NS-Zwangsarbeit: Lambertus Petrus Muskens, geb. 27.8.1925 in Moergestel (Niederlande), gest. 28.6.2011 in Rekken (Niederlande), Deportation Mai 1943, Bad Lauterberg Städtisches Krankenhaus, ab Juni 1943 Göttingen Universitätskliniken, Verhaftung durch die Gestapo Anfang Oktober 1943, 10 Tage Lager in Hildesheim, danach wieder Göttingen - Erinnerungen Januar 2003 |
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Lambert Petrus Muskens, geb. 27.8.1925, gehörte zu den holländischen Medizinstudenten, die in den Göttinger Universitätskliniken arbeiten mussten, weil sie sich geweigert hatten, die geforderte Loyalitätserklärung für Deutschland zu unterschreiben. Der größere Teil der holländischen Studenten, die im Mai 1943 nach Göttingen kamen, musste im Flakzeugamt arbeiten, eine kleine Gruppe kam in die Göttinger Universitätskliniken (wie Cees Louwerse in seinem Tagebuch beschrieb hatten beide Gruppen intensiven Kontakt zu einander). Lambert Muskens kam erst einen Monat später nach Göttingen, da er ursprünglich dem städtischen Krankenhaus in Bad Lauterberg zugeteilt worden war. Er schrieb Cordula Tollmien am 25. Januar 2003 einen langen Brief (als Antwort auf zuvor gestellte Fragen), der hier - mit Ergänzungen aus einem zweiten Brief vom 18. Februar 2003 - ausführlich zitiert werden soll, weil er ein außergewöhnliches Dokument von großer Reflektiertheit (auch was die eigene Person angeht) darstellt, charakterisiert von dem Bemühen um größtmögliche Genauigkeit und Differenziertheit und um Gerechtigkeit auch gegenüber den Deutschen. Die Abschnitte des Briefes, der sich an von mir gestellten Fragen orientierte, wurden in einigen wenigen Teilen umgestellt, um Zusammenhänge deutlicher zu machen; außerdem wurde kleinere Fehler im Deutschen korrigiert, um Missverständnisse auszuschließen:
"Sehr geehrte Frau Tollmien,
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die alle in Göttingen Zwangsarbeit leisteten. Unten Ausschnitt aus diesem Foto: |
Anlass für unseren "Besuch" in Deutschland war die Tatsache, dass Ende 1942 die deutschen Besatzungsbehörden von den holländischen Studenten eine Unterschrift forderten unter eine "Loyalitäts-Erklärung" bezüglich der Aktivitäten der Besatzer. Wenn man diese Unterschrift verweigerte, musste man sich zum Arbeitseinsatz in Deutschland melden - und wurde auch das unterlassen, dann würden die Eltern verhaftet.
Damals war ich 17 Jahre alt, hatte gerade angefangen mit dem Medizinstudium. Mein Bruder (19) studierte chemische Technologie - und, zusammen mit vielen anderen, haben wir uns gemeldet und wurden abtransportiert in ein Sammellager in der Provinz Drenthe und dann mit dem Zug zum Lager in Watenstedt (über Braunschweig). Dieses Lager war eigentlich eine Ansammlung von nummerierten Baracken. Eine Einheit davon war von einer stacheligen Hecke [gemeint ist ein Stacheldrahtzaun – C.T.] umgeben und das hat Lager 21 geheißen, es war ein Straflager. Wir sind aber in einen offenen Lagerteil gekommen. Wir wurden da "sortiert" nach Brauchbarkeit für allerlei Aufgaben. Eine große Anzahl (wie auch mein Bruder) sind in diesem Lager geblieben. Hier wohnten die ausländischen Arbeiter für die "Hermann Göring Werke" und die "Stahlwerke Braunschweig". Mein Bruder musste auf den H.G.W. Metallröhren schleppen. Ich kam (als Einziger) in das Städtische Krankenhaus Bad Lauterberg (Chef war Dr. Timner) als Hilfskraft. Ich schlief in einem Einzelzimmer in der Tuberkulosebaracke und amüsierte mich nach der "Arbeit" mit jungen Leuten aus Russland und der Ukraine, die auch dort waren. Nur eine Sorge hatte ich: Ich rauchte schon, seit ich 15 war, und ging mit meinem "Verlangen" zur "Verwaltung" und fragte nach einer "Raucherkarte". Der Mann hat mich aber breit ausgelacht und gesagt "Ich solle