Erinnerungen ehemaligen "Ostarbeiter" an die Zwangsarbeit in der Papierfabrik Rube & Co, Weende

Martyn Lawrentjewitsch O., geboren am 5. September 1926, wurde im Mai 1942 aus Weißrussland nach Deutschland deportiert und leistete zunächst Zwangsarbeit bei einem Bauern in Wöllmarshausen. Bei Rube arbeitete er insgesamt drei Jahre. Er stand an einer Werkzeugmaschine, die Papier aufwickelte und musste die schweren Papierrollen (bis 40 kg) abnehmen. Die Firma habe Einwickelpapier für Butter, Margarine und Käse produziert. Entlohnt habe man ihn mit 3,- RM im Monat. Untergebracht sei er im Lager Schützenplatz gewesen. Zu essen habe es nur einmal am Tag eine Zuckerrübensuppe, 200 gr Brot und 20 gr. Margarine gegeben. Er habe die ganze Zeit gehungert. Ein Arbeitskollege habe ihn ein paar mal mit nach Hause genommen, dort habe er für ihn gearbeitet und dafür etwas zu Essen bekommen.

Sein Freund Nikolaj Petrowitsch Sawtschantschik, geb. 2.12.1926, der sich - nachdem wir Kontakt mit Martyn Lawrentjewitsch aufgenommen hatten - von selbst bei uns meldete, schrieb einen sehr ausführlichen Bericht über seine Zwangsarbeit bei Rube, den so anschaulich ist, dass er hier ungekürzt veröffentlicht werden soll. Er wollte, dass seine Erinnerungen in der Göttinger Lokalzeitung veröffentlicht werden, was in einem kurzen Artikel des Göttinger Tageblatts, der am 24. Febraur 2001 erschien, auch geschah. Er wollte ausdrücklich, dass sein Name genannt wird. Auch Sawtschantschik arbeitete erst beim Bauern in einem Dorf im Landkreis Göttingen und kam dann zu Rube. Er schrieb, dass er nach der Arbeit auf dem Dorf nur etwa einen Monat im Lager Schützenplatz gewesen sei und dann in ein von Rube auf dem Betriebsgelände eingerichtetes Lager gekommen sei, das - nach seiner Beschreibung - für ein "Ostarbeiterlager" in einem sehr guten Zustand gewesen sein muss. Wenn Sawtschantschiks Angaben stimmen und er wirklich drei Jahre bei Rube gearbeitet hat, dann kann er nur wenige Monate oder sogar nur Wochen in der Landwirtschaft gearbeitet haben und das Lager bei Rube muss dann im Spätsommer oder Herbst 1942 eingerichtet worden sein. Nach Sawtschantschiks Erinnerungen arbeiteten mit ihm insgesamt nur 13 "Ostarbeiter" bei Rube, zwei von ihnen waren noch Kinder im Alter von 14 Jahren. Sawtschantschik selbst war ebenso wie sein Freund Martyn erst 16 Jahre alt.

Nikolaj Petrowitsch Sawtschantschik schrieb im Februar 2001:

"Sehr geehrte Frau Forscherin,
ich habe mich mit dem Briefwechsel vertraut gemacht, den mir, freundlicherweise, mein Freund, O. Martyn zur Verfügung gestellt hat und ich habe mich entschieden, Ihnen ein Brief zu schreiben, in dem ich über die Zeit meiner Zwangsarbeit in Deutschland, ohne was zu beschönigen oder zu vertuschen, berichten möchte. Vielleicht werden einige Episoden von mir identisch sein mit den Angaben von Herrn O., da unsere Schicksale sehr ähnlich sind. Wir wohnten in einem Dorf, während des Krieges wurden wir nach Deutschland verschleppt und haben 3 Jahre bei der Aktiengesellschaft Rube & Co Papierfabrik (in Weende über Göttingen, Bahnhofstr. 1) in einer Abteilung zusammen gearbeitet.

Ich, Sawtschantschik Nikolaj Petrowitsch, geb. am 02.12.1926 wurde am 26.04.1942 zusammen mit anderen Dorfbewohnern (insgesamt ca. 70 Menschen) gewaltsam nach Deutschland verschleppt, über die Stadt Pinsk (dort gab es eine Sammelstelle). Wir wurden von drei deutschen Soldaten mit Gewehren begleitet. Ein paar Tage später, nach einer medizinische Untersuchung, wurden wir mit einem Güterzug nach Deutschland transportiert. In diesem Güterzug war es so eng, dass wir mit großen Schwierigkeiten auf dem Boden einen Platz gefunden haben. So haben wir auch geschlafen - im Sitzen, um uns hinzulegen hatten wir gar kein Platz. Unterwegs, im Bromberg (Polen), hatten wir eine Mahlzeit gekriegt: einen Pappteller mit Suppe.

