"Der Grund ihres Entweichens konnte bislang nicht festgestellt werden" - Fluchtwelle unter den polnischen Zwangsarbeitern in Göttingen im Frühjahr 1940

In Göttingen trafen die ersten 63 polnischen Zivilarbeiter am 20. November 1939 ein. Sie wurden dem Eisenbahn- und Tiefbauunternehmen Fritz Keim zugewiesen und sollten für die Firma Oberbauarbeiten bei der Reichsbahn durchführen. Die Arbeit bei Keim war Schwerstarbeit: Die Arbeiter mussten schwere Eisenteile bewegen und waren beim Entladen des staubigen Steinschlags, der für die Aufsetzung des Gleisbettes benötigt wurde, den herumfliegenden kleinen Steinsplittern ausgesetzt. Eine ganze Reihe der Keim zugewiesenen Arbeiter war dieser harten Arbeit nicht gewachsen, so dass sich das Arbeitsamt schon am 4. Dezember gezwungen sah, zunächst zwei und im Januar dann noch einmal 13 (insgesamt 15) der ursprünglich 63 Polen bei Keim "wegen ihrer körperlichen Schwäche" als landwirtschaftliche Arbeiter in den Landkreis Göttingen umzuvermitteln (Schreiben des Arbeitsamtes Göttingen vom 9. Januar 1940). Nachdem bereits Ende Januar ein Pole seine Arbeitstelle "heimlich" verlassen hatte, kam es im Frühjahr 1940 dann zu einer echten Massenflucht bei Keim: 18 Mann, so meldete die Göttinger Polizei am 18. März 1940, hätten ihre Arbeitsstelle verlassen: "Hiervon sollen einige bereits ihre Heimat erreicht haben. Der Grund ihres Entweichens konnte bislang nicht festgestellt werden."
Auch wir wissen heute natürlich nicht genau, was diese 18 polnischen Arbeiter zu ihrer damals sog. Arbeitsflucht bewogen hat: War es einfach Heimweh, die unerträglichen, schweren Arbeitsbedingungen, die schlechte Entlohnung, die nicht für den Lebensunterhalt der in der Heimat zurückgebliebenen Familie ausreichte, die ständige Überwachung und eingeschränkte Bewegungsfreiheit oder vielleicht doch ein politisch motivierter Akt des Widerstand gegen die Zumutung für die Besatzer ihres Heimatlandes arbeiten zu müssen? Wir wissen auch nicht, warum diese erste Fluchtwelle bei Keim gerade in den ersten beiden Märzwochen und nicht schon früher stattfand. War es nur das bessere Wetter im Frühling, das zu einer Flucht verleitete, oder hatte dieser Zeitpunkt vielleicht etwas mit der ständig zunehmenden, in immer neuen Vorschriften sich niederschlagenden Diskriminierung der polnischen Arbeiter zu tun, die am 8. März 1940 in ein zusammenhängendes Erlasspaket gegossen worden war? Diese Erlasse schränkten die Bewegungsfreiheit der Polen weiter ein und verschärften die Überwachung. Für das Verlassen des Arbeitsplatzes drohte Einweisung in ein KZ, bei Geschlechtsverkehr mit einer Deutschen die Todesstrafe. Die Erlasse enthielten aber vor allem die entwürdigende Kennzeichenpflicht, die alle polnischen Zivilarbeiter zwang, ein violettes P auf gelbem Grund gut sichtbar an ihrer Kleidung zu tragen. Dies war die erste öffentliche Kennzeichnung von Menschen im Dritten Reich, nach deren Muster im September 1941 der Judenstern eingeführt wurde.
Obwohl nach den Märzerlassen für das unbefugte Verlassen des Arbeitsplatzes bereits KZ-Haft vorgesehen war, wurde für die Bestrafung der flüchtigen Polen bei Keim eine ältere Verfügung des Reichssicherheitshauptamtes vom 23. Dezember 1939 zugrunde gelegt, nach der Einweisung in ein Konzentrationslager erst im Wiederholungsfall vorgesehen war. Zehn Polen der ersten Fluchtwelle und vieren einer zweiten Fluchtwelle Ende März, wo noch einmal insgesamt zwölf Arbeiter entwichen waren, glückte die Flucht. Die Wiederaufgegriffenen wurden vom Göttinger Amtsgericht zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten verurteilt und anschließend der Firma Keim wieder "zugeführt".

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Quellen:

Liste o.D. (27.11.1939), Bericht 4.12.1939, Arbeitsamt 9.1.1940, Ortspolizei 31.1.1940, Aktennotiz 18.3.1940 (von dort stammt das Zitat in der Titelleiste), Aktennotiz 21.4.1940, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 124, Nr. 2 Bl. 371, Bl. 369 v., Bl. 375, Bl. 377 v., Bl. 381 v., Bl. 382

Keim 1.8.1940, Stadtarchiv Göttingen Ernährungsamt Nr. 61, o.P.

Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen. Rundschreiben 25.5.1940, Statistik o.D. (Mai 1940), Ortspolizei 1.6.1940, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 124 Nr. 12, Bl. 146 f.

Reichsgesetzblatt 1940 I, Nr. 55, S. 555, Merkblatt für deutsche Betriebsführer über das Arbeitsverhältnis und die Behandlung von Zivilarbeitern polnischen Volkstums 8.3.1940, abgedruckt in: Documenta Occupationis (hg. vom Instytut Zachodni Posnan), Band X: Praca Przymusowa Polaków Pod Panowaniem Hitlerowskim 1939-1945, Posnan 1976 (mit deutscher Einleitung und ausschließlich deutschen Dokumenten), S. 17 f., S. 20 ff.

Pflichten der Zivilarbeiter und -arbeiterinnen polnischen Volkstums während ihres Aufenthaltes im Reich 8.3.1940, Reichsführer SS Rundverfügung 23.12.1939, abgedruckt in: ebd., S. 18 f., S. 99 f.

Literatur:

Ulrich Herbert, Fremdarbeiter - Politik und Praxis des "Ausländer-Einsatzes" in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches, Berlin / Bonn 1985, S. 67.

Ulrich Herbert, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880-1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin / Bonn 1986, S. 124 ff.

Dieter Maier (Hg.), Beteiligung der Arbeitsverwaltung am Zwangsarbeitereinsatz 1939-1945, Dokumentensammlung, Verwaltungsschule Weimar, o. J. (2000) (MS, zu beziehen beim DGB Göttingen), S. 106.

Czeslaw Luczak, Polnische Arbeiter im nationalsozialistischen Deutschland während des Zweiten Weltkrieges. Entwicklung und Aufgaben der polnischen Forschung, in: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der "Reichseinsatz". Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 90-105, hier S. 94.


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