NS-Zwangsarbeiter: Westukrainer |
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Nach dem Überfall auf die Sowjetunion kam im Oktober 1941 als erstes eine größere Gruppe aus den von der Sowjetunion 1939 annektierten ehemals ostpolnischen Gebieten der Ukraine nach Göttingen. Insgesamt waren dies um die 60 Arbeiter, die – wie die Polen – den Göttinger Kohlenhändlern und der Reichsbahn zugewiesen wurden. Ein vergleichsweiser kleinerer Teil von ihnen war als Polen und der Rest als Ukrainer ausgewiesen. Dabei handelte es sich um Westukrainer, die als "Polen ukrainischen Volkstums" galten, weil ihre Heimat dem polnischen Generalgouvernement eingegliedert worden war. Die Westukrainer waren formal den Polen gleichgestellt, auch wenn diese ausdifferenzierten "ethnischen" Unterscheidungen der NS-Zwangsarbeiterhierarchie mit Fortschreiten des Krieges häufig wenig beachtet und viele Ukrainer wie "Ostarbeiter" behandelt wurden. Die ersten Ukrainer aber galten in Göttingen offensichtlich als "Polen" und wurden sowohl bei der Reichsbahn (Wohnbaracke, Güterbahnhofstraße 9) als auch bei den Kohlenhändlern während des gesamten Krieges gemeinsam mit Polen untergebracht.
Darüberhinaus sind in Göttingen nur noch bei Vohl & Söhne eine kleinere Gruppe und bei Feinprüf eine größere Gruppe von Zwangsarbeitern explizit als Ukrainer ausgewiesen, wobei bei letzteren nicht sicher ist, ob es sich nicht doch um "Ostarbeiter" handelte. Einzelne Westukrainer arbeiteten beispielsweise auch beim Städtischen Betriebsamt, bei Lebensmittelhändlern, bei dem Holzfassbetrieb Hopf und bei Keim. Einzelne (West-)Ukrainerinnen waren schon seit Sommer 1941 bei der Rüstungsfirma Lambrecht und seit Oktober 1941 in den Göttinger Gaststätten beschäftigt. Westukrainische und polnische Arbeitskräfte, die die schwere Arbeit bei den Kohlenhändler nicht aushielten, wurden teilweise auch zur Firma Ruhstrat versetzt. Weil ein Teil der Ukrainer die deutschen Besatzer als vermeintliche Befreier begrüßt hatte und viele von ihnen im Laufe des Krieges zu Kollaborateuren wurden, geht man in der Regel davon aus, dass zumindest die ersten ukrainischen Arbeiter, die während des Krieges nach Deutschland kamen, "Freiwillige" waren. Dies ist, wenn überhaupt, nur die halbe Wahrheit. Von Zeitzeugen wissen wir, dass in der Ukraine auch schon im Herbst 1941 ganze Dörfer aufgefordert wurden, bestimmte Kontingente von Arbeitern für den Reichseinsatz zu stellen. Wer sich nicht freiwillig meldete, wurde dennoch nach Deutschland geschickt, bekam aber eine schlechtere Arbeitstelle, die Familie war Repressalien ausgesetzt und vor allem die sowieso sehr prekäre Versorgung der Zurückgebliebenen mit Lebensmitteln war gefährdet. Bei der deutschen Besatzungsbehörde oder in Deutschland selbst Arbeit zu suchen, war für die meisten Ukrainer die einzige Überlebenschance. Insgesamt arbeiteten von Oktober 1941 bis Kriegsende in der Stadt Göttingen (einschließlich Geismar, Grone und Weende) nach neuesten Schätzungen etwa 250 (polnische) Ukrainer, so diese ausgewiesen sind. Die übrigen sind in der Zahl der "Ostarbeiter" enthalten.
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Polnische und ukrainische Kohlenarbeiter 1942/43 (Foto Stan Goik)
Arbeitskarte genauer ansehen, Siehe auch Fotos von Stan Goik
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Unterbringung/Lager: |
Die obigen Schätzungen für die Anzahl der westukrainischen Arbeiter beruhen auf der Auswertung und einer entsprechenden Hochrechnung von 24,12 % der insgesamt 1082 Kisten (Zahl bereinigt um Kisten mit ausschließlich typisch deutschen Namen wie Müller, Schmidt, Schulze) der alten Einwohnermeldekartei, die im Stadtarchiv Göttingen aufbewahrt wird; ergänzt durch Statistiken August/September 1944, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 541f. , Bl. 544-547.
Kontrolle 5.2.1942-22.12.1942, Stadtarchiv Göttingen, Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 449, Bl. 451, Bl. 471; Anträge, Pläne Genehmigung 9.10.1942-29.6.1943, ebd. Baupolizei XX B Fach 112 Nr. 68 o.P.
Lagerliste auf Anforderung der Gestapo vom 4.8.1944 und vom 6.9.1944, Stadtarchiv Göttingen Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 542-547.
Zeitzeugenaussagen A.G. 11.5.2003, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32 - Sammlung Tollmien.
Foto Kohlenhändler (Stan Goik), Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien.
Literatur:
Rolf Dieter Müller, Die Rekrutierung sowjetischer Zwangsarbeiter für die deutsche Kriegswirtschaft, in: Ulrich Herbert (Hg.): Europa und der „Reichseinsatz“. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge in Deutschland 1938-1945, Essen 1991, S. 234-250, hier S. 235.
Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart München 2001, S. 72 f.