In Deutschland wurden wir für ein paar Tage in einem Lager für Kriegsgefangene untergebracht. Erst dort habe ich mit eigenen Augen gesehen, wie schlecht sie behandelt wurden. Damals waren es insgesamt ca. 2000 Kriegsgefangene, sie waren erschöpft und vor Hunger angeschwollen, aber am Anfang des Krieges sollen 200 000 Menschen in diesem Lager gewesen sein.
Zum Frühstuck bekamen wir 200 gr. Brot aus Zuckerrübenabfällen (das Brot war süß und sehr fest) und Kieferzapfentee, zum Mittagessen bekamen wir eine Suppe.
Damals hatten einige von uns hatten noch von Zuhause was zum Essen und manche haben heimlich Brot oder Zwieback hinübergeworfen zu den Kriegsgefangenen. Ich erinnere mich an einen Vorfall: Einer von uns wollte ein Stückchen Zwieback für Kriegsgefangene hinüberwerfen, der Zwieback lag schon auf der Erde, ein Kriegsgefangener wollte es aufheben und dabei wurde er erschossen.

Vier Tage später wurden wir alle mit dem Güterzug weiter transportiert, über Hannover nach Ellershausen - ein Dorf im Landkreis Göttingen. Wir wurden in einem Haus untergebracht, das Haus war mit Stacheldraht umzäunt, dort bekamen wir ein Abendessen. Am nächsten Tag (10. Mai) wurden wir Bauern aus verschiedenen Dörfern als Hilfskräfte angeboten. Ein Bauer Luich [Louis] Mohnker aus Weissenborn (ein Dorf in der Nähe von Göttingen) [Göttinger Adressbuch von 1939: Louis Mohnkern, Weißenborn Nr. 36) hat mich ausgewählt. Er hatte schon zwei Hilfskräfte aus Polen (einen Mann und eine Frau), seit drei Jahren hatten beide bei ihm gearbeitet und sie konnten schon gut deutsch. Ich habe bei Herrn Mohnker[n] bis August gearbeitet. Meine Arbeit erledigte ich so gut wie ich nur konnte, ich musste nicht hungern, aber ich war in einem, für einen Russen, erniedrigenden Zustand, das habe ich immer gespürt. Ich erinnere mich an zwei Episoden ,wo ich unschuldig war, aber man mich trotzdem beschuldigte. Das erste Mal hat mir ein Pole beigestanden und das zweite Mal hat der Bauer selbst daran geglaubt, dass ich unschuldig war und hat mich nicht bestraft, obwohl er mit einem Stock zu mir gekommen war (er wollte mich wahrscheinlich,schlagen).

Eines Tages sagte der Bauer zu mir, dass ich in einer Fabrik eingesetzt werde, dort werde es nicht so wie bei ihm sein, man kriege dort nicht genug zu Essen...

Unterbringung in der Fabrik: zuerst waren wir im Lager Schützenplatz untergebracht (das Lager befand sich in Göttingen und war in der Nähe vom Güterbahnhof) das Lager war bewacht. Zur und von der Arbeit wurden wir von Fabrikangestellten begleitet. Im Lager lebten wir unter sehr schlechten sanitären Verhältnissen: schliefen auf dem nackten Holz ohne Matratzen, nur eine sehr schmutzige Decke habe ich gekriegt und nach ein paar Tagen hatte ich Läuse, das war schrecklich. Ich hatte immer Hunger und dann dieses schreckliche Kratzen am ganzen Körper und ich konnte nichts dagegen machen. Ich habe mir solche Sorgen gemacht: Es durfte keiner merken, dass ich Läuse habe, sonst würden mir alle aus dem Weg gehen, das war mir so peinlich, aber es ist alles gut gelaufen - keiner hat was gemerkt. Wir waren etwa einen Monat dort.