mir die Hose noch zubinden" - worauf ich, sehr böse, ihn gefragt habe, ob die Deutschen, denn Kinder aus ihrer Heimat verschleppten - und da war er nicht mehr amüsiert. Auch ärgerte mich eine Krankenschwester, die mich bei jeder Begegnung betont und mit erhobenem Arm mit "Heil Hitler" grüßte. Ich sagte ihr, dass sie doch wüsste, dass ich kein Deutscher sei. Schließlich bin ich einmal ins Gespräch gekommen mit einer kleinen Gruppe von Leuten. Man sprach über etwas, woran ich mich nur erinnere, das die Juden Schuld hätten an irgendetwa und dass diese glücklicherweise verhaftet würden. Da habe ich vorgebracht, dass diese Position der Deutschen jetzt so sei wie sie sei, aber das am Ende des Krieges die Rollen wohl getauscht würden und sie ins Gefängnis kämen statt der Juden. Diese drei Anekdoten waren der Anlass für mein Verschwinden aus dem schönen Harzgebirge. [Lambert Muskens kam im Juni 1943 nach Göttingen - C.T.] Aus diesen kleinen Geschichten könnte man folgern, dass ich ein Held war oder wenigstens wie ein Held gehandelt hätte, aber es war ganz anders: Ich war sehr unerfahren, also unbekümmert, kurz gesagt: dumm.
Der Abtransport nach Deutschland war irgendwann im Mai 1943, ein paar Tage später war ich in Bad Lauterberg und einen Monat danach wurde ich aufgefordert, zum Gestaporevier in Bad Herzberg zu kommen. Ich weiß noch dass Alex K. (aus Werchogansk) mir frühmorgens den Weg gezeigt hat. Die Gestapo war nicht freundlich, man drohte mir mit diesem und jenem und schickte mich schließlich zum Arbeitsamt Osterode und gab mir einen "Überweisungsschein" mit. Unterwegs las ich, dass das Arbeitsamt mich zum Arbeiten in das Kalkofenwerk in Herzberg schicken sollte. Es kam mir so vor, als ob hinter dieser Überweisung keine freundliche Absicht steckte, darum habe ich das Papier in der Tasche gelassen. Ich wurde freundlich begrüßt von dem Beamten und sagte ihm, dass ich aus Holland käme und in irgendeiner medizinischen Einrichtung arbeiten wollte. Er sagte, dass er sieben Jahre in Maassluis gearbeitet hätte und bot mir eine Zigarette an - und so ist er in meiner Erinnerung für ewig mein Freund geblieben!
Wir bekamen Geld für unsere Arbeit, standen auf den Gehaltslisten als Krankenpfleger, Angestellte oder Hilfskraft. Wie das Geld zu uns kam, weiß ich nicht mehr. Essen und Wäsche kamen von der Zentralküche der Kliniken. Ich weiß nur sicher, dass wir Geld bekamen, weil wir öfters ins Kino gegangen sind, oder ins Opernhaus, ein paar Mal eine Reise machten: ich fuhr zu meinem Bruder in Goslar, wo wir einen schönen Spaziergang im Okertal machten. Einmal sind wir alle zusammen, nach Kassel gefahren, da lag unser Kollege Jan Sl. im Krankenhaus, wegen eines ernsthaften Herzproblems nach einer Diphterie. [Er wurde am 21.1.1943 als krank nach Hause entlassen - C.T.] In der Anatomie war ich dem Präparator, Herrn Julius Treibe [richtig Treiber – Hinweis Brian Freeman], zugeordnet, ein sehr ruhiger freundlicher Mann, klein, mager und mit einem großen Geschwür im Unterschenkel, wovor er dann und wann mit peinlichem Lärm den Verband herunterzerrte. Erst später begriff ich, warum er das tat! Herr Treibe hat mich nicht schwer mit Arbeit belastet und wir führten oft Gespräche. Nach der Erfahrung im Harz war ich vorsichtiger geworden. Ein Beispiel für ein Gespräch, an das ich mich erinnere:
Professor Blechschmidt [Leiter der Anatomie - C.T.] war durchaus ein "netter Mensch". Es schien mir, dass er das bewusst sein wollte und mir das auch deutlich machen wollte. Meine Hauptarbeit war das Anfertigen von instruktiven Modellen von Embryonen und Teilen davon. Die waren für den Hörsaal. Er hat mich auch aufgefordert, bei den Vorlesungen anwesend zu sein, das brachte mich aber in Konflikt mit meiner Angst vor verräterischem Verhalten.
