NS-Zwangarbeit: "Arbeitserziehungslager" Watenstedt

Das "Arbeitserziehungslager Watenstedt" wurde im März 1940 im Einvernehmen und sogar auf Anregung der Konzernleitung der Reichswerke "Hermann Göring" in Salzgitter, die das Lagergrundstück und auch einen Teil der Wachmannschaften kostenlos zur Verfügung stellten, von der Gestapo Braunschweig errichtet. Im Männerlager ("Lager A"), das ursprünglich für 400 Häftlinge geplant war, waren im Sommer 1943 schon 1800 Männer gleichzeitig inhaftiert. Am 1. Juli 1942 wurde das Lager durch ein für 800 Frauen ausgelegtes Frauen-Straflager ("Lager B") erweitert. Bis zum Ende des Krieges waren insgesamt zwischen 26 000 und 28 000 Männer und etwa 7 000 Frauen in Watenstedt inhaftiert. Der Anteil der ausländischen Häftlinge betrug etwa 85 Prozent: tschechische, polnische, sowjetische, französische, niederländische und italienische Gefangene, auch einige Dänen und Staatenlose. Die jüngsten Häftlinge waren Kinder im Alter von 12 Jahren, die Ältesten waren 80 Jahre alt, auch Schwangere wurden in das Lager eingeliefert. Eingewiesen wurden die Häftlinge für 3-8 Wochen, manchmal auch für ein halber Jahr, in einigen Fällen blieben sie über ein Jahr in Watenstedt.
Lagerintern unterschied man zwei verschiedene Gefangenegruppen: Die sog. "Bummelanten", die eine grauen Häftlingskleidung erhielten, auf der mit Ölfarbe "L21" gedruckt war. Da ab 1944 keine Häftlingskleidung mehr geliefert wurde, trugen diese Häftlinge dann ihre Zivilkleidung (Mäntel waren nicht erlaubt). Zu der zweiten Kategorie von Häftlingen gehörten die "aus politischen Gründen" Eingewiesenen, die sog. "Blauen". Sie waren wegen Sabotage, des Abhörens ausländischer Sender, einer politischen Äußerung oder wegen des Geschlechtsverkehrs mit deutschen Frauen angezeigt worden.
Die Gestapo nutzte das Lager auch als Folter- und Hinrichtungsstätte und als Sammellager für Transporte ins KZ. Fast alle im Lager erhängten Gefangenen stammten aus der Häftlingsgruppe der "Blauen". Neben den "offiziellen Hinrichtungen", denen ein genehmigungspflichtiger Antrag der Gestapo beim Reichssicherheitshauptamt vorhergehen musste, gab es zahlreiche Opfer von "Erschießungen auf der Flucht". Fast 1000 Ermordete sind namentlich bekannt.
Die "Arbeitserziehung" bestand in Nahrungsmittelentzug, stündlichem Wecken in der Nacht, stündlich zehn Minuten kalt duschen, Verbrennungen, Zähne ausschlagen, "Sportübungen" nach der Arbeit in schlammigen Boden, schweren Misshandlungen durch Prügel mit harten Gegenständen oder durch bissige Hunde, Bunkerhaft in einer 70 cm breiten, 65 cm tiefen und 190 cm hohen Zelle. Im Innern der Zelle befand sich ein Stück Holz, welches bei geschlossener Tür dem Gefangenen gegen den Leib drückte, so dass er sich nicht setzen konnte.

Aus dem für das Rechnungsjahr 1943 erhaltenen Gefangenbuch des Göttinger Gerichtsgefängnisses wissen wir, dass allein in diesem Jahr 49 Zwangsarbeiterinnen aus dem Göttinger Gefängnis in das "Arbeitserziehungslager Watenstedt" eingewiesen wurden. Darunter waren eine Niederländerin, fünf Französinnen, 22 Polinnen und 20 "Ostarbeiterinnen". Weder die Arbeitsstätten noch die Haftgründe sind in dieser Liste angegeben, doch wissen wir aus anderen Quellen über sechs dieser Frauen (drei Französinnen, zwei Polinnen und eine "Ostarbeiterin") ein wenig mehr und haben von einer von ihnen sogar eine Zeitzeugenaussage über ihre Haftzeit in Watenstedt. Zwei der Französinnen und die "Ostarbeiterin" Jelena Kijan arbeiteten bei der Firma Sartorius in Göttingen und beide wurden - zufällig - an demselben Tag, am 5. Mai 1943 aus dem Göttinger Gerichtsgefängnis nach Watenstedt überstellt:

- Die Französin Olga (in anderen Quellen auch Rolande) Th., geb. am 6. Mai 1918 in Creteil bei Paris, arbeitete ausweislich der erhaltenen Listen der Betriebskrankenkasse von Sartorius seit dem 29. Mai 1943 bei der Firma. Da sie am 5. Mai 1943 aus dem Göttinger Gerichtsgefängnis nach Watenstedt gekommen war, war sie demnach maximal 24 Tage in Watenstedt inhaftiert gewesen (wahrscheinlich waren es drei Wochen). Erst nach ihrer Haft kam sie also zu Sartorius, wobei nicht ganz auszuschließen ist, dass sie auch schon vorher dort gearbeitet hatte, da die Listen der Betriebskrankenkasse wahrscheinlich nicht vollständig sind. Den Grund ihrer Inhaftierung und ihre Haftumstände kennen wir nicht. Sie wurde allerdings noch dreimal im Februar und im August 1944 und im Januar 1945 als Patientin der Göttinger Frauenklinik aktenkundig, in allen drei Fällen wegen einer als Abort gedeuteten starken Blutung. Das lässt vermuten, dass vielleicht eine wie auch immer geartete sexuell auffällige Aktivität, die von der Gestapo als Prostitution interpretiert wurde (und es vielleicht auch war), der Haftgrund im Jahr 1943 war.

Die Pionierstudie von Gerd Wysocki über Zwangsarbeit bei den Reichswerken "Hermann Göring" aus dem Jahre 1992, mit einem ausführlichen Kapitel über das "Arbeitserziehungslager Watenstedt".

Die erste Erwähnung des Lagers Watenstedt in den Göttinger Akten im Dezember 1940. Größer

Die aus Paris stammende Französin Yvonne C., geb. am 15. Juli 1908 (die in einigen Quellen fälschlich als Belgierin geführt wird), arbeitete seit Ende März 1943 bei Sartorius und wurde am 16. Dezember 1943 in das Göttinger Gerichtsgefängnis eingeliefert und am 22.Dezember 1943 nach Watenstedt überstellt. Auch in ihrem Fall ist kein Haftgrund angegeben, dort wurde auch sie im November 1944 wegen gesundheitlichen Problemen nach einem Abort in die Göttinger Frauenklinik eingeliefert. Ihre Kollegin Marie D., geb. am 12.6.1925, die gleichzeitig mit ihr bei Sartorius angefangen hatte, war am 17. Juli 1943 in der Göttinger Gerichtsgefängnis eingeliefert worden; ihr blieb allerdings das "Arbeitserziehungslager" erspart. Sie wurde am 21. Dezember 1943 nach fünf Monaten Gefängnisaufenthalt entlassen. Beide Frauen arbeiteten danach weiter für Sartorius.

Auch die ebenfalls aus Paris stammende Simone Th., geb. am 4. September 1918, die am 13. März 1944 aus dem Göttinger Gerichtsgefängnis in das Lager Watenstedt überstellt worden war, kehrte offensichtlich nach ihrer Haftzeit nach Göttingen zurück und auch sie wurde im November 1944 wegen eines Aborts als Patientin in die Frauenklinik Göttingen eingeliefert. Sie war seit spätestens 1942 in Göttingen und arbeitete bei der Großwäscherei Schneeweiß. Im November 1942 war sie schon einmal Patientin in den Göttinger Universitätskliniken gewesen, damals wegen einer Entzündung des Blinddarms, der in der Chirurgischen Klinik Göttingen operiert wurde. Vor ihrer Haftzeit war sie privat untergebracht gewesen, nach ihrer Haftzeit kam sie ins Lager Eiswiese. Eventuell erhielt sie auch einen anderen Arbeitsplatz.