Ich denke: alle, die in die Fabrik gekommen sind, hatten Glück, aus dem Lager befreit worden zu sein. In der Fabrik hat man extra für uns eine Traktorengarage in ein Unterkunftsgebäude umgebaut. In diesem Gebäude waren zwei Zimmer: im großen Zimmer waren Stockbetten und im zweiten Zimmer stand ein Ofen; dort konnte man kochen (wenn man was zum Kochen hatte). Im Winter wurde das Gebäude beheizt, es war warm. In der Nähe war eine Dusche, da gab es auch ein Becken, wo wir unsere Kleidung waschen konnten. Das Wasser war immer kalt, das warme Wasser machte uns immer ein Turbinenmaschinist, er hat das uns nicht verweigert. Mit dieser Turbine konnte man Elektroenergie für die Fabrik gewinnen.
Gleich am ersten Tag unseres Aufenthalts in der Fabrik habe ich mich zuerst geduscht, meine Kleidung bedampft und mich von dieser Gemeinheit (Läuse) befreit, danach habe ich mich viel besser gefühlt. Zum Schlafen hatte ich eine Matratze, ein Kopfkissen mit Papierhobelspänen gefüllt und eine Bettdecke. Die Betten waren Zweistock-Betten.

Nikolaj Petrowitsch Sawtschantschik vor der Papierfabrik Rube im Mai 1943. Er trägt das "Ostarbeiterabzeichen".

Göttinger Tageblatt vom 24. Februar 2001 mit einem Artikel über Sawtschantschiks Erfahrungen als Zwangsarbeiter

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In der Fabrik waren wir insgesamt 13 junge Männer: 5 Männer aus einem Dorf (mit mir zusammen), 2 Männer aus der Nachbarschaft und zwei Jungen (Geburtsjahr 1928) aus einem Kinderheim in der Ukraine, die anderen waren Russen aus verschiedenen Dörfern. 4 Männer, die älter waren, hat man für Ladenarbeit genommen. Die Ladung hat ein Kraftfahrer mit einem Traktor mit Anhänger transportiert, und wenn es notwendig war, hatte er Kartoffeln für die Ladearbeiter gebracht, also waren diese vier Ladearbeiter mit Essen versorgt. Kartoffeln haben sie im Ofen gekocht und konnten sich damit satt machen, sie haben das Essen nicht mit den anderen anderen verteilt. Wir waren zu dritt (aus einem Dorf), der vierte war ein Ukrainer aus einem Kinderheim, wir arbeiteten in der Druckerei, wir haben Papierpackungen für Lebensmittel (Butter, Margarine, Käse) hergestellt. Ich arbeitete an einer Werkmaschine. Die Arbeit war nicht schwer: Ich saß auf einem Stuhl und sollte mit zwei Fingern das Papier an einem Stützbrett festhalten; das Papier wurde von beiden Seiten von der Maschine mit zwei sich bewegenden Spaten ausgerichtet. In 1,5 Stunden hatte ich Papierstapel in Höhe von 80 cm, dann wurde die Maschine gestoppt und wir mussten zu zweit diesen Papierstapel auf einen Extra-Tisch hinüberschleppen und dann wurde das Papier mit einem kleinen Wagen in die Verpackungsabteilung transportiert. Manchmal habe ich Papierrollen aus dem Lager oder aus anderen Abteilungen geholt, wo aus dem Papier Pergament hergestellt wurde. Die Rollen wogen bis zu 300 kg (es hing von der Papierbreite ab), ich habe meinem Meister geholfen diese Papierrollen auf einen Wagen zu laden. Ich wurde oft in die Verpackungsabteilung geschickt, dort habe ich Papierrollen verpackt. Hier, in dieser Verpackungsabteilung arbeitete Hermann Hartmann [ Göttinger Adressbuch 1939: Hermann Hartmann, Buchdrucker Bahnhofstr. 343], er war ein Militärsanitäter, und hat sehr oft Militäruniform getragen. Herr Hartmann hat immer bis zu drei Papierrollen zusammengeklebt und ich musste den Papierstapel mit einer Bleiplatte (die sehr schwer war) andrücken. Diese Arbeit war sehr schwer für mich, da eine Papierrollenpackung ein Gewicht von 80 kg hatte. Vor dem Feierabend kehrte ich zu meinem Werkbank zurück, meine Aufgabe war: die Maschine gründlich sauber zu machen (von den Ölspuren), Aussschusspapier in den Heizungsraum zu bringen, dort wurde das ausgesonderte Papier von einem Arbeiter gezählt. Die Maschinen arbeiteten auch am Abend (Spätschicht), wir arbeiteten nur am Tag.
Ich musste auch bei anderen Arbeiten helfen: Druckfarbe mischen, das hat auch Herr Hartmann gemacht. Er hat im Lager die Farben ausgewählt und ich sollte Behälter mit Farben in unsere Abteilung transportieren, nach Feierabend musste ich Farbenbehälter und andere Instrumente mit Petroleum sauber machen. Solche nebensächliche Arbeiten habe ich oft zusammen mit meinen Freunden Martyn O. oder mit Nikolaj Sch.