Das Anatomische Institut der Universität Göttingen, das am 7. April 1945 zerstört wurde. Das rechte Foto wurde 1952 von dem Pathologen Georg Benno Gruber (1884 - 1977) aufgenommen. Wie gesagt, Prof. Blechschmidt hatte einen deutlichen Begriff von meiner Situation, obwohl er - wie alle anderen - vorsichtig war. Anfang Oktober 1943 kamen zwei Herren von der Göttinger Gestapo, einer war der "Chef" und sein Name war Kerl. Prof. Blechschmidt kam mit beiden Herren in mein Arbeitszimmer, er war deutlich in Verlegenheit. Die Herren hatten meine Spur ein halbes Jahr suchen müssen. Prof. Blechschmidt sagte mir das und auch dass er den Herren gesagt hätte, dass ich ungefährlich sei und dass er meine Arbeit nicht entbehren könne.
Wir kamen in ein "Vor-Lager" der Gestapo und da wurde meine "Sache" behandelt von Herrn Glorian, der mich nach zehn Tagen auch wieder entlassen hat. Das Entlassungsritual enthielt auch das Unterschreiben eines Protokolls, worin stand, dass es mir leid tat, dass ich mich so staatsfeindlich benommen hatte und dass es ein nächstes Mal ein richtiges Gestapo-Erziehungslager sein würde (wahrscheinlich das Lager in Liebenau). Dies Protokoll endete wie alle anderen "Geschichten" mit "Heil Hitler" und darunter musste ich dann zeichnen. Der Schrecken fuhrt mir in die Glieder, weil unterschreiben zu verräterisch war. Ich musste das verweigern. Zu meinem Erstaunen hat Herr Glornau es dabei belassen. Er gab mir meine Sachen zurück und einen Reiseschein für Göttingen.
[In den Göttinger Akten (Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 561) befindet sich eine Meldung, wonach sich am 25.11.1944 vier Holländer - darunter Lambert Muskens - sich nach dem Bombenangriff vom 23. November 1944 "ohne Grund an den Schadenstellen aufhielten". Die vier wurden für den 26. Februar zur Arbeit einbestellt und ihre Ausweise bis zur Ableistung der Arbeit einbehalten. Welche Arbeit sie leisten mussten, steht nicht der Meldung. Lambert Muskens antwortete auf eine diesbezügliche Frage: Auch dazu kann ich nichts sagen, ich muss es vergessen haben. Aber bezüglich Kontakten mit der Polizei kann ich noch zwei Erfahrungen reproduzieren:
Ich war in Göttingen bis nach dem Kriegsende. Ich meine, dass die Amerikaner am 8. April nach Göttingen kamen. Gekämpft wurde nicht: "Offene Stadt" sagte man. Bloß eine Granate in einen Kirchturm, offenbar gegen einen "Schützen". Kurz danach bin ich an die Arbeit gegangen für das "HQ 8th arm[ored] div[ision] 3rd army" beim "Town Major" im Hotel zur Krone. Ich dolmetschte, vor allem für die Leute, die sich auf der "Schreibstube" meldeten mit allerlei Fragen. Auch eine andere Kategorie musste sich da melden: SS und Gestapo. Für mich war der Kreis ganz rund, als sich Herr Kerl und sein Gefährte gemeldet haben. Ich habe ihn höflich empfangen und korrekt weiter gewiesen. Ein Vertreter der 8. Panzerdivision der Amerikaner in Göttingen am 3. Mai 1945 Nach einigen Tagen kam mein Bruder zu mir. Er war gegen Ende 1944 geflohen aus Watenstedt und ist unversehrt zu unseren Eltern gekommen. Der südliche Teil von Holland wurde kurz danach befreit und Gerard ist als Dolmetscher mit den Kanadiern auf den Feldzug durch Oldenburg gegangen, wonach er nach Göttingen kam. Ich bekam einen kurzen Urlaub und wir gingen zusammen nach Hause. Dann bin ich wieder zurückgegangen. Als die Amerikaner nach München gezogen sind, bin ich mitgefahren, kehrte dann aber zurück, weil es in München für mich nichts zu tun gab.
