Erinnerungen ehemaliger Zwangsarbeiterinnen der Textilfabrik Schöneis (später Reichsbahnausbesserungswerk, Landwirtschaft oder Wein- und Essigfabrik Grotefend)

Von acht ehemaligen Zwangsarbeiterinnen der Textilfabrik Schöneis liegen uns Erinnerungen vor. Alle acht wurde im Mai oder Juni 1942 direkt aus der Ukraine - teilweise aus dem gleichen Dorf - gewaltsam nach Göttingen verschleppt. Sie arbeiteten unterschiedlich lang bei Schöneis - von nur anderthalb Monaten bis längsten ein Jahr - und wechselten dann entweder in die Landwirtschaft oder zur Reichsbahn, in einem Fall auch zur Wein- und Essigfabrik Grotefend. Die "Ostarbeiterinnen" arbeiteten im zweiten Stock der Fabrik unter der Aufsicht von Frau Schöneis (der Fabrikeigner Willy Schöneis war zeitweise an der Front) und es gab sogar eine Dolmetscherin, eine Revolutionsemigrantin von 1918.

Die Aufgabe der Zwangsarbeiterinnen war es, fehlerhafte Teile auszubessern, zu stopfen, auch alte oder fehlerhafte Wollerzeugnisse wieder aufzurippeln; einige arbeiteten auch direkt an den Strickmaschinen, wo vor allem Gamaschen, Socken und Mützen, aber auch Mäntel hergestellt wurden. Offensichtlich wurden auch schon gebrauchte Kleidungsstücke wiederverwertet. Eine der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen erinnerte sich daran, dass immer wieder auch blutige Socken ankamen und in einer von diesen Socken angeblich sogar noch die dazugehörigen Füße gesteckt haben sollen.

Untergebracht waren sie in der Schöneisschen Baracke in der Groner Landstraße 55 oder im Lager Schützenplatz, nach dem Wechsel zur Reichsbahn in deren Lager auf der Masch.

Die Arbeitszeit bei Schöneis dauerte von 7.00 Uhr morgens bis 8 Uhr abends, mit einer Mittagspause, Sonntags war frei. Entlohnt wurden die Arbeiterinnen von Schöneis mit 3,00 RM monatlich, wofür sie sich in einem Laden Kohl und Rüben kaufen konnten. Zu Essen bekamen die Zwangsarbeiterinnen sonst nur Kohl- oder Rübensuppe, die sog. Balanda, abends manchmal Kartoffeln und Kaffee-Ersatz, außerdem 200 bis 300 gr Brot am Tag. Wir bekamen, schrieb eine der ehemaligen Zwangsarbeiterinnen "Rüben mit Würmern und 100 gr Brot. Die Suppe konnte man kaum essen. Wir aßen 3 Mal pro Tag, aber kein normales Essen. Wir hatten immer Hunger." Diese Zwangsarbeiterin wurde - weil sie in dem einen Jahr bei Schöneis fast verhungert wäre, 1943 zu einem Bauern nach Spanbeck geschickt, danach kam sie aber wieder zur Reichsbahn. Das Hungergefühl blieb bestimmend für ihre Erinnerungen an ihre Zwangsarbeit in Göttingen: "Wir hatten endlos Hunger. Ich war so ausgetrocknet, dass man meine Knochen zählen konnte. Immer Hunger, Angst."

Kleidung erhielten die Zwangsarbeiterinnen während der drei Jahre in Deutschland nur ein Mal (Kittel und Holzschuhe), ansonsten trugen sie, was sie von zu Hause mitgebracht hatten. Die Zwangsarbeiterinnen, die später auf dem Land arbeiteten, bekamen manchmal getragene Kleidung von der Bäuerin, eine dieser Bäuerinnen kaufte "ihrer" Zwangsarbeiterin sogar ein einfaches Kostüm. Eine andere aber erinnert sich auch daran, dass sie Kleidung bekamen, "als die Juden ermordet wurden. Ihre Kleidung gab man uns. Das war die Art von Humanität damals."

