Arbeitsvertragsbruch - "Arbeitsflucht"Speziell für die ausländischen Arbeiter in Deutschland gab es eine unüberschaubar große Zahl von Vorschriften mit entsprechenden Strafandrohungen, die verhindern sollte, dass Arbeiter ihren Arbeitsplatz ohne Genehmigung des Arbeitsamtes verließen. Auch über das gegebenenfalls vertraglich festgelegte Ende des Arbeitsverhältnisses wurde viele Arbeiter gegen ihren Willen weiter in Deutschland festgehalten, etwa in dem das ursprüngliche Arbeitsverhältnis einfach in eine Dienstverpflichtung umgewandelt wurde. Bei "Ostarbeitern" und Polen stand auf "Arbeitsflucht", ebenso wie auf Arbeitsbummelei oder Widersetzlichkeiten, Einweisung in ein Arbeitserziehungslager oder in ein KZ. Für "Arbeitsflucht" war nach den geltenden Erlassen eigentlich KZ-Haft zwingend vorgeschrieben, wurde aber auf Drängen der Betriebe mit Fortschreiten des Krieges oft in Haft in einem Arbeitserziehungslager umgewandelt, weil diese nur so die Möglichkeit hatten, ihre dringend benötigten Arbeitskräfte eventuell zurückzubekommen. Am Ende des Krieges drohte auch westeuropäischen Zwangsarbeitern bei "Arbeitsflucht" die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager. |
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Mit Erlass vom 26. Juni 1939 wurde die Polizei angehalten, gegen Tschechen bei "Arbeitsverweigerung", politischer Betätigung oder "sonstiger staatsfeindlicher Einstellung" mit aller Schärfe vorzugehen und gegen sie "Schutzhaft" zu beantragen. Wenige Tage später, am 4. Juli 1939, wurden diese Bestimmungen dann ausgeweitet auf alle tschechischen Arbeitskräfte, die Diebstähle begangen, geplündert, Befehle verweigert oder sich sonstiger krimineller Delikte schuldig gemacht hatten.
Im November 1941 wurden noch einmal drei Tschechen gleichzeitig von der Gestapo in das Göttinger Polizeigefängnis eingeliefert, weil sie ihre "Unterkunft heimlich verlassen" hatten, was auf einen geplanten Fluchtversuch schließen lässt. Im Dezember 1944 kam ein Tscheche wegen "Arbeitsvertragsbruchs" ins Göttinger Polizeigefängnis.
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Einwohnermeldekarte von Johann Spira, der seine am 25. April 1939 angetretene Arbeitsstelle bei Sartorius am 25.8.1939 unerlaubt verließ. Notiz auf der Karte "entwichen o.S.", was bedeutet "entwichen ohne Schein", also ohne Genehmigung des Arbeitsamtes.
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Im Frühjahr 1940 kam es zu einer Massenflucht unter den der Firma Keim Ende November 1939 zugewiesenen polnischen Zwangsarbeitern.
Wegen "Arbeitsvertragsbruch" wurde im Mai 1941 eine Polin ins Göttinger Gerichtsgefängnis eingeliefert, und im Februar zwei Polen und Juli 1944 eine weitere Polin festgenommen.
Am 27. April 1943 meldete die Kohlenhandlung Winkelhoff & Glaeser der Gestapo, dass einer der bei ihnen beschäftigter Westukrainer nach einem Heimaturlaub nicht an seine Arbeitstelle zurückgekehrt sei. Wegen des großen "Arbeitermangels in unseren Betrieben" bat Winkelhoff die Gestapo, nach dem Mann zu suchen und diesen wieder an seine Arbeitstelle zurückzuführen.
Siehe auch die Erinnerungen von Stefan M., der im Juni 1942 von seiner Arbeitsstelle bei einem Bauern in Geismar flüchtete und nach einem einjährigen Gefängnisaufenthalt im KZ Buchenwald landete.
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Französische Kriegsgefangene: Anfang Juni 1941 entwichen drei Kriegsgefangene aus dem Arbeitskommando 1505 der Aluminiumwerke, in dem noch bei einer Kontrollfahrt des französischen Vertrauensmannes im April 1942 die Gefangenen über die Brutalität und Willkürmaßnahmen des Wachpersonals klagten. Die Flüchtigen kamen bis nach Hann. Münden, wo sie in das dortige Gefängnis eingeliefert und von dort wieder nach Göttingen gebracht wurden. Die Aluminiumwerke mussten die Unterbringungskosten für die eine Nacht im Gefängnis erstatten.