Wie wurden wir von deutschen Arbeitern behandelt? - Immer unterschiedlich: einigen waren wir egal und von den anderen wurden wir verachtet. Auf dem Firmengelände, in der Nähe der Durchgangspforte, wohnte ein Meister aus der Verpackungsabteilung, er war ca. 50 Jahre alt (an den Namen kann ich mich nicht erinnern). Eines Tages, als er mich sah, hat er mich gepackt und kräftig geschüttelt, in seiner Hand hatte er eine Pistole von einem russischen Offizier (die Pistole hatte ihm sein Sohn von der Front gebracht). Er hat mit dieser Pistole gedroht und mich beschuldigt, dass die Russen mit solchen Pistolen deutsche Soldaten töten. Er wusste natürlich nicht, dass ich als 16-jähriger kein Kommunist sein konnte (so hat er mich genannt) und außerdem: Krieg - ist kein Puppenspiel. Solche Menschen gab es überall, sie waren auch in unserer Druckereiabteilung, sie haben nicht nur uns - russischen Unfreiwilligen beobachtet, sondern auch auf die deutsche Arbeiter Acht gegeben, von diesen Menschen hat man sich immer gehütet.
Ich erinnere mich an einen Vorfall: ein Ukrainer (Leonid aus dem Kinderheim) wollte unter der Werkbank sauber machen und ist dabei eingeschlafen. Sein Maschinenmeister Herbert hat ihn gefunden und mit kaltem Wasser begossen, manche haben dabei gelacht. Ein paar Tage später wurde Leonid zum zweiten Mal erwischt, dass hat ein Abteilungsmeister Otto Bruder [Göttinger Adressbuch 1939: Otto Bruder, Druckereileiter, Landstr. 368]) (er war sehr streng) mitgekriegt, am gleichen Tag wurde Leonid in das KZ [wahrscheinlich eher ein "Arbeitserziehungslager"gebracht. Ein paar Monate später kam er wieder zurück; er war sehr abgemagert und hungrig. Die Unterernährung und das eintönige Maschinengetöse führten zu Schläfrigkeit und Müdigkeit.

Ernährung: In Göttingen, in der Nähe des Aluminiumwerks befand sich eine Küche für Zwangsarbeiter, von dort aus hat ein Fahrer für uns das Mittagessen mit einem kleinen Auto gebracht. Das Abendessen haben wir uns selbst (nach der Reihenfolge) mit einem kleinen Karren geholt.
Nur Rüben-oder Kohlsuppe zum Mittag, sehr wenig Kartoffeln (kein Öl, kein Fett) und 200 gr. Brot pro Tag - das war alles, was wir zum Essen bekamen. Am Anfang, nach diesem schlechten Essen, hatten wir immer Hunger.

Warum hat keiner von uns gebettelt? Die Leute mochten keine Bettler, ich denke, wenn wir auch gebettelt hätten, hätten wir trotzdem nichts gekriegt, das hätte für uns auch schlimm ausgesehen, man konnte uns sofort verhaften, außerdem mussten wir immer ein „Ost"-Zeichen auf unseren Kleidern tragen, darauf haben immer die Stadtpolizisten geachtet.

Sonntags mussten wir nicht arbeiten.

