NS-Zwangsarbeit: Nikolaj Aleksandrowitsch K., geb. 16.12.1924, deportiert im Juli 1942 (Reichsbahn, danach verschiedene Einsatzorte in Eschwege und "Arbeitserziehungslager Breitenau")

Nikolaj Aleksandrowitsch K., geb. 16.12.1924, wurde im Juli 1942 gemeinsam mit etwa 100= Menschen aus der Stadt Berdjansk nach Göttingen deportiert, wo er zunächst für etwas mehr als einen Monat als Bohrer im Reichsbahnausbesserungswerk arbeitete und danach 13 Monate im Kohlenlager B.B.P.: Sehr wahrscheinlich ist damit die D.B.P. gemeint, die Deutsche Benzin- und Petroleum GmbH, die im Haus des Kohlenhändlers Sonne in der Güterbahnhofstraße 6 eine Versandtstelle hatte. Direkt daneben (Güterbahnhofstr. 8) befand sich die Brennstoffversorgung der Deutschen Reichsbahn und noch ein Haus weiter die Güterabfertigung der Reichsbahn. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Kartaschow entweder von der DBP direkt oder von Sonne oder von der Reichsbahn beim Entladen von Kohlewaggons eingesetzt wurde. In diesem Kohlenlager, berichtete Nikolai Aleksandrowitsch, sei er sehr brutal behandelt worden: "Sie schlugen mich mit Stöcken." Untergebracht sei er zunächst in einem Lager auf dem Gelände des Reichsbahnausbesserungswerk (das das Lager Masch zu diesem Zeitpunkt noch nicht fertiggestellt war, wahrscheinlich wie die anderen Zwangsarbeiter, die aus Berdjansk nach Göttingen kamen, in der Baracke Liebrechtstraße) und dann im Lager Schützenplatz. Im Sommer 1943 wurde er an nach Eschwege versetzt [nach Auskunft des Stadtarchivs Eschwege am 7.7.1943] und arbeitete beim Wiederaufbau von Reichsbahnanlagen.

Aus einem ihm selbst unbekannten Grund wurde er von seinem dortigen Lagerführer Anfang November 1944 in das "Arbeitserziehungslager Breitenau" geschickt, wo er beim Bunkerbau eingesetzt wurde. "Es war schrecklich", schrieb er über seine Zeit in Breitenau. "m Winter trugen wir Schuhe ohne Socken, wir hatten nur eine einzige Hose. Die Ernährung: 1800 kcal. Wir bekanen 250 gr Brot, 1 Liter Wassersuppe, zum Abendessen einen dreiviertel Liter dieser Suppe."

Am 8. Dezember 1944 floh Nikolaj K. aus dem Lager Breitenau. Er schilderte seine Erlebnisse während dieser Flucht in einem ausführlichen Brief vom 28.12.2000:

"Wie ich aus Breitenau geflohen bin:
Beim ersten Mal [er meint seine erste Haftzeit C.T.] wurde ich unter meinen eigenen Namen, K. Nikolai Aleksandrowitsch registriert. Im Spezlager [auf Deutsch in russischer Umschrift - C.T.] wurde uns Lagerkleidung ausgegeben und wir wurden zum Waschen geführt. Dort mussten wir die ausgehändigte Kleidung anziehen und die eigene Kleidung wurde in einen Sack gepackt. Der Lagerarbeiter hat das alles in sein Buch eingetragen.
Dann sind wir vom Arbeitseinsatzsort geflüchtet. [Wen er mit mit wir meint, erklärt Nikolaj Aleksandrowitsch leider nicht - C.T.] Wir sind mehr als 10 Tage durch den Wald gewandert. Nachts versteckten wir uns in Scheunen. Gegessen haben wir die Kartoffeln, die für die Schweine gedacht waren. Bald war uns klar, dass wir in irgendein Lager müssen, um zu überleben.
Einmal, als wir durch den Wald gegangen sind, haben wir gemerkt, dass wir von drei Jungen, die 12- 13 Jahre alt waren, und einem 40-jährigen Mann verfolgt wurden. Sie haben uns auf dem Feld festgenommen, in das Dorf geführt und in eine Scheune gesperrt. Nach 1 -1,5 Stunden ist ein Polizist mit dem Fahrrad gekommen. Uns wurden die Hände gefesselt und wir wurden zur Autobahn geführt. Wir gingen 11 km schweigend. Dann begann der Polizist zu sprechen und fragte uns, woher und wohin wir geflüchtet sind.
Dafür hatten wir eine Version vorbereitet: Wir hätten bei einem Bauern, namens Kurt Waldmann, gearbeitet. Der sei ein sehr böser Mann, der uns schlecht ernährt, geprügelt und zu viel Arbeit gezwungen habe. Deswegen seien wir von seinem Hof geflüchtet.
Nachdem wir 11 km gegangen waren, kamen wir in die Stadt Hersfeld. Dort haben wir uns nach links gewendet und kamen nach 7 min zum Haus des Polizisten. Ich erinnere mich an eiserne Rahmen, Türen, Treppen, die nach oben führten. Der Polizist gab uns einen Stuhl und hat seine Frau gebeten, uns etwas zum Essen zu bringen. Die Frau ist in die Abstellkammer gegangen und hat uns Brot mit Pastete gebracht. Der Polizist hatte 2 Jungen, 10 und 12 Jahre alt, sie machten damals die Hausaufgaben. Als wir gegessen hatten, setzte sich der Polizist hinter die Schreibmaschine und verhörte uns.