- Am 27. April 1943 wurde die aus Warschau stammende Polin Anna (nach anderen Quellen auch Romana) B., geb. am 29. Dezember 1916, und am 30. Juni 1943 Danuta B. aus Kalisch, geb. 29. Juni 1926 (nach anderen Quellen auch 6. Dezember 1926), in das Lager Watenstedt transportiert. Beide arbeiteten als Hausmädchen. Danuta B. seit April 1942 zunächst in der Gastwirtschaft Rohns, dann im Kaiser-Wilhelm-Park (zuvor war sie bei einem Bauern in Sattenhausen tätig gewesen). Über ihr Schicksal nach der Haft ist nichts bekannt. Anna B. dagegen war seit dem 9. März 1944 als Hausmädchen in der Medizinischen Klinik registriert. Sie hat die Haft also sicher überlebt. Bei Hausmädchen war der Grund, der zu einer Einweisung in ein Arbeitserziehungslager führte, häufig ein Diebstahlvorwurf, es kann sich aber natürlich auch beispielsweise um einen bloßen Verstoß gegen die Kennzeichnungspflicht gehandelt haben.

- Die "Ostarbeiterin" Jelena Kijan, die seit August 1942 bei Sartorius arbeitete, wurde am 30. April 1943 wegen eines Briefes verhaftet, den sie an ihren Bruder, der in Ilmenau in Thüringen Zwangsarbeiter war, geschrieben hatte. Am 5. Mai 1943 wurde sie aus dem Göttinger Gerichtsgefängnis in das Lager Watenstedt überführt. Sie schreibt in ihren Erinnerungen an die Lagerhaft von nächtlichen Appellen, Arrestzellen, Prügeln mit Peitschen, Abspritzen mit kaltem Wasser und einem Aufseher, der die Häftlinge, wenn sie bei der schweren Arbeit gefallen waren, durch seinen Hund zu sich schleppen ließ. Gleichzeitig mit Jelena Kijan wurde auch die von ihr in ihren Erinnerungen erwähnte Tatjana M., geb. 2.3.1925, inhaftiert und ins Lager Watenstedt gebracht. Über den Verhaftungsgrund bei Tatjana schrieb Jelena Kijan nichts, erwähnte auch nicht deren Arbeitstelle. Nach den uns vorliegenden Dokumenten war Tatjana M. seit November 1942 als Hausgehilfin bei dem Göttinger Professor der Chemie Adolf Windaus beschäftigt, doch ist es denkbar, dass sie im April 1943 wie viele der ursprünglich in Privathaushalten beschäftigen Hausmädchen bereits in einem Göttinger Rüstungsbetrieb arbeitete.

- Darüberhinaus haben wir den Bericht eines holländischen Zwangsarbeiters, der zu der Gruppe von zwischen 30 und 40 Studenten gehörte, die im Mai 1943 nach Göttingen deportiert worden waren, weil sie sich geweigert hatten, die geforderte Loyalitätserklärung für Deutschland zu unterschreiben. Jan Klompenhouwer, der im Flakzeugamt arbeitete, wurde am 2. Februar 1944 verhaftet, weil er auf das antisemische Lied eines deutschen Arbeiters mit Lärm bei seiner Arbeit reagiert hatte. Der Arbeiter beschuldigte ihn daraufhin der Sabotage und schlug ihn ins Gesicht und Klompenhouwer schlug zurück. Nach Gefängnis, Verhör und Misshandlung durch die Gestapo kam Klompenhouwer am 10. Februar 1944 in das Lager Watenstedt, wo er fast verhungerte (er wog bei seiner Entlassung nur noch 48 kg) und regelmäßig misshandelt und geprügelt wurde. Im Kommando Schlacke Drütte, das gefürchteste Arbeitskommando in Watenstedt, wo mehrere Häftlinge Selbstmord begingen, nur um der furchtbaren Arbeit zu entkommen, wurde Klompenhouwer einmal an einem Tag sechs oder sieben Mal geprügelt, jedesmal erhielt er 25 Schläge. Als er endlich freigelassen wurde, konnte er kaum gehen und war nach seiner Rückkehr nach Göttingen so schwach, dass er nicht zur Arbeit gezwungen wurde. In einem Brief vom August 2002 schrieb er über seinen Eindruck von der Gegend um Salzgitter: "Alles in dieser Gegend war Zwangsarbeit und derjenige, der nur den geringsten Widerstand leistete, wurde im Lager 21 aufs neue erzogen, das heisst robotisiert. Ich meine damit, die ursprüngliche Persönlichkeit brechen und einen von Angst besessenen Automaten aus ihm machen." 2006 hat Jan Klompenhouwer seine Erfahrungen aus dem Arbeitserziehungslager Watenstedt veröffentlicht. Auszüge aus dieser Veröffentlichung finden sie hier und mehr über seine Zwangsarbeit in Göttingen hier.

Immer wieder wurden Zwangsarbeiter Göttingen Betrieben zugewiesen, die zuvor in einem "Arbeitserziehungslager" gewesen waren und deren Einweisung in das Lager wahrscheinlich aus einer anderen Stadt erfolgt war: Beispiel eines holländischen Zwangsarbeiters, der im März 1945 zu dem Göttinger Malerbetrieb Engel kam, und eines polnischen Zwangsarbeiters, der aus dem "Arbeitserziehungslager" Lahde in die Göttinger Fleckfieberbaracke eingeliefert wurde.

 


Literatur und Quellen:

Gefangenenbuch des Landgerichtsgefängnisses Göttingen für das Rechnungsjahr 1943, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hann 86a acc. 75/85 Nr. 1 (exzerpierte Namensliste überlassen von Günther Siedbürger).

Einwohnermeldekarte Danuta B., geb. 6.12.1926, Tatjana M., geb. 2.3.1925, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.

Patientinnenlisten der Göttinger Gynäkologie, Buch 182, Nr. 212, Buch 190 Nr. 1562, Buch 192, Nr. 2212, Buch 194, Nr. 227, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen, Archiv Waldweg (exzerpierte Namenslisten überlassen von Jörg Janssen).
Patientinnenlisten der Göttinger Chirurgie, Archiv-Nr.35c/ J.Nr.363 Hgm, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen, Archiv Waldweg (exzerpierte Namenslisten überlassen von Jörg Janssen).
Lohnkarten der Universitätskliniken Göttingen, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universität Göttingen, Archiv Waldweg (exzerpierte Namenslisten überlassen von Jörg Janssen).

Listen der BKK Sartorius, nach: Eckart Schörle, Gutachten zur Situation von "Zwangsarbeitern" bei der Firma Sartorius Göttingen während der Zeit des Nationalsozialismus, Göttingen im Juni 2000 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen), Anhang.

Brief Jan Klompenhouwer an Günther Siedbürger, 12.8.2002, überlassen von Günther Siedbürger, Kopie im Stadtarchiv Göttingen.

Günther Siedbürger, Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen 19139-1945, hg. vom Landkreis Göttingen, Duderstadt 2005, S. 477 f., S. 479 f. (Jan Klompenhouwer).

Jan Klompenhouwer, Das Krankenrevier des "Lagers 21". Erfahrungen aus dem Arbeitserziehungslager Watenstedt (1941-1945), in: Zwangsarbeit und Gesundheitswesen im Zweiten Weltkrieg. Einsatz und Versorung in Norddeutschland, hg. von Günther Siedbürger und Andreas Frewer, Hildesheim 2006, S. 213-219.

Gerd Wysocki, Arbeit für den Krieg. Herrschaftsmechanismen in der Rüstungsindustrie des "Dritten Reiches" ; Arbeitseinsatz, Sozialpolitik und staatspolizeiliche Repression bei den Reichswerken "Hermann Göring" im Salzgitter-Gebiet 1937/38 bis 1945, Braunschweig 1992, insb. S. 113-136.

 


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