer Geräte zu entwickeln und zu erforschen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges hatte der Betrieb bereits 20 Mitarbeiter und 1916 wurde die Firma aus der Baurat-Gerber-Straße 15, wo die Räume zu klein geworden waren, in den Hainholzweg 46 verlegt. Durch die Ausdehnung des Forschungsprogramm auf kriegswichtige Arbeiten und die ersten größeren Exporte physikalischer Lehrmittel wuchs die Firma weiter, so dass schließlich sogar in drei Schichten gearbeitet werden musste. 1918 wurde der Name in "Physikalische Werkstätten zur Erforschung des Erdinnern GmbH" geändert, 1920 die Erdforschungsabteilung abgetrennt und als ERDA GmbH selbständig weitergeführt und im gleichen Jahr die "Physikalischen Werkstätten" in eine AG umgewandelt, die seit 1921 unter der bis 1987 unter der auch optisch unveränderten Marke "Phywe" firmiert. Nach der Inflation, die die Phywe unbeschadet überstanden hatte, wurde ein Gelände in Göttingen Grone am Salinenweg gekauft und dort das Werk in den folgenden Jahren kontinuierlich ausgebaut. 1925 hatte die Firma mehr als 400 Mitarbeiter. Bei Kriegsausbruch war die Phywe noch nicht auf Rüstungsproduktion eingestellt. So wurde 1940 ein Teil der Mobilarherstellung in ein Straßburer Werk verlagert, das zunächst die Ausstattung des chemischen Instituts der Reichsuniversität Straßburg übertragen bekam. Dieses Zweigwerk diente dann in den folgenden Jahren durch die Angliederung von feinmechanischen Werkstätten in erster Linie dem Bau von meteorologischen Geräten. 1941 mussten die Abteilung Biologie von Göttingen nach Lahr im Schwarzwald ausgelagert werden, um in Göttingen Platz für kriegswichtige Fertigungen zu schaffen. In Lahr wurden dann in erster Linie Lehrgerätesätze der Luftwaffe hergestellt, die der vormilitärischen Ausbildunten dienten und als "Vomi Gerätesätze" in die Grundlagen der Elektrizitätslehre einwiesen. 1942 wurde eine stillgelegte Lederfabrik in Neumarkt Schlesien aufgekauft und dort ein Holzbearbeitungswerk aufgebaut, das den weiter gestiegenen Bedarf an Laboratoriumsmöbeln und Vomi-Kästen decken sollte. Im gleichen Jahr begann der Ausbau einer ehemaligen Porzellanfabrik in Elgersburg zu einem Glasbearbeitungswerg zur Herstellung von Laborgeräten.

Im Hauptwerk wurden Nachrichtensysteme und elektrische Fernsteuerungen produziert. Die Gesamtbelegschaft, die vor dem Krieg bei 280 Mitarbeitern gelegen hatte, umfasste im Februar 1944 594 Personen und Ende 1944 dann 718. Einschließlich der verlagerten Betriebe stieg die Mitarbeiterzahl kurzfristig sogar auf insgesamt 1400.

Im Herbst 1944 musste das Werk Straßburg nach Northeim verlagert werden, wo es unter dem Namen "Rhume Werkstätten GmbH" weiterarbeitete. Doch kurz nach Kriegsende wurde das Werk von Italienern besetzt, die die gesamte Einrichtung verheizten. Im Januar 1945 hatte das Werk in Neumarkt so schnell geräumt werden müssen, dass nur ein Teil der Buchhaltungsunterlagen hatte gerettet werden können, und Ende 1945 erzwang die französische Besatzungsbehörde dann auch die Räumung des Werks in Lahr. Die Abteilung Biologie zog nach Ringsheim und kam erst 1949 wieder nach Göttingen; die Bestände an VOMI Geräten wurden nach Elgersburg in Thüringen verlagert, von wo vor der 1948 durchgeführten Enteignung nur noch einige wenige Maschinen hatten nach Göttingen geholt werden können.

Auch das Hauptwerk in Göttingen nahm durch die Kriegseinwirkungen schweren Schaden: Der Luftangriff auf Göttingen am 1. Januar 1945, der auch das Lager Schützenplatz traf und vielen Zwangsarbeitern das Leben kostete, zerstörte auch die Phywe. Die abgeworfenen Phosphorbomben hatten zu Folge, dass das Werk mit allen Vorräten, Zeichnungen, Kalkulationsunterlagen und Einrichtungen praktisch restlos ausbrannte. Aufgrund des Einsatzes der gesamten Belegschaft - einschließlich der bei der Phywe arbeitenden "Ostarbeiterinnen" und französischen Kriegsgefangenen konnte die Arbeit in den unzerstörten Räumen bereits am 3. Janaur 1945 wieder aufgenommen werden. Insgesamt waren die Kriegs- und Nachkriegsschäden in der Phywe mehr als zwölffach so hoch wie das Aktienkapital der Firma.

Einen Tag nach der Besetzung Göttingens durch amerikanische Truppen am 8. April 1945 begann die Phywe mit der Fertigung von Haus- und Küchengeräten und Kinderspielzeug. 1950 begann dann der systematische Wiederaufbau mithilfe eines großzügigen Niedersachsenkredits. 1953 hatte die Phywe dann bereits wieder 600 Mitarbeiter. 1987 musste das auf die Herstellung von Unterrichtsapparaturen und - materialien spezialisierte Unternehmen Konkurs anmelden und wurde als Phywe Systeme GmbH neu gegründet. Heute gehört die Firma zur Firmengruppe Lucas-Nülle aus Kerpen-Sindorf.

