Gesundheitswesen |
Universitätskliniken Göttingen, kurz nach der Fertigstellung der Neubauten am Anfang des 20. Jahrhunderts, Städtisches Museum Göttingen |
Universitätskliniken: Mindestens 120 ZwangsarbeiterInnen aus verschiedenen Nationen waren zwischen 1940 und 1945 (verstärkt seit Sommer 1942) an den Universitätskliniken tätig: Darunter Belgier, Franzosen, Holländer, Serben, Tschechen, Slowaken und Italiener; die meisten aber kamen aus Polen, der Ukraine und aus Russland. 75 % der in den Kliniken arbeitenden Zwangsarbeiter waren Frauen (von diesen wiederum die meisten "Ostarbeiterinnen"); 1943 wurden außerdem einige holländische und französische Medizinstudenten für Pflegedienste und Laborarbeiten zwangsrekrutiert. Die meisten ZwangsarbeiterInnen (60 Prozent) arbeiteten in den Kliniken auf den Stationen, im Pflegebereich, 30 % davon allein in der Chirurgie. Im nichtklinischen Bereich wurden ZwangsarbeiterInnen vor allem in der Küche und in der Wäscherei, aber auch für die Gartenarbeit eingesetzt. Die meisten ZwangsarbeiterInnen in den Kliniken waren sehr jung: 60 % von ihnen waren unter 22 Jhre alt.
Untergebracht waren die Zwangsarbeiterinnen in einem Gebäude am Kirchweg 3 (heute Humboldtallee), offiziell die Adresse der Göttinger Frauenklinik. Dort befand sich ein separates dreistöckiges Gebäude, in deren ersten und zweiten Stock vor allem "Ostarbeiterinnen" und Polinnen, vereinzelt aber auch Frauen aus Westeuropa untergebracht waren (insgesamt zwischen20 und 30 Personen). In der Goßlerstraße 10 (Adresse der Chirurgie, der Wasch- und Kochküche der Kliniken) waren beispielsweise belgische Hausmädchen untergebracht, dort wohnten aber auch deutsche Arbeiterinnen. In der Goßlerstraße 12 befand sich die Augenklinik; in deren Pförtnerloge, die ursprünglich als Notstation im Fall von Luftangriffen eingerichtet worden war, waren die holländischen und französischen Medizinstudenten untergebracht. Zumindest die französischen Medizinstudenten wurden aber später auf den Dachboden der Pathologie transloziert. Auch der Kirchweg 1 (Medizinische Klinik) und der Steinsgraben (Hautklinik) findet sich als Adresse von ausländischen ArbeiterInnen. Darüber hinaus wurden vor allem "Ostarbeiterinnen" auch aus anderen Lagern in den Universitätskliniken eingesetzt.
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"Notdienstverpflichtete" Ärzte: Auch auf der Ebene der Ärzte gab es bedingt durch den hohen Bedarf an Militär- und Lazarettärzten schon im ersten Kriegsjahr einen eklatanten Arbeitskräftemangel. 1943 war dann nach Aussage des Verwaltungsdirektors der Universitätskliniken der Ärztemangel so groß, dass die ordnungsgemäße Versorgung der Patienten nicht mehr gewährleistet war. Man versuchte daher einerseits Ärzte aus befreundeten Ländern anzuwerben (so waren in Göttingen 1943/44 unter anderem verschiedene bulgarische Ärzte, ein Ungar, ein Spanier und eine deutschstämmige Ärztin aus der Ukraine beschäftigt) und andererseits dem Mangel mit Hilfe der "Notdienstverpflichtungen" von Ärzten aus den besetzten Gebieten Herr zu werden. Grundlage dafür war die schon vor dem Krieg erlassene Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938 (Reichsgesetzblatt I, S. 1441). Seit September 1941 arbeitete der in Charkow geborene Arzt Dr. Igor N., der seit 1920 mit seiner Famlie in Prag lebte, zunächst - behelfsmäßig - in der Chirurgischen Klinik in Göttingen. Sein Vater war nach Heiligenstadt "notdienstverpflichtet" worden und Igor N. war deshalb nach Göttingen gekommen, um in der Nähe seines Vaters sein zu können. Ende 1941 beantragte er beim Reichsinnenministerium in Berlin über den "Reichsprotektor Böhmen und Mähren" seine Ernennung zum Assistenzarzt. Diesem Antrag wurde durch das Ministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zwarstattgegeben, doch war zwischenzeitlich N.s Einberufung