NS-Zwangsarbeit: Jewgenia Timofejewna Sch., geb. 18.11.1924, deportiert im Herbst 1942 (Fleischerei Kraft, Reichsbahn)

Jewgenija Timofejewna Sch., geb. 18.11.1924, wude im Herbst 1942 gemeinsam mit 40 anderen jungen Leuten aus ihrer Gegend nach Deutschland verschleppt. Sie kam zu dem Fleischermeister Edmund Kraft, über den und dessen Familie sie in der Erinnerung nur Gutes zu berichten wusste. Sie erinnerte sich vor allem an den alten Fleischermeister Edmund Kraft, der vier Söhne, von denen drei in die Fußstapfen des Vaters getreten waren. Mit Luise, einen deutschen Verkäuferin, die bei den Krafts arbeitete, freundete sie sich an:

"In dem Haus lebte noch ein Holländer", schrieb sie in einem Brief im Juli 2001. "Er arbeitete als Künstler. Mit ihm zusammen lebte in demselben Zimmer noch ein anderer Junge. Ich habe mit 2 deutschen Mädchen zusammen in einem Zimmer gewohnt und im Haushalt gearbeitet. Wir wohnten im 3. Stock, aber die zwei sind bald fortgegangen und ich bin allein geblieben. Luise hat mich Deutsch gelehrt, sie selbst sprach gut polnisch. Wir haben ein deutsches Wörterbuch gekauft und ich habe ein bisschen gelernt, deutsch zu sprechen und zu lesen. So haben wir uns unterhalten. Luise war verheiratet, ihr Mann war an der Front. Wir waren miteinander sehr befreundet und haben uns abends viel unterhalten. Alles kann man nicht beschreiben. Aber das war ein großer Teil meines Lebens und ich werde es nie vergessen."

Im September 1944 musste Jewgenija wie alle "Ostarbeiterinnen" den Haushalt der Krafts verlassen. Sie kam zur Reichsbahn und wurde dort im Lager Masch untergebracht. Nach dem Bombenangriff am 1. Januar 1945 nahmen Krafts sie wieder bei sich zu Hause auf:

"Als ins Lager Bomben gefallen sind und unsere Baracke zerstört wurde, kam Luise ins Lager mit dem Fahrrad und sagte: "Komm nach Hause, Schenja! Herr Kraft hat gesagt, du sollst wieder bei ihm wohnen." Ich habe gesagt: "Das ist unmöglich, ich muss doch im [Reichsbahnausbesserungs-]Werk arbeiten."
Sie hat gesagt: „Du wirst im Werk arbeiten, aber wohnen wirst du bei Herrn Kraft. Und außerdem hat er noch gesagt, du solltest nicht unter freiem Himmel leben."
Und so wohnte ich wieder bei ihnen, arbeitete im Werk und half ihnen im Haushalt.
Ich stand früh, vor der Arbeit, auf, machte alles im Haushalt und ging dann ins Werk. Kam vom Werk zurück und half wieder im Haus. Und als ich nach Hause nach Russland zurückfahren sollte, hat zu mir Herr Kraft gesagt: „Schenja, wenn es dir in deiner Heimat schlecht ergehen wird oder deine Eltern schon gestorben sind, dann komm zu uns zurück. Die Tür meines Hauses ist für dich immer geöffnet!“ So eine Seele hatte mein Herr."

Einer der Söhne von Kraft wohnte mit seiner Familie im Haus der Eltern und Jewgenija kümmerte sich auch um deren damals gerade geborenen Tochter. Ihr schrieb sie im Oktober 2001 in einem Brief:

"In jener fernen Zeit, während des Krieges, wohnte ich in Göttingen, in Ihren Haus, bei Ihren Großeltern. Ich erinnere mich noch jetzt sehr gut an ihre Gesichter.

Ich erinnere mich an Sie als ein kleines Mädchen. Ihr Gesicht ist aus meinem Gedächtnis verschwunden. Aber sie gingen damals schon mit Ihren kleinen Füßchen. Ich und Luise haben uns viel mit Ihnen beschäftigt. Wir fuhren Sie mit dem Wägelchen ins russische Lager. Luise hatte Sie sehr lieb."

Ich stelle mir Ihr Haus ganz genau vor, ich kenne dort jede Ecke. Im Hof befand sich die Küche, weiter gab es dort eine Kammer zum Herrichten des Fleischs, eine Räucherei, ein großes Zimmer für die Wäsche und auch ein Lager. In dem Hof stand auch ein großer Flieder. Außerdem gab es dort einen Keller, wo wir uns während des Alarms versteckt haben.
Im Haus war links eine Tür zum Esszimmer, von dem aus konnte man in den Laden mit dem großen Schaufenster treten.
Im ersten Stock gab es Schlafzimmer. Im zweiten Stock gab es 4 Zimmer. Dort wohnte Luise. Am Ende des Korridors, rechts, wohnte ein Schuster mit seiner Familie und seinen Jungs, ein Franzose und ein Pole und ein Junge – Hermann - ein Deutscher – mit seiner Großmutter. Er hatte keine Eltern mehr und arbeitete bei Ihren Großvater. Links gab es Zimmer, wo man bügelte und stopfte.
Ich könnte Ihnen unendlich viel schreiben. Aber das Wichtigste, was ich ausdrücken möchte, das ist meine Dankbarkeit Ihren Großeltern gegenüber. Wie gütig sie waren, wie schöne Menschen."

