NS-Zwangsarbeit: Ablieferung von Leichen an die Göttinger Anatomie während der Kriegsjahre |
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Das anatomische Institut der Göttinger Anatomie bezog während des Krieges, wie auch schon in den Jahren zuvor, Leichen zu Ausbildungszwecken für Medizinstudenten aus Strafanstalten (Braunschweig, Wolfenbüttel) und Gefängnissen, Pflegeanstalten (Landespflegeanstalt Schladen, Pflegeheim Winzenburg, Landespflegeanstalt Wunstorf, Heil- und Pflegeanstalt Göttingen), aus Krankenhäusern, der Gerichtsmedizin und dem Landeswerkhaus und KZ Moringen. Auch die Geheime Staatspolizei in Braunschweig und Hannover überließ der Göttinger Anatomie vereinzelt Leichen. Mit der Einrichtung der Arbeitserziehungslager im März 1940 kamen auch Leichen von dort nach Göttingen: so zwei im Jahre 1941 aus dem Arbeitserziehungslager Liebenau und 1942 sogar vier aus dem Arbeitserziehungslager Hallendorf, besser bekannt als Arbeitserziehungslager Watenstedt.
Mit der Ausweitung des Krieges kamen dann auch Leichen aus verschiedenen Kriegsgefangenenlagern aus der näheren und weiterern Umgebung Göttingens in die Anatomie. So stammten von den 1942 an die Göttinger Anatomie abgelieferten insgesamt 79 Leichen (nur zwei davon waren weiblich) allein 23 aus Gefangenenarbeitskommandos, davon direkt in Göttingen sieben aus dem Lager Lohberg, eine aus dem Lager Aluminiumwerke und einer aus einem städtischen Arbeitskommando in den Kiesgruben. Alle diese Gefangenen waren sowjetische Kriegsgefangene. Schon 1941 waren von den insgesamt 90 Leichen (wieder zwei davon weiblich) zwölf aus Gefangenenarbeitskommandos gekommen, und auch diesmal fällt wieder die hohe Zahl von sechs Gefangenenleichen aus dem Lager Lohberg auf. Dort befand sich seit einem nicht genau bekannten Zeitpunkt neben dem Lager für französische Kriegsgefangene auch ein Lager für sowjetische Kriegsgefangene. Nachgewiesen ist das Lager für sowjetische Kriegsgefangene für spätestens April 1942, doch weist die hohe Zahl der abgelieferten Leichen im Jahr 1941, für die es in den überlieferten Friedhofs- und Standesamtsunterlagen keine entsprechenden Eintragungen gibt und bei denen es sich daher mit größter Sicherheit nicht um französische Kriegsgefangene handelte, deren Tod jeweils genauestens vermerkt worden wäre, darauf hin, dass dieses Lager schon 1941 eingerichtet wurde. Es handelte sich bei diesen Toten also mit größer Wahrscheinlichkeit um direkt nach Einrichtung des Lagers an Entkräftung und Hunger gestorbene sowjetische Kriegsgefangene, von denen das NS-Regime ja bekanntlich über zwei Millionen hatte verhungern lassen, ehe man sich nach Scheitern des deutschen Vormarsches in der Sowjetunion im Oktober 1941 gegen alle rassistisch-ideologischen Bedenken entschieden hatte, diese zum Arbeitseinsatz heranzuziehen. |
Beschwerde der Göttinger Friedhofsveraltung beim Kriegsgefangenlager Lohberg über die Anlieferung von Leichen russischer Kriegsgefangener in einer Kiste der Anatomie, die zurückgegeben werden musste, so dass die Toten nackt bestattet werden mussten. (Stadtarchiv Göttingen Grünflächenamt C 83 Nr. 156, Bl. 31). |
Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939-1945, Stuttgart München 2001, S. 72.
Rolf Wessels, Das Arbeitserziehungslager in Liebenau 1940-1943, Historische Schriftenreihe des Landkreises Nienburg/Weser Band 6, Nienburg/Weser 1990.
Nachweisung über die im Kalenderjahr 1942, 1943 und 1944 an das Anatomische Institut abgelieferten Leichen 18.1.1943, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Hann 122a Nr. 3360, Bl. 2 ff.
Friedhofsverwaltung an Kriegsgefangenenlager Göttingen 27.8.1942 (Abb.), Information an Stadtrat Schaper 3.12.1942, Stadtarchiv Göttingen Grünflächenamt C 83 Nr. 156, Bl. 31, Bl. 26, 24.