Alle Zwangsarbeiter lebten sehr unterschiedlich: einigen ging es besser, den anderen schlechter. Ich hatte Glück. Ich habe gute Menschen getroffen, sie haben mir geholfen, diese schlimme Zeit zu überleben, sie haben uns vorm Verhungern gerettet, obwohl sie selbst nicht im Wohlstand lebten, besonders in den letzten Kriegsjahren: Lebensmittel konnte man nur mit Essensmarken kaufen.
Im Frühling hat man uns gebeten im Garten zu arbeiten (nach der Arbeit), dafür bekamen wir etwas zu essen, manche gaben uns auch etwas mit (meistens Kartoffeln). Solche Arbeiten haben wir fleißig und gerne gemacht. Oft habe ich mit Martyn O. zusammengearbeitet, wir haben uns alles geteilt. Im Frühling war unser Leben erträglicher, schlimmer war es im Winter, wir hatten nicht so viele Arbeitsangebote von den Bauern.
Außerdem hat mir mein Meister immer geholfen. Wir nannten ihn kleines „Dickerchen" - August Stumme [Göttinger Adressbuch 1939: August Stumme, Buchdrucker, Kaakweg 226]. Als ich bei ihm gearbeitet habe, hat er mich immer zum Essen eingeladen, seine Frau hat gut gekocht und hat mir leckeren Pudding angeboten.
Mit mir zusammen hat eine Frau Frieda gearbeitet, sie wohnte allein, ihr Mann war an der Front, sehr oft hat sie mir ihre Suppe abgegeben.
An der Schneidewerkbank arbeitete ein alter Mann Weitemeyer; er hat mir seinen Anzug und seine Schuhe gegeben (dann konnte ich meine Holzschuhe wegstellen).
Es gab auch andere gute Menschen, sie konnten uns nicht helfen, wahrscheinlich wegen deren Armut, aber sie waren immer freundlich und menschlich: Heinrich Wedekind [Göttinger Adressbuch 1939: Heinrich Wedekind, Klempner, Obere Str. 93], Willi Fimayer [Viehmeyer] , Fritz Meyer - Friseur, er hat mir immer die Haare geschnitten, aber aufs Geld hat er immer verzichtet [Göttinger Adressbuch 1939: Fritz Viehmeyer, Friseur, Springstr. 100,wahrscheinlich wirft Sawtschantschik hier in der Erinnerung die Namen durcheinander]. Willi Macke (Soldat des Ersten Weltkriegs) er hasste den Krieg und hat immer auf die Politiker geschimpft, die zum Krieg anstiften.
In der Packereiabteilung arbeitete ein Mann namens Willi, er bediente zwei Rollenmaschinen, er war groß und dürr, wir nannten ihn „Willi den Großen". Willi hat mich auf unserem Firmengelände fotografiert, er hat mir ein Foto geschenkt, leider habe ich dieses Foto verloren.
Besonders viel hat mir und allen anderen Frau Marta Humpe [Kumpe, Hampe ?] geholfen (sie arbeitete auch in der Fabrik). Sie war sehr gut zu mir, sie hat gewusst, dass meine Mutter starb als ich noch ein Baby war. Das war eine Frau vont außergewöhnlicher herzlicher Güte und Barmherzigkeit. Sie war meine deutsche Mutter, sie lebt noch heute in meinen Erinnerungen. Als sie Spätschicht hatte, im Vorbeigehen, hatte sie mir immer etwas zu Essen gegeben. Ich war ein paar Mal bei ihr zu Hause, sie hat mir was zum Essen gegeben (einen Beutel mit Kartoffeln), sie sagte: „Nikolaus, wenn ihr alles gegessen habt, dann kannst Du mich fragen, ich gebe Dir noch Kartoffeln". Aber ich war sehr schüchtern, dann kam sie selbst und fragte ob wir Hunger haben. Eine aufopfernde Frau war diese Marta Humpe - meine Retterin. Sie wohnte damals in der Göttinger Strasse, im Hof, dort war ein Geschäft von einem Herrn Rippguth [Göttinger Adressbuch 1937: Karl Rippguth, Kolonialwaren und Delikatessen - Obst Gemüse Fischhandlung – Göttinger Landstraße 24). Der Ehemann von Frau Humpe arbeitete in einer anderen Stadt und ihr einziger Sohn war an der französischen Front, dann kam er in amerikanische Gefangenschaft, von dort hat Frau Humpe eine Nachricht von ihrem Sohn bekommen.
Leider konnte ich ihr nicht schreiben, inder Sowjetunion hatte jeder Angst vor dem KGB (Komitee für Staatssicherheit). Heute habe ich diese Gelegenheit, aber es sind so viele Jahren vergangen und Frau Humpe lebt wahrscheinlich nicht mehr, genauso wie viele andere deutsche Freunde (an deren Namen ich mich in diesem Brief erinnere).
Als ich von dem Bauer weg musste, hat mir seine Frau Essensmarken gegeben, für diese Marken habe ich mir was im Geschäft Rippguth gekauft. Obwohl die Essensmarken nicht mehr aktuell waren, doch manchmal konnte man für diese Marken Lebensmittel kaufen. In dem Geschäft arbeiteten zwei junge Frauen, sie waren sehr gutmütig. Dort arbeitete auch ein „Großvater", er verkaufte Obst an Frauen, die in der Fabrik beschäftigt waren (7 oder 8 Frauen).

