Baufachbetriebe

Das erste Göttinger Unternehmen, das Zwangsarbeiter beschäftigte

Briefkopf der Firma Keim, 1942

Die ersten Zwangsarbeiter nach Beginn des Krieges trafen in Göttingen am 20. November 1939 und wurden der dem Eisenbahn- und Tiefbauunternehmen Fritz Keim (Maschmühlenweg 50) zugewiesen. Es handelte sich um 63 polnische Zivilarbeiter, die für die Firma Oberbauarbeiten bei der Reichsbahn durchführen sollten. Bis zu diesem Zeitpunkt waren polnische Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene wie zivile Arbeiter, fast ausschließlich in der Landwirtschaft eingesetzt worden. Doch waren die Arbeiten in der Landwirtschaft wegen der Winterpause nicht mehr so dringlich, weshalb der Präsident des Landesarbeitsamtes Niedersachsen in einem Rundschreiben vom 21. November 1939 bekannt gab, dass auch der Einsatz von polnischen Kriegsgefangenen in der Forstwirtschaft, im Bergbau, beim Straßen- oder Wasserstraßenbau, bei Meliorationsarbeiten (z.B. Be- und Entwässerung), bei Kabelverlegungsarbeiten, beim Kraftwerksbau oder auch bei Bahnunterhaltungsarbeiten der Reichsbahn möglich sei. Die Arbeit bei Keim war Schwerstarbeit: Die Arbeiter mussten sehr schwere Eisenteile bewegen und waren beim Entladen des staubigen Steinschlags, der für die Aufsetzung des Gleisbettes benötigt wurde, der herumfliegenden kleinen Steinsplittern ausgesetzt. Untergebracht waren die Arbeiter im Lagerhaus der Firma Keim (einem beheizbaren Massivbau) im Maschmühlenweg 50. Weil sich bei Kontrollen durch das Gesundheitsamt im Februar, Juli und September 1942 herausgestellt hatte, dass die Toiletten eingefroren und das Lager im Sommer völlig verwanzt war, wurde im September eine neue Baracke aufgestellt.
Weil sie der schweren Arbeit nicht gewachsen waren, wurden bereits im Januar 1940 15 der polnischen Arbeiter bei Keim in die Landwirtschaft überwiesen. Aufgrund einer Massenflucht im Frühjahr 1940 arbeiteten dann Ende Mai 1940 nur noch 30 Polen bei Keim. Von diesen wurden zwischen Juni 1940 und März 1941 sechs wegen Krankheit nach Polen zurückgeschickt, einer verstarb an einem durchbrochenen Magengeschwür in der Göttinger Universitätsklinik und einer wurde an einen anderen Arbeitsplatz versetzt. Im August 1941 gelang dann noch einmal fünf Polen von Keim die Flucht, einer kehrte im Dezember 1941 nach Polen zurück, zwei weitere wechselten 1943 an einen anderen Arbeitsplatz, so dass von den ursprünglich 63 polnischen Zwangsarbeitern bei Keim ausweislich der vorliegenden Einwohnermeldekarten höchstens 15 bis Ende des Krieges für die Firma arbeiteten. Einzelne Polen kamen auch noch im September 1940 und im März 1941 zu Keim, mindestens einer von diesen flüchtete wieder.

Im Juli 1940 stellte Keim wie viele andere Göttingen Firmen auch einen Antrag auf die Zuweisung von französischen Kriegsgefangenen, die im Lager Sültebeck untergebracht werden sollten. Obwohl der Antrag - weil alle Kriegsgefangenen zu diesem Zeitpunkt in die Landwirtschaft gehen sollten und das Kriegsgefangenenlager Fallingbostel wegen eine Scharlachepidemie zur Zeit keine Gefangenen abgeben konnte - zunächst abgelehnt wurde, taucht die Firma mit 18 weiteren Betrieben auf einer Genehmigungsliste vom 23. August 1940 mit den beantragten 60 französischen Kriegsgefangenen auf. Die Zuweisung ist allerdings zumindest zu diesem Zeitpunkt wohl nicht erfolgt, da das Lager Sültebeck statt der in dieser Aufstellung veranschlagten 250 Mann im September erstmals nur mit 122 Gefangenen belegt wurde, die ausnahmslos an die Göttinger Rüstungsindustrie überwiesen wurden.

Ab Oktober 1941 kamen schätzungsweise etwa 50 italienische Eisenbahnarbeiter zur Firma Fritz Keim. Sie waren auf dem Betriebsgelände untergebracht.

Im November 1942 kam eine Gruppe von "Ostarbeitern" aus Nordhausen ins Lager Keim, die allerdings wohl direkt für die Reichsbahn arbeiteten. Auch in Nordhausen waren diese schon im Bahnbetriebswerk tätig gewesen.

Im August 1943 ist zumindest ein ukrainischer Abeiter und im Juni 1944 ein serbischer Zwangsarbeiter bei Keim nachgewiesen. Letzterer war der Firma aus Hannover zugewiesen worden, wo er aus unbekannten Gründen vom 13.11.1943 bis 28.5.1944 im Untersuchungsgefängnis gesessen hatte.

Im August 1944 waren ausweislich einer offiziellen Statistik bei Keim 31 Polen, 26 "Ostarbeiter" und 8 "Sonstige" beschäftigt; letzteres wahrscheinlich Holländer, da ab Oktober 1943 Holländer bei Keim untergebracht waren, die aber auf dem Güterboden der Reichsbahn arbeiteten. Ab November 1944 kamen dann einzelne holländische Gleisbauarbeiter aus Rotterdam direkt zu Keim. Nach einer nach dem Krieg vom damaligen Göttinger Bürgermeister gemachten Angabe sollen im Lagerhaus Keim im Maschmühlenweg etwa 100 Arbeiter untergebracht gewesen sein. Dies scheint eine vielleicht etwas zu hohe, aber in der Größenordnung richtige Schätzung gewesen zu sein.

Zu den Arbeitsbedingungen der Polen bei Keim siehe die Stellungnahme der Ortspolizei vom 31. Januar 1940

Ausführlich zu den polnischen Zwangsarbeitern bei Keim siehe
Cordula Tollmien: "Die Überwachung der polnischen Arbeitskräfte wird nach wie vor täglich ausgeübt" - polnische Zwangsarbeiter in Göttingen von November 1939 bis Frühsommer 1940, unveröffentlichtes Manuskript 2004 (mit geringfügigen Änderungen im September 2011).


Göttinger Adressbuch 1937

 

Ab hier Aufzählung der Baubetriebe alphabetisch:

  • Heinrich Dawe (Inhaber Friedrich Dawe, Angerstraße 1): Seit Juni 1941 arbeitete eine Gruppe von italienischen Bauarbeitern für die Baufirma Heinrich Dawe auf der Baustelle bei den Optischen Werken Schneider & Co in Weende.
  • August Drege (Inhaber Heinrich Drege, Baugeschäft für Hoch- und Tiefbau, Eisenbetonbauten, Kanalisation und Straßenbauten, Maschmühlenweg 29):
    - Im Juli 1940 stellte auch Drege wie viele andere Göttingen Firmen auch einen Antrag auf die Zuweisung von
    französischen Kriegsgefangenen, die im Lager Sültebeck untergebracht werden sollten. Obwohl der Antrag - weil alle Kriegsgefangenen zu diesem Zeitpunkt in die Landwirtschaft gehen sollten und das Kriegsgefangenenlager Fallingbostel wegen eine Scharlachepidemie zur Zeit keine Gefangenen abgeben konnte - zunächst abgelehnt wurde, taucht die Firma mit 18 weiteren Betrieben auf einer Genehmigungsliste vom 23. August 1940 allerdings nicht mit den beantragten 55, sondern nur mit 19 französischen Kriegsgefangenen auf. Ob die Zuweisung ist tatsächlich erfolgte, ist allerdings nicht sicher, da das Lager Sültebeck statt der in dieser Aufstellung veranschlagten 250 Mann im September erstmals nur mit 122 Gefangenen belegt wurde, die vor allem an die Göttinger Rüstungsindustrie überwiesen wurden.
    - Von März 1941 bis März 1942 führte die Firma Drege für das Bauamt Arbeiten zur Beseitigung von Hochwasserschäden durch. Die Arbeiter waren Göttinger Juden.
    - Als Ersatz für die im März 1942 deportierten Göttinger Juden arbeiteten 10 sowjetische Kriegsgefangene aus dem Lager Lohberg im April 1942 auf der Baustelle des städtischen Bauamts. Diese wurden allerdings nach 10 Tagen schon wieder abgezogen.
    - 1942 wurde die Firma August Drege vom städtischen Bauamt mit dem Bau eines Staubeckens im Ebertal beauftragt. Dafür wurden auch wieder sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt.
    - Im Januar 1943 (und auch vereinzelt schon im September 1942) kam eine kleinere Gruppe von Tschechen zur Baufirma Drege, von denen einige schon im April des gleichen Jahres zur Firma Schneider & Co in Weende wechselten. Denkbar ist, dass die gesamte Gruppe auf einer Baustelle von Schneider & Co arbeitete. Die Firma nahm auch nach Bezug des neuen Firmensitzes immer wieder umfangreiche Ausbaumaßnahmen vor. Nach einer nach dem Krieg erfolgten Lageraufnahme des belgischen Suchdienstes unterhielt die Firma Drege auf ihrem Betriebsgelände ein eigenes Lager (eine Holzbaracke), in dem 11 Tschechen untergebracht waren.
    - 1943/44 war die Firma August Drege für das städtische Bauamt mit dem Bau von Deckungsgräben beschäftigt. Dabei wurden "Ostarbeiter" und sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt.
    - im März 1945 kam eine kleinere Gruppe von Italienern, die zuvor in den Ziegelwerke in Rosdorf gearbeitet hatten, zu Drege. Sie waren im Lager Eiswiese untergebracht.
    - ebenfalls im März 1945 kam ein niederländischer Arbeiter zu Drege, der zuvor im Rheinland gearbeitet hatte.
  • Im Malerfachbetrieb August Engel arbeitete ab Juli 1943 ein holländischer Maler, der zuvor schon in Hamburg gearbeitet hatte und im August 1943 nach Rotterdam zurückkehrte, Engel bekam dann im März 1945 noch einmal einen anderen holländischen Maler, der zuvor im "Arbeitserziehungslager Watenstedt" gewesen war.
  • Baufirma Wilhelm Fricke (Inhaber Theodor Fricke, Reinhäuser Landstraße 116 ): Theodor Fricke gehörte dem im Dezember 1943 gebildeten Baustab zur Begutachtung von Bombenschäden an und war im November 1944 Leiter des Sonderausschusses "Einsatz bei Bombenschäden". Er leitete den Einsatz des holländischen Baubataillons aus Hannover, das zwischen dem 25.11. und dem 3.12.1944 in Göttingen Bombenschäden beseitigte. Einzelne holländische Zwangsarbeiter arbeiteten seit spätestens November 1944 auch direkt für die Firma Fricke, bei der im Februar 1945 auch mindestens zwei serbische Zwangsarbeiter nachgewiesen sind. Sowohl die Holländer als auch die Serben waren im Lager Eiswiese untergebracht. Der Holländer konnte im Januar 1945 in eine Privatunterkunft umziehen. Die Firma war außerdem ab spätestens Juni 1943 mit der Beaufsichtigung und dem Einsatz der Ostarbeiter betraut, die bei einem Großbauprojekt der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Reyershausen eingesetzt waren.
  • Der Maurermeister Walter Gärtner in der Bertheaustraße 6 stellte im Juli 1940 einen Antrag auf die Zuweisung von französischen Kriegsgefangenen, die im Lager Sültebeck untergebracht werden sollten. Obwohl der Antrag - weil alle Kriegsgefangenen zu diesem Zeitpunkt in die Landwirtschaft gehen sollten - zunächst abgelehnt wurde, taucht die Firma mit 18 weiteren Betrieben auf einer Genehmigungsliste vom 23. August 1940 mit den beantragten 20 französischen Kriegsgefangenen auf. Ob die Zuweisung zu diesem Zeitpunkt allerdings tatsächlich erfolgte, ist nicht gesichert und angesichts der Tatsache, dass das Lager Sültebeck statt der in dieser Aufstellung veranschlagten 250 Mann im September erstmals nur mit 122 Gefangenen belegt wurde, auch eher unwahrscheinlich.
    Ab Januar 1944 war die Firma Gärtner für das städtische Bauamt mit dem Bau von Deckungsgräben beschäftigt. Dabei wurden "Ostarbeiter" und sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt.
  • W. Hildebrandt (Inhaber Wilhelm Hildebrandt, Tief- und Hochbau, Beton und Eisenbeton, Lotzestraße 24 a): Spätestens ab November 1941 arbeiteten einzelne Polen bei Hildebrandt. Spätestens ab Juni 1943 waren bei Hildebrandt auch "Ostarbeiter" im Einsatz, die auf der Großbaustelle der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Reyershausen beschäftigt waren.
  • Wilhelm Wallbrecht: Ab Januar 1944 war die Firma Wilhelm Wallbrecht für das städtische Bauamt mit dem Bau von Deckungsgräben beschäftigt. Dabei wurden "Ostarbeiter" und sowjetische Kriegsgefangene eingesetzt. Die Firma baute unter anderem auch das "Ostarbeiterlager" Tonkuhle für die Firma Ruhstrat.
  • Malermeister Albert Zeller in der Reinhäuser Landstraße 5 bekam am 8. März 1945 noch einen flämischen Maler zugewiesen, der direkt aus dem "Arbeitserziehungslager" Watenstedt nach Göttingen kam.

    Zur Zusammenarbeit der Stadtwerke mit einzelnen Göttinger Baufirmen siehe hier.


  • Quellen und Literatur:

    Einwohnermeldekarten, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnermelderegistratur.

    Polen bei Keim November 1939-September 1942, Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 367-371, Bl. 381 f. Bl. 384, Bl. 438 v, Bl. 449, Bl. 451.

    Rundschreiben des Präs. d. LAA Nds. (Dr. Kaphahn) 21.11.1939, Landesarbeitsamt an Stalag 23.7.1940, Aktennotizen 25.7.1940, 7.8.1940, Aufstellung 23.8.1940, Aktennotiz 24.8.1940, Ratssitzung 4.9.1940, Stadtarchiv Göttingen, Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 48, o.P.

    Arbeitsamt an Oberbürgermeister 7.12.1939, Antwort 8.12.1939, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 77 Nr. 23, Bl. 157 f.
    Keim an Ernährungsamt 1.8.1940, 10.1.1942, 14.4.1942, Stadtarchiv Göttingen, Ernährungsamt Nr. 61, o.P.

    Lagerstatistik auf Anforderung der Gestapo 4.8.1944, Stadtarchiv Göttingen, Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 541 f.

    Lageraufnahme Belgischer Suchdienst 1949, Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv, Film 3, Nr. 1462.

    Sterbebuch 746/1940, Stadtarchiv Göttingen, Standesamtliche Unterlagen.

    Merkblatt Aufgaben des Baustabes, o.D. [nach Dez. 1943], Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt. I Fach 1 Nr. 45, o.P.; Sonderausschuß "Einsatz bei Bombenschäden", Th. Fricke, 11.11. 1944, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt. I Fach 1 Nr. 45, o.P.

    Das nationalsozialistische Lagersystem, herausgegeben von Martin Weinmann, mit Beiträgen von Anne Kaiser und Ursula Krause-Schmitt, Frankfurt am Main 1990, S. 472.  


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