Die deutschen Bürger, auf die sie außerhalb des Lagers trafen, nannten sie oft "Russische Schweine", andere halfen ihnen aber auch: "Die Deutschen, die in der Nähe des Lagers wohnten, brachten uns Kartoffeln und Brot." "Bei der Reichsbahn arbeitete mit mir zusammen eine Deutsche, die Lisa hieß. Sie brachte mir manchmal Brot mit, legte es in ein Schränkchen und sagte:'Nina, guck mal!' und zeigte auf das Schränckchen." "Im Lokomotivwerk teilten die Arbeiter das Essen mit uns." Aber auch: "Uns gab man nichts, bot uns nichts an. Es gab auch gute Deutsche, aber sie hatten Angst vor der Polizei." Und dieselbe Zwangsarbeiterin, die im Lager Schützenplatz untergebracht war, über das Betteln: "Ja, ich habe gebettelt. Ich habe meine Hand durch den Stacheldraht gesteckt, aber keiner hat reagiert. Ich wurde ausgelacht."

Angst war ein bestimmendes Element aller dieser Erinnerungen, vor allem den Zwangsarbeiterinnen, die später zur Reichsbahn wechselten, drohten offensichtlich auch die Prügelstrafe und sie erlebten den Luftangriff auf das Reichsbahnlager Masch mit: "Es gab Luftangriffe, Tote und Prügelstrafen."
Und wieder die Zwangsarbeiterin, die später in Spanbeck arbeitete: "Ja, ich habe miterlebt, wie andere Zwangsarbeiter bestraft wurden. Sie haben uns geprügelt und verhöhnt. Wir wurden sehr brutal wegen Kleinigkeiten bestraft. Die Polen wurden gehängt und wir wurden gezwungen, das alles mit anzusehen." Öffentliches Erhängen wurde vor allem auf dem Land als Strafe häufig vor allem für den sog. verbotenen Umgang verhängt. Über ihre Zeit im Lager Schützenplatz: "Wir hatten kein Recht, uns frei zu bewegen. Wir waren damals sehr jung. Überall gab es Polizei, die Angst und Schrecken verbreitete. Wir hatten Angst vor dem Tod, vor Prügeln. Wir schliefen auf dem Boden, in 4stöckigen Betten...".
Und auch mit der Gestapo machten die "Ostarbeiterinnen" bei Schöneis und der Reichsbahn Bekanntschaft. "Ich war [14 Tage] bei der Gestapo als Zeugin wegen eines Diebstahl und sah die Folterkammer. Es gab dort spezielle Einrichtungen mit Peitschen. Ich sah auch die Todesstrafe durch Erhängen."
Eine andere Zeitzeugin: "Ich war einmal Augenzeugin, als eine Belgierin [beim Reichsbahnausbesserunsgwerk] ein Werkzeug zerbrochen hat. Der Meister hat sie geprügelt. Danach sah ich sie nicht wieder."
Und nach dem Luftangriff auf das Lager Masch: "Wir wuschen die Toten und legten sie auf einen LKW." "Die Toten wurden zum Friedhof gefahren und in besondere Gruben gelegt. Diese Arbeit wurde von den Männern in unserem Lager erledigt."

Auch über eigene Krankheiten schrieben die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen: "Ich hatte Magenschmerzen und die Bäuerin kochte zwei Tage für mich eine Suppe. Eine deutsche Flüchtlingsfrau gab mir Tabletten." Oder eine Zwangsarbeitern der Reichsbahn: "Nach einer Erkältung war meine rechte Wange geschwollen. Der Werksarzt machte mir eine Kompresse und schrieb mir einen Krankenschein für eine Woche aus und dann immer weiter. So blieb ich drei Wochen in meiner Baracke." Doch es gab natürlich auch schwerere Erkrankungen: "Ja, ich war so krank, dass ich beinahe gestorben wäre. Ich kam nich in die Klinik, sondern in eine getrennte Baracke, in der sich viele Kranke befanden. Es gab dort einen deutschen Arzt, an dessen Name ich mich nicht erinnere." Wahrscheinlich meint sie den aus Prag stammenden Arzt Dr. N., der für die Krankenbaracke der Zwangsarbeiter zuständig war. Und eine andere ehemalige Zwangsarbeiterin berichtete, dass sie Wunden und Geschwüre an ihren Händen gehabt habe, die insgesamt neunmal aufgeschnitten werden mussten. Dies geschah ambulant in eine Klinik. Doch war eine solche Behandlung natürlich nicht die Regel: "Ich wurde bestraft und in den Bunker geworfen, dafür dass ich sehr erschöpft war und viel geweint habe und nicht arbeiten konnte. Meine Freundin M. hat deshalb auch sehr geweint. Ein Polizist hat sie gefragt: 'Warum weinst du denn?' Sie hatte Angst vor ihm und sagt, sie hätte Zahnschmerzn. Der Poliziet hat sie zum Zahnarzt gebracht und der hat ihr drei gesunde Zähne herausgerissen." Und diese ehemalige Zwangsarbeiterin schrieb abschließend: "Ich habe sehr gelitten, wegen meiner Unfreiheit. Das alle hat meine Gesundheit geschädigt. Nach dem Krieg habe ich in meiner Heimat in einem Krankenhaus für psychische Krankheiten gelegen. Im Moment habe ich kein Geld, um mich zu behandeln zu lassen, weil alles so teuer ist."

Eine der Zwangsarbeiterinnen von Schöneis (anschließend Reichsbahn). Das Foto wurde von dem Göttinger Fotografen Hübner gemacht. Wahrscheinlich für einen Arbeitsausweis.

Nikolaj Iwanowitsch M., geb. am 9. Mai 1918, gestorben am 2. November 1997.

Doch geschahen in diesem ganzen Leid auch gute Geschichten: Eine der Zwangsarbeiterinnen von Schöneis, lernte im Reichsbahnlager Masch ihren späteren Mann kennen: "Im Herbst 1943 kam ich in das Arbeitslager [der Reichsbahn] in der Stadt Göttingen. Dort habe ich meinem zukünftigen Mann kennengelernt. Er lebte vorher schon in diesem Lager und arbeitete in Göttingen bei den Lokomotivwerk im Kesselhaus als Heizer. Sein Vorgesetzter in dem Werk war ein Deutscher, 180-190 cm groß, nicht dick, das Gesicht etwas länglich, helle Haare. Der Vorgesetzte war gutmütig, höflich, seine Beziehungen zu den Arbeitern waren respektvoll, er mochte die Reinlichkeit und Ordnung. Oft war ich in der Mittagspause in dem Kesselhaus, doch an den Namen dieses Manns erinnere ich mich nicht. M. war ein zuverlässiger und gehorsamer Mann, dafür wurde er von dem Vorgesetzter unterstützt und mit Lebensmitteln aufgemuntert. Ich bin dem Schicksal dankbar, daß ich in dem Lager in Deutschland diesen Mann getroffen habe. Unsere Tochter wurde am 9 Mai 1945 geboren. Die Amerikaner haben mich als Kranke sofort am Tag der Befreiung in ein Krankenhaus gebracht und ich bekam sofort Hilfe. Ich wurde von deutschen Ärzten und Krankenschwestern behandelt. Ich schicke Ihnen das Foto von meinem Mann, das in dem Lokomotivwerk gemacht wurde. Dort wurden alle fotografiert, aber mein Mann hate die Möglichkeit, seine Fotos zu bekommen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar , wenn Sie mir das Foto zurücksenden würden."


Quellen und Literatur:

Entnazifizierungsakte, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Nds. 171 Hildesheim Nr. 17089.

Fragebögen Olga Petrowna G., geb. 6.10.1924, o.D. (Eingang 12.3.2002), Nina Timofejwena L., geb. 12.5.1925, o.D. (Eingang 30.12.2002 mit Foto), Maria Fjodorowna S., geb. 9.1.1922, o.D. (Eingang 11.1.2001), Anna Maximowna S., geb. 6.6.1926, o.D. (Eingang 30.12.2000), Maria Prochorowna K., geb. 5.7.1922, o.D. (Eingang 18.1.2001), Nina Stachowna P., geb. 8.2.1925, o.D. (Engang 18.4.2001), Anna Lujanowa S., geb. 27.5.1925 o.D. (Eingang 1.2.2002), Jekaterina Iwanowna G., geb. 15.7.1920 o.D. (Eingang 8.12.2001), Stadtarchiv Göttingen Sammlung 32- Tollmien, Korrespondenz und Fotos.

 


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