zum Notdienst auf der Grundlage der genannten Verordnung von 1938 erfolgt und N. zur Dienstleistung an die Chirurgische Klinik überwiesen worden. Erst Anfang 1943 wurde die unklare Anstellungssituation von Dr. N. durch ein Schreiben des Reichsinnenministeriums insofern geklärt, als das Ministerium feststellte, dass N. nicht als Arzt bestellt werden könne, da er kein deutscher Staatsangehöriger sei und darüber hinaus auch noch seine politische Zuverlässigkeit in Frage stehe. Seine Einstellung zum Reich sei nicht positiv genug. Die Folge war, dass Dr. N. trotz fachlicher Anerkennung durch die Klinikleitung keine deutschen Patienten mehr behandeln durfte, sondern stattdessen zur Betreuung der kranken "Ostarbeiter" in der im Januar 1943 eingerichteten speziellen Krankenbaracke abgestellt worden war. Auch holländische und französische Zwangsarbeiter durften von ihm noch behandelt werden. Doch war er vor Denunziationen nun nicht mehr sicher: So zeigte ihn im April 1943 eine Mitarbeiterin im Büro des Kurators beim Landgericht an, weil er angeblich immer betone, dass er Russe sei und weil er mit den Ostarbeitern zusammenstecke. Zwei Monate später war N. dann erneut mit einer Anzeige konfrontiert, diesmal wegen Verstoßes geen die Verdunklungsvorschriften. N. konnte aber glaubhaft machen, dass es sich nur um ein Versehen gehandelt habe und kam mit einer Verwarnung davon. Auch die Anzeige wegen "Zusammensteckens" mit den Ostarbeitern scheint glimpflich ausgegangen zu sein, denn Dr. N. arbeitete bis Ende des Krieges unbehelligt in Göttingen.
Seit Juli 1943 war ein weiterer Arzt aus dem "Protektorat Böhmen und Mähren" in der chirurgischen Klinik "notdienstverpflichtet. Der aus Pilsen stammende Dr. Ilja T. ging der Göttinger Klinik allerdings schon im Mai 1944 wieder verloren, weil er nach Hannover versetzt wurde. |
Der Arzt Igor N. mit einem spanischen Kollegen (Foto von Stan Goik). |
Evangelisches Krankenhaus Neu-Bethlehem im Kirchweg, undatiert (eigene Postkartensammlung C. Tollmien) |
In Göttingen gab es sowohl ein evangelisches, als auch ein katholischer Krankenhaus: Die ersten Diakonissen waren 1866 nach Göttingen gekommen, 1870 wurde die Diakonissen-Krankenanstalt (Alt-)Bethlehem in der Oberen Karspüle und 1896 das gynäkologische Krankenhaus "Neu-Bethlehem" im Kirchweg 8 ((heute Humboldtallee) gegründet. Beide bestehen noch heute: Alt-Bethlehem als Pflege- und Seniorenheim und Neu-Bethlehem als modernes Belegkrankenhaus, in dem alle medizinischen Fachrichtungen vertreten sind. Während des Krieges stand das Krankenhaus under der Leitung von Oberschwester Emma von Hanffstengel, die auch für die dort beschäftigten Zwangsarbeiterinnen zuständig war. Zwei "Ostarbeiterinnen" waren im November 1942 in das Krankenhaus gekommen, zwei weitere kamen am 1. Juli 1943 und eine fünfte am 9.8.1943. Alle waren im Haus selbst untergebracht; drei bieben bis Kriegsende, eine wurde schon einen Monat nach ihrer Ankunft an das Arbeitsamt Münden überwiesen und eine zweite verließ das Krankenhaus Anfang 1943 und arbeitete mit eventuell einer anderen Zwischenstation spätestens seit September 1944 in den Aluminiumwerken. Gleichzeitig waren also in der Regel nur drei Zwangsarbeiterinnen in Neu-Bethlehem beschäftigt, nur während des August 1943 waren es kurzzeitig vier. Sie arbeiteten in der Küche und in der Wäscherei und Oberschwester Emma erlaubte ihnen, gemeinsam mit allen anderen Mitarbeitern an einem Tisch zu essen. Eines der deutschen Küchenmädchen erzählte dies weiter und deren Onkel erstattete daraufhin Anzeige gegen die Oberschwester. Rechtsanwalt Hermann Föge, der sich während der NS-Zeit mehrfach für politisch Verfolgte einsetzte, erreichte, dass die Angelegenheit im März 1944 auf dem Verwaltungswege erledigt und die Oberschwester lediglich eine Geldbuße von 200 Mark an die NSV zu zahlen hatte.