Und nachdem sie auf ihren ersten Brief das nebenstehende Foto von der Goldenen Hochzeit erhalten hatte, schrieb sie:

"Als ich das Fotos von Ihnen erhalten habe, schien es mir, als ob ich wieder mal in Göttingen gewesen sei und mich mit allen Familienmitglieder unterhalten habe. Sie sind alle doch für mich noch am Leben. Ich habe mir das Foto angesehen und mir gedacht, es kann doch nicht wahr sein, dass ich wieder, wenn auch nur in Gedanken, mit ihnen zusammen bin. Es ist sehr angenehm, diese netten Gesichter von gütigen Menschen wieder zu sehen. Als ich das Haus auf dem Foto gesehen habe, habe ich mir gedacht, es wäre schön, wenn ich jetzt in das Haus eintreten und alle diese Menschen mir ansehen könnte. Leider ist das nicht möglich. Mir bleiben nur die besten Erinnerungen an diese Menschen. Das waren meine besten und glücklichsten Jahre. Ich habe in Wohlstand und Wärme gelebt, keine Not gelitten, keiner hat mir ein Leid getan."

Göttinger Adressbuch 1937

Goldene Hochzeit in der Familie Kraft 1940er Jahre

Natürlich sind diese überschwänglichen Erinnerungen auch eine Reaktion auf die Freude, wieder Kontakt zu den Menschen ihrer Jugend zu haben, denen Jewgenija wie alle anderen ehemaligen Zwangsarbeiter auch, nichts Böses zuschreiben wollte. Verständlich wird dieser idealisierende Überschwang, wenn man die von Armut und Krankheit der meisten alten Menschen in der Ukraine bedenkt. Über ihr Leben nach dem Krieg schrieb Jewgenija:

"Nach dem Krieg, nachdem ich nach Hause zurückgekommen war, habe ich Hunger, Kälte und die all die anderen schlimmen Zustände der Nachkriegszeit vorgefunden. Meine Mutter war sehr krank und ich begann zu arbeiten. Im Jahre 1947 heiratete ich. Und dann wurden meine Kinder geboren, eins nach den anderen: Das erste war ein Mädchen, Inna, im Jahre 1948. Aber das Schicksal war brutal zu mir. Das 2 1/2 Jahre alte Mädchen ist an Diphterie gestorben. Ich dachte, dass ich das nicht überleben werde. Dann wurde mein Junge, er heißt Pawlik, 1951 geboren; danach noch ein Junge - Wolodja, im Jahre 1953. Ich wollte sehr gern wieder ein Mädchen haben. Und ich habe es versucht. Aber es war wieder ein Junge – Serjoscha, im Jahre 1958, am 16. März geboren. Am 27. März ist meine Mutter gestorben, sie war sehr krank. Als sie starb, war sie noch jung, sie war 57 Jahre alt.
Also bin ich mit meinen drei Kinder allein geblieben. Und mein Mann trank mehr und mehr. Er wurde aus seiner Arbeit entlassen. Der Vater war auch krank. Und mir ist nichts übrig geblieben, als wieder mit der Arbeit zu beginnen. Ich begann, als Expedient am Brotwagen. Schon hatten meine Kinder weniger Hunger. Ich habe mit meinem Mann die ganzen 16 Jahre nicht zusammen gelebt, sondern mich allein abgequält. Der kleinste Sohn war 3 Jahre alt, als ich meinen Mann, den Vater von meinen Kinder, aus der Familie geworfen habe.
Ich habe 8 Jahre lang allein gelebt, meine Kinder großgezogen und gearbeitet. Und dann, mit 45 Jahren, heiratete ich zum zweiten Mal. Mein Mann, er heißt, Wolodja, ist 17 Jahre jünger, als ich. Gemeinsame Kinder haben wir keine. Meine Söhne heirateten. Pawlik hat eine Frau mit einem Kind, einem Knaben namens Jura, geheiratet. Später brachte seine Frau Nadja zwei Töchter zur Welt: Tanja und Vera. Zur Zeit haben sie schon eigene Familien, haben Kinder, also habe ich schon Enkel und Enkelinnen. Wolodja, der mittlere Sohn, heiratete Ira. Sie haben eine Tochter, Julja, sie ist schon verheiratet und hat einen kleinen Sohn, Witja, das ist mein Enkel. Serjoscha, mein jüngster, heiratete Galja. Sie haben zwei Töchter, Inna und Anja. Sie sind noch ledig, sie studieren und arbeiten. Aber diese Familie existiert nicht mehr. Es ist das Schrecklichste passiert: Serjoscha ist bei einem Autounfall im Alter von 26 Jahren ums Leben gekommen. Das war im Jahre 1984. So brutal ist das Schicksal. Ich dachte damals, dass ich diesen Unfall nicht überleben werde. Das war das Ende meines Lebens. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, am Leben zu bleiben. Aber das Herz hat mir gesagt: Du musst weiter leben. Und ich lebe weiter, meiner Kinder und Enkelkinder wegen.
Dann ist Wolodja von seiner Frau geschieden worden und lebt mit der Frau von Serjoscha, Galja, sie erziehen die Töchter. So ist mein Schicksal.
Mit meinem zweiten Mann lebe ich schon 30 Jahre lang zusammen. Er ist auch kein Geschenk. Er trinkt immer mehr und mehr. Ich jage ihn weg, aber er geht nicht . So lebe ich. Das ist kein Leben, das ist eine Qual. Ich bin doch eine alte und kranke Frau. Ich habe Bluthochdruck, krankes Herz und Leber, meine Beine tun mir weh."

 


 Impressum