1944 wurden in Göttingen insgesamt sieben französische flüchtige Kriegsgefangene zur Anzeige gebracht (und zwei weitere Kriegsgefangene ohne Angabe der Nationalität als flüchtig gemeldet), nur einer von ihnen wurde nach den vorliegenden Akten (bei einer Bahnhofskontrolle) aufgegriffen.
Von den französischen Zivilarbeitern kehrten vor allem die "Angeworbenen", denen ein Heimaturlaub zustand, nach diesem Urlaub häufig nicht an ihren Arbeitsplatz zurück.
Beispiel Oktober/November 1940
Grundsätzlich stand den französischen Zivilarbeitern sogar zweimal im Jahr eine Heimfahrt und ebenfalls zweimal ein Erholungsurlaub zu. Natürlich konnte die Genehmigung dieses Urlaub jeder Zeit verweigert werden, was wegen der vielen Franzosen, die einen Heimaturlaub nutzten, um nicht wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren vor allem gegen Ende des Krieges auch regelmäßig geschah. Zeitzeugen berichteten außerdem, dass um diese "Arbeitsflucht" zu verhindern, ein französischer Arbeitskamerad die Urlaubsgenehmigung mit unterschreiben musste, wodurch er seinen eigenen Urlaubsanspruch verwirkte, wenn der Kamerad, für den er unterschrieben hatte, nicht zurückkehrte. Siehe dazu auch unten die Niederländern und auch Flamen nutzten - vor allem gegen Ende des Krieges - häufig einen Urlaub zur "Arbeitsflucht". Auch hier mussten Kameraden für ihre urlaubenden Kollegen bürgen und riskierten bei dessen Nichtrückkehr eine Verhaftung.
"Arbeitsflucht und "widersetzliches Verhalten" bei den Serben.
Das Stadtforstamt meldete im März 1944 den Fluchtversuch zweier sowjetischer Kriegsgefangener aus einem Lager in Roringen, die von örtlicher Gendarmerie und Landwehr verfolgt jedoch schon bald in einem Heuboden entdeckt wurden. Der Fluchtversuch brachte den beiden Gefangenen mit großer Wahrscheinlichkeit Konzentrationslager ein. Zwischen September 1944 und Februar 1945 wurden noch einmal insgesamt vier flüchtige sowjetische Kriegsgefangene festgenommen, zwei weitere als entwichen gemeldet und noch einmal zwei sowjetische Gefangene verhaftet, ohne dass der Haftgrund angegeben war.
Siehe dazu auch die Erinnerungen von Natalia Sergejewna T., die für ihre Hilfeleistung bei einem Fluchtversuch von sowjetischen Offizieren, ins Gefängnis kam.
Wegen Arbeitsvertragsbruch wurde im April 1944 eine "Ostarbeiterin" festgenommen, im Juli 1944 und Dezember 1944 insgesamt drei weitere "Ostarbeiterinnen" wegen Diebstahl und Fluchtverdacht, wobei letzteres wohl lediglich auf die Tatsache deutet, dass sich die "Ostarbeiterinnen", um sich Lebensmittel oder Wäsche zu beschaffen, außerhalb ihres Lagers befanden und nicht auf einen echten Fluchtversuch. Wie wir den Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen entnehmen können, hat es diese zwar selten, aber dennoch auch bei "Ostarbeiterinnen" gegeben.
Im Oktober/November 1943 waren 14 Gestapohäftlinge aus dem Göttinger Polizeigefängnis für das städtische Bauamt mit dem Ausheben von Deckungsgräben beschäftigt. Dabei handelt es sich ausweislich der überlieferten Gefängnislisten in erster Linie um "Ostarbeiter" und eventuell auch noch um einige Polen. Zweien dieser Häftlinge, deren Bewachung aus Personalgründen unzureichend war, gelang die Flucht von der Baustelle. Die Akten geben keine Auskunft über das weitere Schicksal der beiden Flüchtigen.
Von einer jungen "Ostarbeiterin" wissen wir, dass ihr Ende 1944 mithilfe zweier Tschechen die Flucht von ihrer Arbeitsstelle im städtischen Schlachthof gelang.
Nicht jeder Fluchtversuch endete also in einem deutschen Lager, wie auch das Beispiel eines Reichsbahnzwangsarbeiters aus Berdjansk zeigt.
Niederländer und italienische Zwangsarbeiter nach 1943: Ein aus Amsterdam stammender Buchhalter, der wahrscheinlich für Büroarbeiten im Städtischen Bauamt eingeplant war (denn es gab kein Einsatzkommando von westlichen Zwangsarbeitern unter der Regie des Bauamts, dem er hätte zugeordnet werden können), war ausweislich seiner Einwohnermeldekarte am 9. Januar 1945 in das Lager Eiswiese, dem größten Lager für "Westarbeiter" in Göttingen, eingewiesen worden. Von dort gelang ihm schon einen Tag später die Flucht. Dies ist insofern interessant, als eine deutsche Zeitzeugin, die als Kriegsdienstverpflichtete vom Herbst 1944 bis zum April 1945 in den Aluminiumwerken arbeitete und dort insbesondere Kontakt mit holländischen Zwangsarbeitern hatte, berichtete, dass viele Holländer in den letzten Kriegsmonaten aus Göttingen geflohen seien und versucht hätten, sich durch die heranrückende Front nach Hause durchzuschlagen. Die italienischen Zwangsarbeiter dagegen seien bis zum Kriegsende geblieben - was angesichts sowohl der politischen Lage in Italien als auch der Tatsache, dass die italienischen Zwangsarbeiter nach dem vorgeblichen Verrat Italiens durch den Friedensschluss im September 1943 von vielen Deutschen sehr schlecht (zum Teil schlechter als "Ostarbeiter") behandelt wurden und von daher bei einem Fluchtversuch Unterstützung oder auch nur Duldung durch die deutsche Bevölkerung nicht zu erwarten war.
Schon 1942 hatte ein beim städtischen Betriebsamt beschäftigter holländischer Zwangarbeiter nach nur zwei Monaten seine Arbeitsstelle verlassen. Denkbar ist, dass es sich auch hier um eine "Arbeitsflucht" gehandelt hat. Denn auf der entsprechenden Einwohnermeldekarte wurde die Abmeldung erst Monate später aufgrund einer Meldung des Betriebsamtes vorgenommen. Es ist daher eher unwahrscheinlich, dass der holländische Kraftfahrer aufgrund einer offiziell vom Arbeitsamt genehmigten Kündigung seines Arbeitsverhältnisses Deutschland verließ. Besonders in den Anfangsjahren nutzten eine Reihe von (westlichen) Zwangsarbeitern einen Heimaturlaub zur "Arbeitsflucht", indem sie einfach nicht mehr an ihre Arbeitsstelle zurückkehrten, aber auch in späteren Jahren kehrten vielen Niederländer aus ihrem Urlaub - so er ihnen denn doch gewährt wurde - nicht mehr zurück.
Siehe zur Flucht in letzter Minute auch die Erinnerungen eines Holländers, der bei der Reichsbahn Zwangsarbeit verrichtete.
Zu den flüchtigen niederländischen Künstlern am Städtischen Theater Göttingen siehe hier.
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Literatur und Quellen:
Tagesmeldungen der Kriminalpolizeileitstelle Hannover - Außenstelle Göttingen Bd. 1 Dezember 1943- Juli 1944 und Bd. 2, August 1944 bis März 1945, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 175 Nr. 1; Stadtforstamt an den Oberbürgermeister 20.3.1944, ebenda, AHR I B 2 Fach 22 Nr. 3 Bd. 2, o.P.
Häftlingslisten 1940-1945, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 8 Nr. 9; Einwohnermeldekarte Frans B., geb. 1921, Willem B., geb. 1884, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur; Vorgang Fahndung nach flämischen Hausgehilfinnen 1.7.1941-8.2.1942, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 425-436.
Stadtforstamt an Oberbürgermeister 20.3.1944, Stadtarchiv Göttingen, AHR I B 2 Fach 22 Nr. 3 Bd. 2, o.P.
Widereinziehung der durch Polizieigefangene entstandenen Kosten 1939-1945, Stadtarchiv Hann. Münden C 1866, Eintrag 2.6./3.6.1941 (Auskunft Günther Siedbürger).
Miroslav Kárný, Der "Reichsausgleich" in der deutschen Protektoratspolitik, in: Ulrich Herbert (Hg.), Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 26-50, S. 29.
Cécile Bonnet, Service du travail obligatoire (STO) in Göttingen, Magisterarbeit Universität Aix en Provence, Frankreich, 2004 (Manuskript), Kapitel Urlaub.
Gabriele Lotfi, KZ der Gestapo. Arbeitserziehungslager im Dritten Reich, Stuttgart München 2000, S. 182.
Stephan Posta, Tschechische "Fremdarbeiter" in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft, Dresden 2002, S. 27, S. 71, S. 116, S. 132 f.
Cordula Tollmien, Zwangsarbeiter in Ämtern, Dienststellen und Betrieben der Göttinger Stadtverwaltung während des Zweiten Weltkriegs (Fassung ohne Namensnennungen), Göttingen Dezember 2000, S. 26 f., S. 39 f., S. 45 (telefonischer Bericht Barbara van Velzen, geb. Neander, Jahrgang 1922, am 25.8.2000), S. 73, S. 81.