Erinnerungen von Elfriede Nenadovic, geb. 24.1.1925 in Göttingen, an Anna, die sonntags im Haushalt ihrer Schwester Meta Steinmann arbeitete |
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Anna Tereschkowna W., geb. 13.12.1922 im Dorf Lupky in der Ukraine, wurde im Oktober 1942 nach Deutschland deportiert und arbeitete in Göttingen bei der Firma Winkel (in der Dreherei). Untergebracht war Anna im Lager Schützenplatz. 1943 holte die Sozialdemokratin Meta Steinmann, die 2005 posthum von Yad Vashem als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet wurde, Anna gezielt an jedem Sonntag zu sich nach Hause (die Göttinger Hausfrauen durften sich für sonntags eine Haushilfe unter den Zwangsarbeiterinnen aus dem Lager Schützenplatz aussuchen), um ihr auf diese Weise durch Kleidung und Essen helfen zu können. Elfriede Nenadovic, geb. Wahle, Schwester von Meta Steinmann, Göttingen erinnert sich an diese ehemalige Zwangsarbeiterin aus der Ukraine, die sonntags im Haushalt ihrer Schwester arbeitete:
"Als ich an einem Sonntag im Jahre 1943 meine 18 Jahre ältere Schwester besuchte, hatte sie Besuch von einer jungen ‚Ostarbeiterin' aus der Ukraine. Sie arbeitete in der Firma Zeiss-Winkel in der Königsallee. Ich war über diesen Besuch überrascht. Meine Schwester erzählte mir, dass etwas Sonderbares' passiert sei. Man konnte sich bei einer Kontaktstelle auf Antrag eine ‚Ostarbeiterin' ins Haus holen. Meine Schwester begründete ihren Wunsch damit, dass sie einen großen Garten bewirtschaften müsse, drei Kinder versorgen müsse, was ihr alles ohne Mann, der auswärts kriegsverpflichtet war, zuviel sei. Sie konnte Anna sofort mitnehmen. Diese Freizügigkeit setzte sie in beträchtliches Staunen. Sollten diese Mädchen sich draußen mal tüchtig satt essen oder leichter die Sprache lernen, um später in ihrer eroberten Heimat hilfreiche Stützen bei der Verwaltung dieser Gebiete werden zu können? Anna kam immer nur zu den Wochenenden, wenn sie frei hatte, half im Garten und im Haushalt. Meine Schwester jedenfalls beabsichtigte nicht, sie auszunutzen, sondern betrachtete sie als Botin zum Kontakt für ihr Lager auf dem Schützenplatz. Was wurde nicht altes gebraucht: Kleidung, Schuhe, Strümpfe. Im Freundeskreis wurde tüchtig alles ‚Entbehrliche' gesammelt; sogar die Babywäsche, die meine Schwester noch von ihrer Tochter Gertraude hatte, landete im Lager. Was schwierig war, war die sprachliche Verständigung. Die Freundin meiner Schwester konnte aber anfangs helfen, um die große Scheu von Anna, die ein ruhiges, bescheidenes Mädchen war, zu überwinden. Unsere Freundin Elli hatte von 1934 1938 in Leningrad mit ihrem Mann gelebt. Ich selbst habe mich, wenn ich mit ihr im Garten zusammen arbeitete, mit Händen und Gesten verständigt. Anfangs war das noch etwas schwierig, ging aber immer besser, da sie zusehends zu uns Vertrauen hatte. Meine Mutter war die ‚Babuschka', meine Schwester ihre ,Mamutschka' und ihr Liebting war die Tochter Gertraude, etwa 5 Jahre alt, die sie liebevott ’Trautin' nannte. Mich nannte sie ‚Elfrieda'. Ich war fast gleich alt und hätte ihre Schwester sein können. Wenn mein Schwager Ernst, der Mann meiner Schwester, auf Wochenendurtaub kam, war er ebenfalls mit ihr freundlich. Er hatte auch das Bild im