Anna Petrowna T., geb. 18.7.1922 deportiert im Oktober 1942 (Haushalt, Spindler & Hoyer) |
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Anna Petrowna T. schrieb über ihre Zwangsarbeit in Göttingen in zwei Briefen und einem Fragebogen. Ihre Antworten werden hier thematisch sortiert, ineinander verschränkt wiedergegeben:
"Ich wurde am 23.10.1942 gemeinsam mit 100 anderen Menschen verschleppt. Nachts kam ein Polizist, weckte mich und gab mir eine Stunde Zeit zum Packen. Dann wurde ich von meiner Familie weggerissen und abgeführt. Wir wurden in Güterwagen geladen und nach Westen gefahren. Wir fuhren sehr lange. Manchmal wurden wir in der Steppe unter Bewachung der Soldaten mit Maschinengewehr hinausgelassen, um unsere Notdurft zu verrichten. In den Wagen gab es sehr wenig Platz, schlafen konnte man nur auf dem Boden, zusammengedrückt. In einer Stadt, es scheint Grodno gewesen zu sein, wurden wir zum Waschen geführt, und dann weiter nach Deutschland gefahren. Auf einem Bahnhof in Deutschland wurden wir in ein Gebäude geführt, wo viele Regale standen. Dort lagen vielfarbige Scheiben, wir durften eine von ihnen nehmen. Ich, meine Cousine Maria T., meine Freundinnen Dina Sch. und Lidia Sch. haben Scheiben mit gleichen Farben genommen. Deshalb sind wir zusammen nach Göttingen gekommen. Wir kamen in Göttingen am 26.11.1942 an. In Göttingen wurden wir zuerst in das Ostarbeiterlager [Lager Schützenplatz] gesteckt. Das Lager befand sich etwas außerhalb der Stadt, rings um das Lager war Stacheldraht. Einige Tage haben wir in der Baracke gewohnt. Wir schliefen in hölzernen Doppelstockbetten. Die vielen Baracken waren auch aus Holz. In einigen von ihnen wohnten Frauen, in den anderen die Männer. In einigen Baracken waren Herde „Bourschuika“ und Wasser. Die Toiletten waren in der Nähe der Baracken, aus Ziegel und Holz gebaut. Beim Ausgang des Lagers verrichteten Soldaten mit Maschinengewehren Dienst. Nach einigen Tagen wurden wir von deutschen Frauen mitgenommen. So kam ich zur Familie Kunze, meine Cousine kam in eine andere Familie. Bei der Familie Kunze habe ich jeden Tag alle Hausarbeiten geleistet. Nur sonntags, nachdem ich das Geschirr nach dem Mittagsessen abgeräumt hatte, bekam ich die Erlaubnis, das Haus zu verlassen, bis 5 Uhr abends. Später durch die Stadt zu gehen, war mir nicht erlaubt. Ich musste dabei unbedingt auf dem Ärmel das Zeichen "OST" tragen. Wenn ich durch die Stadt mit dem Zeichen "OST" ging, schrien mir Jugendliche kränkende Wörter nach. Ich ging meistens zu meiner Cousine und dann gemeinsam mit ihr ins Lager Schützenplatz (um Landsleute zu besuchen). Dort wohnten die Arbeiter unter sehr schlechten Bedingungen, es war sehr wenig Platz, sie hatten Hunger. Alle waren sehr mager und schwach, wurden oft krank, einige von ihnen starben. Die Kranken wurden ins Krankenhaus für die Zwangsarbeiter gebracht. Die Bedingungen dort waren auch schlecht. Sonntags arbeiteten sie nicht und durften das Lager verlassen. Im Herbst gingen sie öfter auf die naheliegenden Felder, um dort die Reste nach der Ernte aufzusammeln: Kartoffeln, Rüben, Kohlblätter. In den Geschäften konnte man ohne Karten Salz kaufen, dann konnte man kochen. Einige, die Glück hatten, wurden von Bauern zur Hilfe in der Landwirtschaft angefordert. Dort bekamen sie echtes Essen. Manchmal durften sie auch Kartoffeln und Rüben mitnehmen, das war ein Glück. Einige von den Zwangsarbeitern, die bei Privatpersonen arbeiteten, brachten denjenigen etwas zum Essen mit, die im Lager bleiben mussten. Meine Cousine Maria bekam von ihrer Hausfrau, die einen Brotladen besaß, ein bisschen Brot oder Grütze, um dies ins Lager zu bringen. Ich konnte nur ein Stückchen Brot vom Frühstück mitnehmen. Manchmal gingen meine Cousine und ich auch ins polnische Lager [gemeint ist wahrscheinlich das Reichsbahnlager Masch, in dem viele verschiedene Nationalitäten untergebracht waren und das auch in den Erinnerungen anderen ehemaliger "Ostarbeiter" gelegentlich als polnisches Lager bezeichnet wird - C.T.], , dort unterhielten wir uns mit Polen, Tschechen und Franzosen, zu denen wir gute Beziehungen hatten. Die hellen Minuten meines damaliges Lebens waren diejenigen, die ich mit den Kinder von Kunze beim Spazierengehen verbrachte." Es waren drei Kinder: Sepil [wahrscheinlich Sibylle - C.T.], Ulrike und Kati. Später bekam Frau Kunze noch ein Mädchen. Aber das war im Jahre 1944, kurz bevor ich in die Fabrik musste, also weiß ich ihren Namen nicht. Gute Beziehungen hatte ich zu einem älteren Deutschen Hans Richter, der 1916 in russischer Gefangenschaft gewesen war. Ich traf ihn an einem See in der Umgebung. Dorthin bin ich gefahren, als ich an Rheumatismus erkrankt war [ein deutscher Arzt hatte mir Wärmeanwendungen verschrieben]. Hans Richter hat sich mit mir unterhalten, einmal schenkte er mir ein ukrainisches Buch. |