Ausländische Arbeiter / Zwangsarbeiter bei der Phywe:

  • Schon im April 1939 sind vereinzelt tschechische Arbeiter bei der Phywe nachweisbar.
  • Im August 1940 stellte die Phywe einen Antrag auf die Zuweisung von französischen Kriegsgefangenen aus dem Lager Sültebeck. Wann genau die Zuweisung erfolgte, lässt sich den Akten nicht entnehmen, doch arbeiteten mindestens schon im Februar 1941 27 französische Kriegsgefangene bei der Phywe, die zu diesem Zeitpunkt aus dem Lager Sültebeck, das überfüllt war, in ein Lager in Geismar, wahrscheinlich in das Gasthaus Zur Linde verlegt wurden. Spätestens im September 1943 waren französische Kriegsgefangene der Phywe auch in einer eigenen Baracke auf dem Firmengelände untergebracht. Wie wir dem abgebildeten Geschäftsbericht entnehmen können, arbeiteten französische Kriegsgefangene in nicht bekannter Zahl bis Kriegsende bei der Phywe. Auch von der Möglichkeit der Transformation, d.h. die "freiwillige" Überführung in den Zivilarbeiterstatus, machten einige der französischen Kriegsgefangenen bei der Phywe Gebrauch.
  • Französische Zivilarbeiter, die nicht zuvor Kriegsgefangene gewesen waren, sind nur ganz vereinzelt bei der Phywe nachweisbar.
  • "Ostarbeiterinnen" kamen ab Sommer 1942 zur Phywe. Sie arbeiteten getrennt von den deutschen Arbeitern in extra zu diesem Zweck errichteten Baracken. Siehe dazu die Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen bei der Phywe. Männliche "Ostarbeiter" arbeiteten nicht bei der Phywe.
  • Im Dezember 1943 wurden zwei Flamen und zwei Holländer im Zusammenhang mit einer Verhaftung wegen sog. Rundfunkverbrechen bei der Phywe aktenkundig. Also waren auch Flamen (ein weiterer war ab Mai 1943 als Zeichner bei der Phywe beschäftigt) und Holländer, spätestens seit Juni 1943, bei der Phywe beschäftigt. Sie waren privat untergebracht. Auch einzelnen Holländerinnen sind seit Ende 1944 in der Phywe nachweisbar.

    Nach einer offiziellen Beschäftigungsmeldung bestand die Belegschaft der Phywe Ende 1944 aus 182 deutschen Männern und 403 deutschen Frauen, 55 Ostarbeiterinnen (keine Männer), 20 männliche und 15 weibliche zivile Ausländer (bei den Männern wahrscheinlich vor allem Franzosen) und 43 Sonstige (französische Kriegsgefangene).

    Unterbringung:

  • Die Phywe unterhielt zwei Kriegsgefangenenlager für französische Kriegsgefangene: eins in einem Tanzsaal einer Gaststätte in Geismar (wahrscheinlich Gasthaus Zur Linde) spätestens seit Mai 1941 und eine eigene Baracke auf dem Firmengelände, die sicher vor dem September 1943 errichtet worden war.
  • Die französischen Zivilarbeiter der Phywe waren im Lager Eiswiese oder vereinzelt auch prviat untergebracht.
  • Die Ostarbeiterinnen der Phywe waren zunächst in einer firmeneigenen Baracke auf dem Betriebsgelände und nach der Fertigstellung des Lagers Schützenplatz dort untergebracht.
  • Dr. Gotthelf Leimbach (1883-1957) um 1953. Leimbach war nicht Mitglied der NSDAP und auch keiner anderen NS-Organisation; er wurde in seinem Entnazifizierungsverfahren als unbelastet eingestuft.

     


    Aus dem Geschäftsbericht der Phywe für 1945


    Literatur und Quellen:

    Gotthelf Leimbach, 40 Jahre im Dienst von Unterricht und Forschung, in: Phywe-Nachrichten 17 (1953) 2, S. 35-40.

    Geschäftsbericht über die Geschäftsjahre 1944 und 1945 der PHYWE Aktiengesellschaft Göttingen, Göttingen 1946.

    Baranowski, Frank, Geheime Rüstungsprojekte in Südniedersachsen und Thüringen während der NS-Zeit, Duderstadt 1995, S. 42, S. 97.

    Entnazifizierungsakten, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Nds. 171 Hildesheim Nr. 30427 und Nr. 33428.

    Lageraufnahme Belgischer Suchdienst 1949, Lager Tanzsaal Geismar und Lager Grone I, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Film 3, Nr. 1446 und Nr. 1477.

    Aktennotiz 7.8.1940, Aufstellung 23.8.1940, Aktennotizen 24.8.1940, 28.8.1940 Ratssitzung 4.9.1940, Aktennotizen 16.10.1940, 13.2.1941, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 48, o. P.

    Gnade an Reichsbankstelle 10.5.1941, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 52, o. P.

    Beschäftigungsmeldung 31.12.1944, Mitteilung von Günther Siedbürger, 26.2.2002 (Originalquelle in R 12I/102 (Reichsgruppe Industrie), Bundesarchiv Berlin Lichterfelde.

    Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.

    Register Fremdenpässe angefangen 4.2.1942 (53/1944), Stadtarchiv Göttingen Acc. Nr. 1047/1991 Nr. 258 (Ordnungsamt).

     


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