Danach kam ich in derselben Funktion zum "Scotch Reg[iment] Roy[al] Artill[ery] 405" und die zogen später weiter nach Norden. Im Dezember 1945 habe ich in Cuxhaven meinen Abschied genommen und bin nach Hause gefahren. Die Angabe auf der "Einwohnermeldekarte" [wo vermerkt ist, dass Lambert Muskens Göttingen schon im Januar 1945 verlassen habe - C.T.] ist also nicht richtig.
Ich erinnere mich noch, dass ich am Tag vor der Befreiung mit einer Botschaft zum neuen Haus des Professors Blechschmidt geschickt wurde (Adresse war: Am weißen Steine 18). Seine Frau Traute-Marie hat mir (viel) Weißwein angeboten und ich bin schnell wieder weggegangen, weil mir die Beine fast weggeknickt sind.
In diesem Zusammenhang wäre zu vermelden, dass ich ab 65 Jahre eine deutsche Altersrente bekomme. In diesem Alter wird man hier von einem Beamten besucht, der hat mich ausgefragt, wo ich gearbeitet habe, auch im Krieg. Damit ist er zu den deutschen Behörden gegangen mit dem Ziel einer Altersrente. Jetzt kann man verstehen, warum die deutschen Behörden einen Teil meiner Zeitangaben verneint haben! [Lambert Muskens meint die falsche Angabe auf der Einwohnermeldekarte - C.T.]
Ab Ende 1945 habe ich in Utrecht wieder angefangen zu studieren und versucht, einen Teil der drei verlorenen Jahre wieder einzuholen. Im Mai 1951 war ich Arzt, bis Sommer 1953 war ich Gesundheitsoffizier, 1953 bis 1957 habe ich an dem Utrechtschen Institut für Medizinische Physiologie gearbeitet, dann promoviert mit einer neurophysiologischen Doktorarbeit. Dann absolvierte ich bis 1962 eine Ausbildung in Neurologie und Psychatrie in Wassenaas (Ursulaklinik) und schließlich habe ich als Nervenarzt gearbeitet in Eindhoven, Vlaardingen und Winterswyk.
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Ein paar Bemerkungen:
Die Studenten in den Universitätskliniken hatten intensiven Kontakt mit den Studenten, die gemeinsam mit ihnen deportiert im Göttinger Flakzeugamt Zwangsarbeit leisten mussten. Siehe dazu vor allem das Tagebuch von Cees Louwerse.
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Der australische Wissenschaftler Brian Freeman, der sich intensiv mit dem Göttinger Anatomen Erich Blechschmidt beschäftigt hat, hat eine englische Übersetzung des Textes von Lambert Muskens angefertigt.
Quellen:
Brief und Mail von Lambert Muskens, geb. 27.8.1925, vom 25.1.2003 und 18.2.2003, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien.
Foto holländische Zwangsarbeiter, über Johann K. B., geb. 16.11.1922, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien.
Foto der 8. Panzerdivision, https://www.facebook.com/usarmoredmemory/posts/965034510254161, Eintrag vom 22.5.2016.
Fotos des Anatomiegebäudes, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Göttingen, Fotosammlung 3:1 und Cod. Ms. Gruber 5, Beil. Nr.1.