Ausländische Künstler am Städtischen Theater Göttingen

Das Göttinger Theater während der NS-Zeit (Städtisches Museum Göttingen)

 

Vor 1942 waren am städtischen Theater in Göttingen nur einzelne italienische Musiker und Sänger tätig, jeweils für eine Spielzeit. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt, da uns nur einzelne Einwohnermeldekarten vorliegen und eine Auswertung der umfangreichen Einwohnermeldekartei nur zu etwa einem Viertel erfolgte. Es waren aber in der Spielzeit 1940/41 mindestens ein Sänger, und in der Spielzeit 1941/42 mindestens drei Musiker am Theater in Göttingen - wobei dies auf eine Gesamtzahl von insgesamt maximal um die zehn Italiener zwischen 1940 und 1942 am Göttinger Theater schließen lässt.

Seit der Spielzeit 1942/43 wirkten dann eine Reihe von tschechischen, belgischen, holländischen und italienischen Künstlern im Orchester des Theaters der Stadt Göttingen, deren Stellung sich insofern von denen der anderen Zwangsarbeiter deutlich unterschied, als sie, soweit erkennbar, arbeitsrechtlich ihren deutschen Künstlerkollegen völlig gleichgestellt waren. Nicht nur, dass sie einen regulären Anstellungsvertrag erhielten und tariflich - oder wenn nicht tariflich, so doch in entsprechender Höhe - bezahlt wurden, sie wurden auch wie ihre deutschen Kolleginnen und Kollegen bei der Schließung des Theaters zum Kriegshilfsdienst in Göttinger Betrieben eingezogen und erhielten wie diese von der Stadt die Differenz zwischen ihrer Gage und den ihnen von den Betrieben gezahlten Lohn erstattet. Denn rechtlich bestand wie bei ihren deutschen Kollegen ihr Beschäftigungsverhältnis mit dem Theater weiter und auch bei den Abrechnungen der Betriebe, in denen sie Kriegshilfsdienst leisteten, wurde kein Unterschied zwischen den deutschen und den ausländischen Künstlern gemacht. Bei diesen Lohnabrechnungen handelt es sich im Übrigen um Listen, in denen erstaunlicherweise ohne Kennzeichnung und Unterscheidung Deutsche und Ausländer einfach nur namentlich aufgeführt wurden.

Alle Orchester- und Chormitglieder lebten während ihrer Dienstzeit am Theater in Privatwohnungen und zumindest einem der Tschechen war es auch möglich, während der Spielzeitpausen nach Prag zurückzukehren.

Aktenkundig wurden insgesamt sechs Tschechen, zwei Belgier, drei Italiener und zwei Holländer als Orchestermitglieder und außerdem vier holländische Chorsänger und zwei holländische Chorsängerinnen und ein italienischer Tenor, die bis zur Schließung des Theaters am 23. August 1944 das einheimische Ensemble verstärkten. Als erste waren im Oktober 1942 ein Belgier und die drei Italiener (ein Trompeter und zwei Violinisten), dann folgten im November 1942 und im Januar 1943 die sechs Tschechen: zwei Violinisten, zwei Posaunisten, ein Flötist und ein Musiker, dessen Instrument in den vorhandenen Unterlagen nicht genannt ist, der aber – nach der Erinnerung eines der holländischen Ensemblemitglieders, des aus Alkmaar stammenden Oboisten Simon K. - ebenfalls Geige spielte. Simon K. berichtete auch, dass zumindest einer der Belgier im Orchester, der später auch seine Frau nachholte, als politisch unzuverlässig galt, da er freiwillig nach Deutschland gekommen war. Die Holländer kamen alle in der Spielzeit 1943/44.

In seinen, wenn auch nur fragmentarisch, 2003 niedergelegten Erinnerungen berichtete Simon K. auch, dass es sich auch bei diesen rechtlich scheinbar den Deutschen gleichgestellten Arbeitsverhältnissen dennoch um Zwangsarbeitsverhältnisse handeln konnte. Der im Januar 1924 geborene Simon K. wurde 1943 wie viele seiner holländischen Altersgenossen nach Deutschland deportiert, wo er zunächst in Saarbrücken in einem Baubetrieb Fensterscheiben einbauen musste. Da er als Musikstudent für diese Arbeit völlig ungeeignet war, setzte er alles daran, einen anderen Arbeitsplatz zu finden und mit Hilfe des Leiters des Alkmaarer Arbeitsamtes gelang es schließlich, für ihn eine Stelle als zweiter Oboist im Städtischen Orchester der Stadt Göttingen zu finden. Nach seiner Göttinger Einwohnermeldekarte kam er im September 1943 nach Göttingen.

Innerhalb der Theaterarbeit wird die Tatsache, dass einige der Künstler aus dem feindlichen Ausland kamen, wahrscheinlich keine besondere Rolle gespielt haben, weil andernfalls eine Ensemblearbeit kaum denkbar ist. Um keinen zu positiven Eindruck zu erwecken, sei hier jedoch darauf hingewiesen, dass Intendant Hans-Karl Friedrich, als ihm der Göttinger Oberbürgermeister Albert Gnade einen Zeitungsausschnitt zur "Beschäftigung von Kriegsgefangenen im Theater" zusandte mit dem Bemerken, er möge seine "Gefolgschaft" entsprechend belehren, in seinem Antwortschreiben eilfertig versicherte, dass am Theater zwar keine Kriegsgefangenen beschäftigt seien, sondern nur zivile "Ostarbeiter", dass er aber seine Gefolgschaft darauf hingewiesen habe, sowohl zu diesen, als auch zu den tschechischen Orchestermitgliedern (von denen in dem Schreiben Gnades mit keinem Wort die Rede gewesen war) strengen Abstand zu wahren.

Nach der Schließung des Theaters im August 1944 wurde die ausländischen Künstler, wie ihre deutschen Kollegen auch zum Kriegshilfsdienst verpflichtet. Nach den uns vorliegenden Unterlagen kamen die meisten von ihnen ins Heeresnebenzeugamt, einige auch zu Ruhstrat und zu Schneider & Co, wohin auch der Theaterintendant Hans-Karl Friedrich verpflichtet wurde. Die Tagebucheintragungen des ebenfalls zu Schneider & Co verpflichteten ehemaligen Biblithekars Hermann Stresau (Eintrag 10.9.1944) lassen allerdings darauf schließen, dass nur oder zumindest überwiegend die deutschen Theatermitglieder wirklich in den genannten Firmen arbeiteten. Bei Schneider & Co sollen es nach Stresau ingesamt 50 Theatermitglieder gewesen sein. Es wird aus Stresaus Eintragungen jedoch nicht ganz deutlich, ob neben den Deutschen beispielsweise nicht auch die tschechischen Musiker bei Schneider & Co arbeiteten.
Über einen der holländischen Sänger, der ab 23. August 1944 ebenfalls seinen Kriegshilfsdienst im Heeresnebenzeugamt ableisten sollte, dokumentieren die vorhandenen Unterlagen dagegen, dass er statt ins Heeresnebenzeugamt in ein Lager nach Volpriehausen eingewiesen wurde. In Volpriehausen befand sich die Ende 1939 fertiggestellte Heeresmunitionsanstalt, für die Zwangsarbeiter aus ganz Europa, aber auch Häftlinge des Jugendkonzentrationslagers Moringen ohne jede Schutzkleidung in den unterirdischen Hallen eines ehemaligen Salzbergwerks Munition herstellen mussten. Das Fehlen jeglicher Schutzkleidung führte zu Verätzungen der Haut und der Schleimhäute; außerdem wurden die Zwangsarbeiter von der SS oder den Lagerleitern und Vorabeitern misshandelt. Über das weitere Schicksal dieses Holländers ist nichts bekannt. Wohl aber wissen wir - wieder von Simon K. - , dass die ausländischen Musiker nicht, wie die Akten nahelegen, in das Göttinger Bekleidungsamt der Wehrmacht (Heeresnebenzeugamt) im Maschmühlenweg, sondern alle (bis auf den zwielichtigen Belgier und seine Frau) wie Simon K. in das Lager nach Volpriehausen geschickt worden seien. Nun gibt es da insofern einen Zusammenhang als den Feldzeugkommandos nicht nur die Heeresfeldzeug(neben)ämter, sondern auch die Munitionsanstalten unterstanden; die Aussage von Simon K. erfährt dadurch eine hohe Glaubwürdigkeit.
Die männlichen holländischen Chorsänger hatten, so berichtete Simon K., übrigens gemeinsam mit dem zweiten holländischen Orchestermitglied vor der Zuweisung nach Volpriehausen einen Fluchtversuch unternommen, wobei sie allerdings entdeckt wurden, so dass vermutlich nur einer von ihnen überlebte. Auch Simon K. hatte ursprünglich gemeinsam mit seinen Landsleuten fliehen wollen. Er hatte sich aber während seiner Orchesterzeit mit einer deutschen Familie angefreundet, die ihm dringend von einem so gefährlichen Unternehmen abriet und ihn, als der Fluchtzeitpunkt gekommen war und er zu ihnen kam, um sich zu verabschieden, ihn einfach in ihrer Wohnung einschlossen.
Simon K. war und ist im Übrigen davon überzeugt, dass seine und die Verschickung der anderen Orchestermitglieder nach Volpriehausen unmittelbar mit dem gescheiterten Attentat auf Adolf Hitler am 20. Juli 1944 zu tun hatte. Denkbar ist aber auch, dass die Einweisung der ausländischen Künstler in die gefürchtete unterirdische Munitionsproduktionstätte in Volpriehausen eine kollektive Strafmaßnahme wegen der
Flucht der holländischen Künstlerkollegen war.