Jede Woche, samstags, kriegten alle, die in der Fabrik arbeiteten, Arbeitslohn ausgezahlt. Wir „Ostarbeiter" bekamen 3 DM, das war sehr wenig im Vergleich zu den deutschen Arbeitern. Aber das Geld, was wir hatten, konnten wir sowieso nicht ausgeben, wir konnten uns nichts kaufen, außer ein Glas Bier in der Weender-Kneipe. Ab und zu kauften wir uns Bier, aber wir wollten das nicht trinken: wir hatten kein Durst, sondern wir hatten Hunger.

Medizinische Betreuung: Einmal hatte ich ein Geschwür auf meiner Handfläche. Unser Sanitäter - Herr Hartmann, hat mir einen Verband angelegt und hat mir eine Armschlinge um den Hals gebunden. Ich habe dann mit einer Hand weiter gearbeitet, ein paar Tage später war meine Hand sehr angeschwollen und ein Arbeiter hat mich in das Lager Schützenplatz gebracht, wo ich von einem französischen Chirurgen operiert wurde. Dann musste ich weiter arbeiten, ich kriegte keine Freistellung von von Arbeit.
In Göttingen war ein Krankenhaus für Russen. Ich und Martyn O. haben dort unseren Landsmann besucht, er hatte sich ein Bein gebrochen und dann ist er in das Krankenhaus gekommen. Wir konnten uns durch das offene Fenster unterhalten, aber wie die Kranken medizinisch betreut wurden, kann ich nicht sagen.

Freizeit: Im Winter waren wir alle in der Fabrik beschäftigt. Der Tag im Winter war nicht so lang und wir konnten auch nirgendwohin gehen. Im Sommer durften wir Sonntags spazieren gehen außerhalb des Lagers: auf der Wiese, zum Fluss, oder zum Fußballspiel (in Weende war ein Fußballplatz, dort haben französische Kriegsgefangene gegen Tschechen gespielt). Einmal haben wir: ich und Martyn O. unseren Bekannten in Grone besucht. Beim Hinausgehen aus der Fabrik hatten wir keine Schwierigkeiten, das haben wir sehr geschätzt.

In den letzten Kriegstagen wurden nahe gelegene Städte mehrmals bombardiert, besonders gut konnte man das in der Nacht (nachts) sehen, am Tage wurde die Arbeit in unserer Fabrik bei einem Alarm gestoppt und alle versteckten sich im Bunker (der Bunker befand sich auf dem Fabrikgelände, im Garten). Die Stadt Göttingen wurde auch bombardiert, die Eisenbahn wurde sehr beschädigt und im Lager Schützenplatz wurde eine Baracke getroffen, mehr als 70 Menschen sind dabei umgekommen. Eine Bombe explodierte auf einem unbebauten Platz in Weende, in nahe gelegenen Häusern waren alle Fenster kaputt (hinausgeflogen), zum Glück gab es keine Verletzten.

Hiermit möchte ich mein Brief beenden, ich hoffe, dass Sie, sehr geehrte Frau Forscherin, diesen Brief bekommen und wenn Sie mein Brief interessant finden, wird es mich sehr freuen!
Es wäre sehr schön, wenn meine Erinnerungen über die bemerkenswerten deutschen Leute in der lokalen Zeitung veröffentlicht werden. Die Kinder und Enkel sollten über diese Menschen die Wahrheit wissen, man muss auf sie stolz sein und sie sich zum Vorbild nehmen. Es ist schwer, in einem Brief, alle meine Erinnerungen ausführlich zu beschreiben, ich habe nur über die wesentlichen Momente aus unserem Leben in der Fabrik geschrieben, über uns, die dort gelebt und gearbeitet haben. Alles was ich über uns geschrieben habe, ist mit vielen anderen Zwangsarbeiter nicht vergleichbar."


Fragebogen Martyn Lawrentjewitsch O., geb. 5.9.1926, o.D. (Eingang 27.11.2000), Brief Nikolaij Petrowitsch Sawtschantschik, geb. 2.12.1926, o.D. (Eingang 20.2.2001), Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien, Korrespondenz und Fotos.

 


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