Mein Name wurde Sokolow, der meines Freundes Kowalskij. Wir haben uns bei der Frau für das Essen bedankt und haben zusammen mit dem Polizisten das Haus verlassen. Er führte uns ins Gefängnis, berichtete dort einem Beamten und bat ihn, uns in irgendein Lager zu schicken. Der aber hat uns nach Breitenau geschickt. Dort wurden wir erkannt und stark mit dem Stock verprügelt. Dann wurden wir in eine Zelle geführt, wo schon ein Gefangener saß - ein Deutscher, namens Gerhard. Wir galten, als besonders gefährlich, deswegen wurden wir nicht zur Arbeit eingeteilt.

Einmal pro Monat ist eine Abteilung der Gestapo ins Lager gekommen, die über die Gefangenen entschied: Wer noch sitzen mußte, wer entlassen wurde, wer nach Buchenwald gehen musste. Die Leute, mit denen ich in Eschwege festgenommen worden war, waren schon weg. Sie waren schon in Buchenwald. [Zu ihnen gehörte Iwan Iwanowitsch Siwaschtschenko, geb. 17.8.1923, gest. 30.9.2001, der mit Nikolaj Aleksandrowitsch in Göttingen und Eschwege war und mit ihm gemeinsam am 8.11.1944 in das "Arbeitserziehungslager" Breitenau eingewiesen worden war. Er war aber nicht mit ihm gemeinsam geflüchtet, sondern kam am 12.12.1944 in das KZ Buchenwald - C.T.].

Einmal kam das Gerücht auf, es würden viele Leuten entlassen. Und es war wirklich so.
Bei der Morgenaufstellung wurde eine Liste verlesen, wer zur Gestapo kommen musste. Auf der Liste war auch mein neuer Name: Sokolow. Ich habe mich entschieden, als letzter zu dem russischsprechenden Deutschen zu gehen, weil er dann müde sein und mich weniger fragen würde. Als ich zu ihm in das Kabinett kam, sah ich auf dem Tisch einen Aschenbecher voller ausgedrückter Zigaretten. Er sah mich mit müden Augen an und fragte: "Was war besser, bei dem Bauern oder hier?" Ich antwortete:"Bei dem Bauern."
"So, so. Und wenn ich dich zu ihm zurück schicken werde?" Ich antwortete: “Besser in eine Fabrik."
Er sagte: "Geh jetzt!" Und ich ging.
In den nächsten Tagen erzählte man sich, daß viele von uns entlassen worden seien. Nach ein paar Tagen wurde bei der Morgenaufstellung unter anderen auch mein Name aufgerufen: Sokolow. Ich bin vorgetreten und habe mich den Freigelassenen angeschlossen. Wir waren 15 Leute, alles Russen. Wir gingen in das Lager, wo die Säcke mit unserer Kleidung hingen. Alle bekamen ihre Kleidung, nur ich bekam keine. Der Lagerarbeiter hatte eine Liste mit den Zuentlassenen. Dort stand mein Name: Sokolow. Aber einen Sack mit einem solchen Namen hatte er nicht. Und er regte sich deshalb sehr auf. Darauf sagte ich ihm, dass mein Name aus zwei Namen bestehe: K. und Sokolow. Der Lagerarbeiter hat sofort meinen Sack gefunden und ihn mir ins Gesicht geworfen. Ich habe mich schnell umgezogen und mich den Entlassenen angeschlossen.
Nach einer halben Stunde fuhren wir mit dem Zug durch Göttingen, Eschwege und weiter in diese Richtung. So kamen wir zum Arbeitsamt. Dort haben wir eine Überweisung bekommen und nach einem 5 km langen Weg bin ich in dem Dorf Hilkershausen zum Bauer Wicke angekommen. Dort arbeitete schon ein Franzose, Victor, mit dem ich bis zur Befreiung noch 3 Monate gearbeitet habe."

Sie fragen, ob ich in einem "Arbeiterziehungslager" war?
Ich war im Winter in Breitenau: Dort waren viele Franzosen, Belgier, Holländer, Polen und wir, die wir aus der UdSSR stammten. Und was für mich besonders interessant war, dort waren viele der Allierten Deutschlands, die Italiener. Das Lagerregime war für alle gleich: 250 gr Brot, 1 Liter "Balande" [Wassersuppe - C.T.] zum Mittagsessen und ¾ Liter Suppe zum Abendessen. Anzug - Holzschuhe ohne Socken, eine einzige Hose am nackten Körper, ein Hemd - dasselbe für oben und unten, ein Pullover aus Synthetik und eine durchscheinende Jacke. Und die Arbeit im Freien: Winter, Schnee, Frost. Wie kann man ein solches Lager nennen? Ich habe meine eigene Antwort: Das war ein Quällager für noch lebende Menschen."


Quellen:

Fragebogen und Begleitbrief Nikolaj Aleksandrowitsch K., geb. 16.12.1924, 28.12.2000, Fragebogen Iwan Iwanowitsch S., geb. 17.8.1923, o.D.(Eingang 11.2.2001), Auskunft des Stadtarchivs Eschwege vom 12.3.2001, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32-Tollmien.

Hauptaufnahmebuch der Gefangenen, Einträge 8.11.1944 (entwichen 8.12.1944), 8.11.1944 (Abgang 12.12.1944), Gedenkstätte Breitenau, Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 2, Nr. 7633.
Rechnungsbuch "Einnahmen", Einträge für Sokolow 19.1.1945, 22.2.1945, Gedenkstätte Breitenau, Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Bestand 2 Nr. R64

 


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