Ende August/Anfang September 1944 kam ich zu Spindler & Hoyer. Die Adresse der Fabrik weiß ich nicht. Der Ausgang von der Fabrik führte auf die Strasse, an deren Namen erinnere ich mich auch nicht. Gegenüber der Fabrik stand ein Wohnhaus, in dem alte Menschen und eine junge Frau wohnten. Das habe ich durch das Fenster der Abteilung, in der ich gearbeitet habe, gesehen. In der Fabrik erzeugte man auf Drehbänken Linsen, wahrscheinlich für Ferngläser. Wir waren 8 Ostarbeiterinnen (auch meine Cousine arbeitete dort). Wir schliefen in einem Keller, arbeiteten im 1. Stock, im 2. Stock arbeiteten die deutschen Arbeiter. Dort arbeitete ein deutsches Mädchen namens Gerda. Ihre Beziehung zu uns war gut. Aber der deutsche Aufseher war sehr streng und grob uns gegenüber; ab und zu schlug er uns auf die Hände, wenn wir ein Fehler während der Bearbeitung der Linsen gemacht haben. In der Fabrik gab man uns 200 g Brot, 10 gr Margarine oder Marmelade und Tee; abends bekamen wir einen Teller wässriger Suppe (Balanda). Das Essen war entsetzlich. Uns, den 8 Mädchen, hat ein älterer deutscher Arbeiter geholfen. Er gab uns Reste vom Essen der deutschen Arbeiter. Auch ein alter Mann, der neben dem Werk wohnte, gab uns manchmal etwas zu Essen. Wir nannten diese beiden Deutschen unserer Retter. Sie arbeiteten zusammen mit den anderen älteren deutschen Arbeiter im 2. Stock. Dort war auch ihre Kantine. Diese zwei Deutsche brachten uns in einem Eimer den Rest von dem Essen aus der Kantine. Wenn alle Leute aus der Fabrik weggegangen waren, kochten wir dieses Essen noch mal und aßen es. So haben wir überlebt. Nach der Arbeit wurden wir üblicherweise eingeschlossen. Wir wohnten wir in einem Raum in der Fabrik. Neben der Abteilung, wo wir gearbeitet haben, waren zwei Zimmer. In einem der Zimmer aßen wir, in dem anderen, wo es keine Fenster gab, schliefen wir auf dem Boden auf Matrazen. Manchmal ließ man uns im Hof spazieren gehen. Nachts wurden wir in dem Raum eingesperrt. Aus dem Werk herauszugehen, war uns nicht erlaubt, wir durften uns nur auf dem Hof aufhalten. |
Markenname auf einem Fernrohr von Spindler & Hoyer |
Die nach dem Krieg war in der Ukraine sehr schwer. Fast alles war zerstört. Das Haus, in dem unsere Familie gewohnt haben, war auf Befehl der Deutschen von deutschen Soldaten abgebrannt worden, als sie sich zurückzogen. Meine Familie (und ich) haben lange Zeit in einer Erdhütte gelebt. Dann waren wir in der Lage, ein kleines Haus zu bauen. Lebensmittel und Kleidung gab es nur auf Karten. Ich und die anderen Menschen, die aus Deutschland zurückgekehrt sind, haben schwer gelitten. Wir waren sehr gekränkt durch die zahlreichen Verhöre, denen wir unterzogen wurden: Wie sind Sie nach Deutschland gekommen, was haben Sie dort getan, wie haben Sie sich dort benommen? Die Regierung hat uns nicht vertraut. Aber im Laufe der Zeit wurde das Leben irgendwie wieder normal. Ich habe gearbeitet und gelernt [Anna Petrowna absolvierte eine Fernstudium und wurde Lehrerin - C.T.], eine Tochter und die Enkel großgezogen. Jetzt bin ich Rentnerin, erinnere mich an meine jungen Jahre, die in Deutschland vorbeigegangen sind, an die grüne, schöne Stadt Göttingen, an die Leute, die zu uns Unglücklichen in Krieg gute Beziehungen unterhielten. Ich verurteile die groben, manchmal brutalen Menschen, die sich in den damaligen Zeitung uns gegenüber schlecht benommen haben, nicht. Es ist alles vorbei, die schwere Zeit aber ist nicht spurlos an uns vorbeigegangen- sie zieht einen Mensch hinter sich her und macht ihn verantwortlich für alles, was auf der Welt passiert... Es wäre schön, wenn die jungen Leute das alles nicht vergessen würden und die Feindschaft zwischen allen Menschen auf der Erde endgültig begraben würde. |
Quelle:
Anna Petrowna T., geb. 18.7.1922, Fragebogen und Begleitbrief o.D. (Eingang 17.4.2001), Brief 30.10.2001, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien.