Diebstahl und Bettelei

"Russische Zivilarbeiter beim Diebstahl von Kartoffeln ... festgenommen und in Polizeigewahrsam Göttingen eingeliefert", "Wäschediebstahl durch Ostarbeiterinnen", "Einsteigediebstahl durch Ostarbeiter entwendet 60 Pfd. Reis aus Gemeinschaftsküche", "Anzeige wegen Diebstahls von Kartoffeln aus Eisenbahnwagen, vermutl. ausländischer Arbeiter", "Anzeige wegen Diebstahls v. Kleidungsstücken durch Ostarbeiterin", "1 Paar Schuhstiefel entwendet, vermutl. durch ausländische Arbeiter eines Kohlenhändlers", "Diebstahl von zwei Broten (Ausländer)", "Anzeige wg. Entwendung von 1 Sack Weizenmehl aus einer Ladung auf dem hies. Güterbahnhof (Ostarbeiter)" - so oder ähnlich lauten die Aktennotizen von Orts- und Kriminalpolizei über die von Zwangsarbeitern begangenen Diebstahldelikte und offenbaren damit die übergroße Not, in der sich vor allem die "Ostarbeiter" in den letzten Kriegsjahren befanden. Weder die Verpflegung war ausreichend, noch die Ausstattung mit Kleidung oder gar - wie eigentlich vorgeschrieben - mit besonderer Arbeitskleidung gesichert. Es verwundert daher nicht, dass in den Tagesmeldungen der Göttinger Kriminalpolizei, die seit Ende 1943 überliefert sind, die Anzeigen und Festnahmen von Zwangsarbeitern wegen Lebensmittel- oder Kleidungsdiebstahl weit überwiegen und alle anderen Festnahmegründe (auch der "Arbeitsvertragsbruch") dagegen kaum ins Gewicht fallen. Allein in den Monaten Januar bis einschließlich Juli 1944 wurden 26 OstarbeiterInnen und eine Polin wegen Diebstahl von Kleidung oder Lebensmitteln angezeigt und/oder festgenommen, gegenüber nur fünf Anzeigen wegen "Arbeitsvertragsbruchs" (Polen und "Ostarbeiter"). Insgesamt wurden zwischen Februar 1944 und Dezember 1944 68 sowjetische Zwangsarbeiter bei Diebstählen erwischt, wobei der Höhepunkt der Anzeigen und Festnahmen in den Wintermonaten November und Dezember 1944 lag. Nicht enthalten sind in diesen Zahlen beispielsweise die fünf Ostarbeiter aus dem Lager Schützenplatz, die im Mai 1943 beim Kartoffeldiebstahl in Elliehausen erwischt wurden, oder die "Ostarbeiterin", die als Ladearbeiterin auf dem Güterbahnhof arbeitete und im Dezember 1944 dabei erwischt wurde, wie sie eine Handvoll Bohnen vom Boden eines Waggons aufhob. Sie wurde von der Gestapo verhört, für drei Tage ins Göttinger Polizeigefängnis eingeliefert und anschließend an einen ihr unbekannten Ort sozusagen strafversetzt, wo sie drei Monate unter verschärften Bedingungen arbeiten musste, bis sie im Frühjahr 1945 wieder an ihren Arbeitsplatz in Göttingen zurückkehrte.
In den letzten Kriegsmonaten finden sich in den Akten vereinzelt auch Lebensmitteldiebstähle durch französische Kriegsgefangene und auch durch holländische Zwangsarbeiter

"Jedes Mitleid ist fehl am Platze.."

Auf Beschwerden von Betrieben hin, die sich über die mangelnde Arbeitsleistung der unterernährten und entkräfteten OstarbeiterInnen beschwert hatten, war im letzten Kriegsjahr reichsweit die formale Gleichstellung der "OstarbeiterInnen" mit den anderen Zwangsarbeitern erfolgt, was unter anderem zur Folge hatte, dass ihr Bewegungsspielraum etwas vergrößert wurde und sie ihre Lager stundenweise verlassen konnten. Dies nutzten einige von ihnen, um sich bei Deutschen etwas zum Essen zu erbitten.