 


Quellen und Literatur:

Verschiedene Anstellungsverträge für ausländische Künstler, StadtAGö AHR I E 2 Fach 7 Nr. 12, Bl. 30 f., Bl. 100, Bl. 102, Bl. 106, Bl. 108, Bl. 110 f., Bl. 113, Bl. 117, Bl. 124, und ebd. Nr. 13, Bl. 14, Bl. 16, Bl. 18, Bl. 20, Bl. 22, Bl. 24, Bl. 26, Bl. 28, Bl. 30, Bl. 34, Bl. 142, Bl. 167, Bl. 172, Bl. 189, Bl. 192 und ebd. Nr. 14 , Bl. 200, Bl. 210; verschiedene Verpflichtungsbescheide ebd. Nr. 14, Bl. 34, Bl. 35, Bl. 125, Bl. 199, Bl. 202, Bl. 203, Bl. 205, Bl. 206, Bl. 208, Bl. 209, Bl. 210, Bl. 213, Bl. 214, Bl. 215; Aufstellung 30.11.1943, ebd. AHR I E 2 Fach 7 Nr. 2 Bd. 3, Bl. 67; OB an Stadtkämmerei 20.7.1945, ebd. AHR I E 2 Fach 7 Nr. 145, Bl. 173; Liste 8.9.1944, Ruhstrat an Stadtkämmerei 21.11.1944, 13.1.1945, 20.1.1945, 8.6.1945, Liste 9.11.1944, Liste Eingang 18.12.1944, Liste 8.1.1945 (und weitere Listen bis März 1945), ebd. AHR I E 2 Fach 7 Nr. 14, Bl. 7ff., Bl. 241, 278, 285, Bl. 310, Bl. 225, Bl. 258, Bl. 277 und passim; OB an Firma Merck 29.12.1944, Aufstellung o. D. (26.2.1945), Bescheinigung Heeresstandortlohnstelle 3.5.1945, ebd. Nr. 15, Bl. 194, Bl. 10, Bl. 256.

Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur

Nachrichtendienst DTZ, 20.8.1943 u. Randbemerkung Gnade 2.9.1943, Friedrich an Gnade 3.9.1943, StadtAGö AHR I E 2 Fach 7 Nr. 2 Bd. 3, Bl. 94, BL. 94 v.

Kurzbericht und Mails von Simom K. 30.3.2003, 28.6.2003 und 29.6.2003, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien.

Martin Guse, "Wir hatten noch gar nicht angefangen zu leben". Eine Ausstellung zu den Jugendkonzentrationslagern Moringen und Uckermark 1940-1945. Katalog zur Ausstellung (hg. von der Lagergemeinschaft und Gedenkstätteninitiative KZ Moringen e.V.), Moringen 1992, S. 34.

Ulrike Kingreen, Wie et freuer war: Laewen in Volpriehusen. Der Wandel Volpriehausens im Solling vom Kleinbauerndorf zum Bergleute-, Munitionsarbeiter- und Flüchtlingsdorf in der ersten Hälfte dises Jahrhunderts, Göttingen 1986, S. 235-249.

Detlev Herbst, Die Heeresmunitionsanstalt Volpriehausen, in: Rüstungsindustrie in Südniedersachsen während der NS-Zeit (hg. von der Arbeitsgemeinschaft Südniedersächsicher Heimatfreunde e.V.), Mannheim 1993, S. 39-65.

 


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