Garten aufgenommen, aber vorher das […] Zeichen ,OST' mit einer Stoffblume verdeckt. Alle ‚Ostarbeiterinnen' mussten auf allen Kleidungsstücken dieses Abzeichen tragen, genau wie die Juden den ‚Davidstern'. Anna hatte durch uns eine richtige Ersatzfamilie gefunden und wir konnten ein wenig das Unrecht an diesem Mädchen abmildern. Eines Tages aber durften Anna und die anderen Arbeiterinnen nicht mehr kommen. Da übernahm der älteste Sohn meiner Schwester, Ernst noch Schüler den Kurierdienst zu Anna. Er stellte sich bei Arbeitsschluß der Fabrik hinter einen dicken und großen Baum in der Nähe des Fabriktores. Sobald er Anna sah, kam er blitzschnell hinter diesem Baum hervor und drückte ihr ein Esspaket in die Hand. Diese großen Bäume in der Königsallee waren ein idealer Ort für diese Blitzaktionen. Anna strahlte jedesmal, wusste sie doch, wir hatten sie nicht vergessen, nur die Umstände waren schuld. Den Grund des Verbotes haben wir nie erfahren. Aber auch Anna hatte uns nicht vergessen. Eines Tages nach Feierabend kam sie ziemlich atemlos und ängstlich in die Geismarlandstraße 98 (wo meine Schwester wohnte) gelaufen (den Bus durften die ‚Ostarbeiter' nicht benutzen) und wollte schauen, ob ,ihrer Ersatzfamilie' nichts passiert war, denn ein schweres Gewitter, das Tag und Nacht über Göttingen getobt hatte, hatte sie besorgt gemacht. Am Ende des Krieges wurden die Verpflegungsdepots in Göttingen sowohl von Deutschen als auch von Ausländern geplündert. So geschah es, dass auch Anna Fett- und Wurstdosen zu meiner Schwester als Dank brachte, denn nun ging es uns ernährungsmäßig schlechter. Da meine Schwester mit den Kindern nach Verwandten in Nikolausberg geflüchtet war (die Göttinger sollten laut Aufruf von NS-Gauleiter Lauterbach wegen Verteidigung die Stadt schnellstens verlassen), traf sie meine Schwester nicht an. Sicher war Anna tieftraurig, als sie vor der verschlossenen Tür stand, stellte aber ‚ihre Beute' vor die Kellertür. So konnten sich meine Schwester und die Kinder nicht von ihr verabschieden. Die Kinder haben die Mutti oft gefragt: ‚Ob Anna sich wohl noch an uns erinnern wird?' Ihre Antwort war immer: ‚Ganz sicher wird sie sich erinnern, auch daran, dass nicht alle Deutsche Nazis waren.' Am 7. April 1945 wurden Anna und ihre Landsteute von den Amerikanern befreit. In einer ‚Nacht-und-Nebel-Aktion’ wurden sie nun wieder zwangsweise zurückgebracht. In welche Zukunft? Das wissen wir nicht. Uns bleibt nur die Erinnerung!" Aufgeschrieben von Elfriede Nenadovic im April 2002 |
Foto von der Betriebskartei der Firma Winkel Dieses Foto zeigt das freundschaftliche Verhältnis zwischen Anna und Meta Steinmann. Das Kleid hatte Anna von ihr bekommen und das "Ostabzeichen" wurde extra mit einer Blume verdeckt, um ein besonders schönes Bild zu erhalten.
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Quelle:
Carl Zeiss Werk Göttingen (damals Winkel) - Arbeitskarten ehemaliger Zwangsarbeiter 1941-1945, Stadtarchiv Göttingen, Kleine Erwerbung 192; Foto aus dem Privatbesitz von Elfriede Nenadovic, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien (Foto-CD).
Erinnerungen Elfriede Nenadovic an Anna aus der Ukraine, April 2002 (mit Fotos), Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32 Tollmien.