Die katholischen Krankenhäuser Alt-Maria-Hilf in der Turmstraße 6 (gegründet 1865) und das im gleichen Jahr wie Neu-Bethlehem 1896 eröffnete Neu-Maria-Hilf im Kirchweg 10-12 haben ausweislich von selbst angestellten Nachforschungen in ihrem Archiv keine Zwangsarbeiterinnen beschäftigt, wobei allerdings eingeräumt wurde, dass die Personalunterlagen für das Krankenhaus Neu-Mariahilf nicht mehr vorhanden seien. Trotz dieser Unsicherheit und obwohl bekanntermaßen in vielen katholischen Einrichtungen ZwangsarbeiterInnen beschäftigt waren, hat sich die Kongregation der Barmherzischen Schwestern laut einem Schreiben der Geschäftsführung vom 29.1.2001 so weit festgelegt, dass sie "eindeutig" feststellte, "dass in den Einrichungen der Kongregation - so auch auch im Krankenhaus Neu-Mariahilf, Göttingen - keine Zwangsarbeiter beschäftigt waren." Weiter heißt es in dem Schreiben: "Da die Kongregatoin in vielen Bereichen selbst vom Regime des 'Dritten Reiches' in ihrer Existenz bedroht war, ist eine 'Zusammenarbeit' im Bereich der Beschäftigung von Zwangsarbeitern - auch unter diesem Gesichtspunkt - sicherlich kaum vorstellbar und von daher zu verneinen." In Alt-Maria-Hilf war allerdings laut einer zufällig aufgefundenen Einwohnermeldekarte seit Sommer 1941 eine staatenlose Ukrainerin aus Wielun für etwa ein Jahr beschäftigt, die anschließend in verschiedenen Gasthäusern in der Umgebung Göttingens arbeitete. Der Zwangscharakter dieser Arbeit ist - wie vergleichbare Fälle nahelegen - mit hoher Wahrscheinlichkeit gegeben. Zur Friedrich-Zimmerklinik, einer von der Diakonie betriebenen Privatklinik in der Goßlerstraße 5, siehe hier. |
Sanatorium Rasemühle, Aufnahme vor dem Ersten Weltkrieg (private Postkartensamlung C. Tollmien) |
Das 1903 als "Provinzial Sanatorium für Nervenkranke" gegründete Landessanatorium Rasemühle ist erstaunlicherweise - obwohl das Sanatorium nicht in der Stadt Göttingen, sondern in Tiefenbrunn bei Mengershausen lag - in einer auf Anforderung der Gestapo im September 1944 erstellten Liste von "Gemeinschaftslagern zu Göttingen" mit einem eigenen Lager aufgeführt: Dort waren ausweislich dieser Liste im September 1944 drei "Ostarbeiter" und 20 "Ostarbeiterinnen" untergebracht. Bekannt sind die Namen von insgesamt 20 Polinnen und "Ostarbeiterinnen", die seit Juli 1940 in der Rasemühle arbeiteten, allerdings nicht im pflegerischen Bereich, sondern als Küchen- und Hausgehilfinnen und in der aus therapeutischen Gründen dem Sanatorium angegliederten Landwirtschaft. Im Sommer 1942 wurde der Sanatoriumsbetrieb eingestellt und die Rasemühle fungierte seitdem vollständig als selbständige Abteilung des Reservelazaretts Göttingen. Dies erklärt wahrscheinlich auch ihre Aufnahme in eine Liste von Göttinger Lagern. 1944 arbeiteten gleichzeitig 17 osteuropäische Frauen in der Rasemühle, womit sie knapp 20 Prozent der Gesamtbelegschaft des Reservelazaretts stellten. In den Meldeunterlagen des Ortes gibt es jedoch Hinweise darauf, dass einige der Zwangsarbeiterinnen im "Gemeinschaftslager Rasemühle" auch an Bauern aus Mengershausen ausgeliehen wurden.
Bei dem Zahntechnikermeister Heinz Tolle, Am weißen Stein 17, arbeitete seit September 1943 ein ehemaliger französischer Kriegsgefangener, der Zahntechniker war und von der Möglichkeit der Transformation Gebrauch gemacht hatte. Gut möglich, dass mehrere ehemalige französische Kriegsgefangene bei Tolle arbeiteten, da noch ein weiterer Franzose in den Meldeunterlagen als Zahntechniker ausgewiesen ist. Die ehemaligen französischen Kriegsgefangenen bei Tolle waren privat untergebracht. Auch einige flämische Zahntechniker und Dentisten sind 1944 in Göttingen nachweisbar, ohne dass ihr Arbeitgeber angegeben ist. |
Literatur und Quellen:
Am Göttinger Institut für Geschichte der Ethik und Medizin gab es in den Jahren 2000 bis 2002 ein Forschungsprojekt "Zur Rolle der Zwangsarbeiter an der Medizinischen Fakultät Göttingen", das im Juni 2002 seinen Abschlussbericht vorgelegt hat, der leider nie zusammenhängend veröffentlicht wurde:
Janßen, Jörg/Frewer, Andreas/Gottschalk, Karin et al.: Abschlußbericht zu dem Projekt Zur Rolle der Zwangsarbeiter an der Medizinischen Fakultät Göttingen", Ergebnisse der Arbeitsgruppe "Zwangsarbeit und Medizin", Göttingen Juni 20020 [unveröffentlicht]. Auf dieses Forschungsprojekt beziehen sich alle in den folgenden Jahren von Frewer und Siebürger veröffentlichten Ergebnisse.
Liste ausländischer Arbeiter an den Universitätskliniken während der Kriegsjahre, auf der Grundlage von Lohnabrechnungen zusammengestellt von Mitarbeitern des Instituts für Ethik und Medizin, Stand Mai 2002 (diese Liste wurde mir freundlicherweise von den Institutsmitarbeitern zur Verfügung gestellt).
Frewer, Andreas/, Gottschalk, Karin/Zimmermann, Volker: Zwangsarbeit in der Klinik. Göttinger Universitätsmedzin im Nationalsozialismus, in: Niedersächsisches Ärzteblatt 12/74 (2001), S. 19-23.
Frewer, Andreas / Schmidt, Wulf / Wolters, Christine: Hilfskräfte, Hausschwangere, Untersuchungsobjekte. Der Umgang mit Zwangsarbeitenden an der Universitätsfrauenklinik Göttingen, in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankfurt/M./New York 2004, S. 341-362, hier S. 343 f.
Andreas Frewer, Florian Bruns, Jörg Janßen: Zwangsarbeitende als Patienten und Helfer. Zur Behandlung an der Chirurgischen Universitätsklinik Göttingen, in: Zwangsarbeit und Gesundheitswesen im Zweiten Weltkrieg. Einsatz und Versorgung in Norddeutschland (hg. von Günther Siedbürger und Andreas Frewer), Hildesheim 2006, S. 79-102, hier S. 83-89.
Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.
Lagerliste, erstellt auf Anforderung der Gestaoi vo 4.8.1944, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 542 -547.
Korrespondenz über den Einsatz ausländischer Ärzte 9.2.1944 bis 7.12.1944, Dekan der Medizinischen Fakultät an den Kurater 2.2.1945, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover 122a Nr. 3276, Bl. 12 ff., Bl. 38 f., Bl. 98 f., Bl. 131; Liste der ausländischen Ärzte 26.4.1944, ebenda Nr. 1378, Bl. 9 f.
Traudel Weber-Reich, Pflegen und Heilen in Göttingen. Die Diakonissenanstalt Bethlehem von 1866 bis 1966, Göttingen 1999, S. 185 f.
Liste des Hauspersonals 1941-1946, Archiv ev. Stift Alt- und Neu-Bethlehem, Personaliste Bl. 208 f.
zu Hermann Föge: Tollmien, Cordula, Nationalsozialismus in Göttingen (1933-1945), Dissertation Göttingen 1999, S. 91 f., S. 92 Anm. 106, S. 96, S. 98, S. 98 Anm. 122, S. 104, S. 124, S. 184, S- 235, S. 235 Anm. 38.
Geschäftsführer Krankenhaus Neu-Mariahilf an Andreas Frewer 29.1.2001.
Traudel Weber-Reich, "Wir sind Pionierinnen der Pflege ..." - Krankenschwestern und ihre Pflegestätten im 19. Jahrhundert am Beispiel Göttingens, Bern Göttingen Toronto Seattle 2003, S. 190-208, S. 268-288.
Günther Siedbürger, Zwangsarbeit im Landkreis Göttingen 1939-1945, Duderstadt 2005, S. 369 f.
Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.
Register Fremdenpässe, angefangen 4.2.1942 (129/143, 130/1943, 233/1944), Stadtarchiv Göttingen Acc. Nr. 1047/1991 Nr. 258 (Ordnungsamt).