"In der letzten Woche häufen sich die Klagen und Beschwerden über die nach Lebensmitteln bettelnden Ostarbeiter und deren Kinder. Mit Beuteln, ja sogar mit Säcken, ziehe diese eigens zu diesem Zweck in Lumpen gehüllte Menschen von Haus und Haus Haus und von Tür zu Tür und betteln um Brot und Kartoffeln. Ich habe diese Tun zunächst als eine Einzelerscheinung angesehen, muss jedoch nunmehr feststellen, nachdem sich die Klagen und Beschwerden häufen, daß hier sich etwas epedemisch entwickelt, das sich zur Plage auswirkt und schärfster Beachtung verdient. Trotz eingehender Belehrung der Deutschen Menschen finden sich immer wieder mitleidige Trottels, vor allem unter den Frauen, die diesem herumstreichenden Gesindel ihr letztes Brot usw. geben. Außer den polizeilichen Maßnahmen [gegen die Ostarbeiter] wäre m. E. ein Hinweis in der Zeitung angebracht, daß diejenigen Volksgenossen, die den Ostarbeitern Brot und andere Lebensmittel schenken mit der Sperrung der ihnen zustehenden Lebensmittelkarten zu rechnen [haben], da sie ja zuviel davon haben."

Dies schrieb der Ortsgruppenleiter der Ortsgruppe Sültebeck der NSDAP (Sültebeck ist ein Göttinger Ortsteil um den Maschmühlenweg, wo es viele Zwangsarbeiterlager lag; auch das größte Ostarbeiterlager "Schützenplatz" lag ganz in der Nähe) am 8. Juni 1944 an die Kreisleitung der Partei. Offiziell gab es die Bestrafung von Deutschen durch Entzug von Lebensmittelmarken übrigens nicht; der Vorschlag war eine Eigeninitiative des Ortsgruppenleiters. Die Kreisleitung leitete den Bericht an die Polizei weiter, diese wiederum an die Gestapo, und diese verfügte, dass bettelnde Zwangsarbeiter festgenommen und der Gestapo überstellt werden sollten. Bereits am 24. Juni 1944 wurden dann in Göttingen zwei jugendliche Ostarbeiter wegen Bettelns festgenommen und der Gestapo übergeben (im Oktober und November 1944 und im Januar 1945 erfolgten dann noch fünf weitere Festnahmen wegen dieses "Delikts"). Anlass der Göttinger Antibettelaktion war eine Denunziation eines Anwohners der Sültebeckbreite, die nebenstehend abgebildet ist. Auf den entsprechenden oben zitierten Bericht der NSDAP Ortsgruppe Sültebeck fühlte sich dann der Göttinger NSDAP-Kreisleiter Gengler bemüßigt, am 15.6.1944 ein Rundschreiben über die "Bettelei fremdvölkischer Arbeitskräfte" zu verfassen, in denen den hungernden "Ostarbeitern" in der bekannten menschenverachtenden Weise unterstellt wurde, dass "sehr häufig zur wirksameren Durchführung dieser Bettelei die verhandenen Kleidungsstücke gegen zerlumpte Kleidung ausgetauscht wurde[n], um mehr Mitleid erregen zu können." Die "fremdvölkischen Arbeitskräfte" bekämen ausreichend Verpflegung nicht nur für sich selbst, sondern auch für ihre Familienangehörigen. Und in Verkehrung der wirklichen Verhältnisse fuhr Gengler dann fort:

"Es ist daher nicht nötig, durch Betteln der deutschen Bevölkerung noch das wegzunehmen, was ihr für den eigenen Bedarf zukommt. Jedes Mitleid ist fehl am Platz und jede Abgabe von Lebensmitteln an fremdvölkische Arbeiter außerhalb ihres regulären Verpflegungssatzes, ein Unding."

Offiziell strafbar war dieses Mitleid allerdings nicht. Der Kreisleiter konnte nur Anweisung geben, daß "jede Unterstützung dieser Bettelei durch Schenkung von Lebensmitteln mit allen Mitteln unterbunden wird."

Und in der NS-typischen Mentalität, überall Verschwörungen gegen Staat und Partei zu vermuten, folgte abschließend:

"Ob die in der letzten Zeit besonders starke Zunahme der Bettelei nicht andere Gründe als lediglich die Beschaffung von Lebensmitteln hat, kann im Augenblick noch nicht übersehen werden. Ich bitte die Ortsgruppenleiter jedoch, in dieser Hinsicht besonders wachsam zu sein und mir über verdächtige Vorkommnisse sofort Meldung zu erstatten."

Wie die Göttinger auf das Elend und die Not der Zwangsarbeiter direkt vor ihren Augen reagierten, war natürlich individuell verschieden. Direkt gefährdet waren sie - im Gegensatz zu den bettelnden "OstarbeiterInnen" - in der Regel nicht, wenn sie sich nicht allzu vehement für die Zwangsarbeiter einsetzten. Einige zumindest, so kann man aus der abgebildeten Denunziation positiv schließen, haben denn ja auch den bettelnden Zwangsarbeitern wohl etwas gegeben, andere sahen sich getreu dem offiziellen Feindbild vom "fremdvölkischen Untermenschen" veranlasst, die von diesen ausgehenden "Belästigungen" zur Anzeige zu bringen, die meisten aber werden - wie schon bei den Juden - weggesehen haben, was angesichts der massiven Präsenz der Zwangsarbeiter in Göttingen allerdings ein sehr hohes Potential an Leugnungsfähigkeit erforderte.

Jelena Kijan über die Reaktion von Göttingern auf ihre Versuche, sich Lebensmittel zu beschaffen.
Siehe dazu beispielsweise auch die Erinnerungen der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen von Schöneis (später Reichsbahn) und die Erinnerungen des damals zehnjährigen Egon J.

Denunziation von bettelnden Zwangsarbeitern durch einen Göttinger Bürger 4.6.1944 (Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 524)



Quellen und Literatur:

Tagesmeldungen der Krimninalpolizeileitstelle Hannover - Außenstelle Göttingen Bd. 1 Dezember 1943- Juli 1944, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 175 Nr. 1 (Zitate Meldungen vom: 25.1., 13.3., 13.4., 30.5., 23.6., 11.7.); Band 2 August 1944 bis März 1945, ebenda; Bericht Gendamerie Elliehausen an Landrat 9.5.1943 (1. Zitat in der Aufzählung der Diebstahldelikte), NSDAP Ortsgruppe Sültebeck an Kreisleitung 8.6.1944, Denunziation 4.6.1944 (Abbildung), Gestapo an Ortspolizei 14.6.1944 (2 jugendliche "Ostarbeiter" verhaftet), Aktennotiz 23.6.1944, Ortspolizei an Kreisleitung 24.6.1944, Rundschreiben Kreisleiter 15.6.1944, ebenda Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 482, Bl. 523-529, Bl. 531.
Fragebogen Olga Iwanowna B., geb. 27.1.1926, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien, Korrespondenz.

Anschütz, Janet / Heike, Irmtraud, Feinde im eigenen Land. Zwangsarbeit in Hannover im Zweiten Weltkrieg, Bielefeld 2000, S. 47 f.

Prüger, Kathrin, Osteuropäische Zwangsarbeiter (1939-1945) im Regierungsbezirk Braunschweig. Untersuchungen zu ihren Lebensbedingungen und ihrem Verhältnis zur deutschen Bevölkerung, Staatsexamensarbeit Göttingen 1988 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen), S. 45.  


 Impressum