NS-Zwangsarbeit: Lambertus Petrus Muskens, geb. 27.8.1925 in Moergestel (Niederlande), gest. 28.6.2011 in Rekken (Niederlande), Deportation Mai 1943, Bad Lauterberg Städtisches Krankenhaus, ab Juni 1943 Göttingen Universitätskliniken, Verhaftung durch die Gestapo Anfang Oktober 1943, 10 Tage Lager in Hildesheim, danach wieder Göttingen - Erinnerungen Januar 2003

Lambert Petrus Muskens, geb. 27.8.1925, gehörte zu den holländischen Medizinstudenten, die in den Göttinger Universitätskliniken arbeiten mussten, weil sie sich geweigert hatten, die geforderte Loyalitätserklärung für Deutschland zu unterschreiben. Der größere Teil der holländischen Studenten, die im Mai 1943 nach Göttingen kamen, musste im Flakzeugamt arbeiten, eine kleine Gruppe kam in die Göttinger Universitätskliniken (wie Cees Louwerse in seinem Tagebuch beschrieb hatten beide Gruppen intensiven Kontakt zu einander). Lambert Muskens kam erst einen Monat später nach Göttingen, da er ursprünglich dem städtischen Krankenhaus in Bad Lauterberg zugeteilt worden war. Er schrieb Cordula Tollmien am 25. Januar 2003 einen langen Brief (als Antwort auf zuvor gestellte Fragen), der hier - mit Ergänzungen aus einem zweiten Brief vom 18. Februar 2003 - ausführlich zitiert werden soll, weil er ein außergewöhnliches Dokument von großer Reflektiertheit (auch was die eigene Person angeht) darstellt, charakterisiert von dem Bemühen um größtmögliche Genauigkeit und Differenziertheit und um Gerechtigkeit auch gegenüber den Deutschen. Die Abschnitte des Briefes, der sich an von mir gestellten Fragen orientierte, wurden in einigen wenigen Teilen umgestellt, um Zusammenhänge deutlicher zu machen; außerdem wurde kleinere Fehler im Deutschen korrigiert, um Missverständnisse auszuschließen:

"Sehr geehrte Frau Tollmien,
[...]
In den vergangenen sechs Wochen habe ich natürlich viel darüber nachgedacht (habe nichts anderes zu tun!) und noch mehr geträumt von dieser Zeit, 60 Jahre her. Zuerst dies: (Sie zeigten eine Vorsicht um mich nicht eventuell psychisch zu verletzten) ich habe kein "Kriegstrauma".
Meine zweite Schlussfolgerung: sehr viel "Tatsächliches" ist verschwunden aus meiner Erinnerung, und übrig blieben vor Allem die emotionalen Ansichten von Begegnungen mit Personen.
Speziell ist mir aufgefallen, dass so wenig übrig ist von räumlichen Eindrücken. Als Beispiel: Ein paar Jahre ging ich täglich zu Fuss von der Goßlerstraße bis zum Anatomischen Institut (beim Bahnhof) und davon ist die einzige deutliche Erinnerungen, das ich sehr oft stehenblieb an der Ecke zur "Straße der SA" [Weender Straße - C.T.], nämlich um den dort angeklebten Wehrmachtsbericht zu lesen. Auch die Orientierung bezüglich der Himmelsrichtungen ist mir nicht klar. Also sehr lückenhafte und - wer weiß? - auch noch gefälschte (?) Erinnerungen.

Lambert Muskens (ganz links) in einer Gruppe holländischer Medizinstudenten,
die alle in Göttingen Zwangsarbeit leisteten.
Unten Ausschnitt aus diesem Foto:

Anlass für unseren "Besuch" in Deutschland war die Tatsache, dass Ende 1942 die deutschen Besatzungsbehörden von den holländischen Studenten eine Unterschrift forderten unter eine "Loyalitäts-Erklärung" bezüglich der Aktivitäten der Besatzer. Wenn man diese Unterschrift verweigerte, musste man sich zum Arbeitseinsatz in Deutschland melden - und wurde auch das unterlassen, dann würden die Eltern verhaftet.
Damals war ich 17 Jahre alt, hatte gerade angefangen mit dem Medizinstudium. Mein Bruder (19) studierte chemische Technologie - und, zusammen mit vielen anderen, haben wir uns gemeldet und wurden abtransportiert in ein Sammellager in der Provinz Drenthe und dann mit dem Zug zum Lager in Watenstedt (über Braunschweig). Dieses Lager war eigentlich eine Ansammlung von nummerierten Baracken. Eine Einheit davon war von einer stacheligen Hecke [gemeint ist ein Stacheldrahtzaun – C.T.] umgeben und das hat Lager 21 geheißen, es war ein Straflager. Wir sind aber in einen offenen Lagerteil gekommen. Wir wurden da "sortiert" nach Brauchbarkeit für allerlei Aufgaben. Eine große Anzahl (wie auch mein Bruder) sind in diesem Lager geblieben. Hier wohnten die ausländischen Arbeiter für die "Hermann Göring Werke" und die "Stahlwerke Braunschweig". Mein Bruder musste auf den H.G.W. Metallröhren schleppen. Ich kam (als Einziger) in das Städtische Krankenhaus Bad Lauterberg (Chef war Dr. Timner) als Hilfskraft.
Ich schlief in einem Einzelzimmer in der Tuberkulosebaracke und amüsierte mich nach der "Arbeit" mit jungen Leuten aus Russland und der Ukraine, die auch dort waren. Nur eine Sorge hatte ich: Ich rauchte schon, seit ich 15 war, und ging mit meinem "Verlangen" zur "Verwaltung" und fragte nach einer "Raucherkarte". Der Mann hat mich aber breit ausgelacht und gesagt "Ich solle mir die Hose noch zubinden" - worauf ich, sehr böse, ihn gefragt habe, ob die Deutschen, denn Kinder aus ihrer Heimat verschleppten - und da war er nicht mehr amüsiert.
Auch ärgerte mich eine Krankenschwester, die mich bei jeder Begegnung betont und mit erhobenem Arm mit "Heil Hitler" grüßte. Ich sagte ihr, dass sie doch wüsste, dass ich kein Deutscher sei.
Schließlich bin ich einmal ins Gespräch gekommen mit einer kleinen Gruppe von Leuten. Man sprach über etwas, woran ich mich nur erinnere, das die Juden Schuld hätten an irgendetwa und dass diese glücklicherweise verhaftet würden. Da habe ich vorgebracht, dass diese Position der Deutschen jetzt so sei wie sie sei, aber das am Ende des Krieges die Rollen wohl getauscht würden und sie ins Gefängnis kämen statt der Juden.
Diese drei Anekdoten waren der Anlass für mein Verschwinden aus dem schönen Harzgebirge. [Lambert Muskens kam im Juni 1943 nach Göttingen - C.T.]

Aus diesen kleinen Geschichten könnte man folgern, dass ich ein Held war oder wenigstens wie ein Held gehandelt hätte, aber es war ganz anders: Ich war sehr unerfahren, also unbekümmert, kurz gesagt: dumm.
Eigentlich hatte ich viel Angst, aber meine größte Angst war, dass ich mich aus Gefühlsgründen "verräterisch" verhalten würde.

Der Abtransport nach Deutschland war irgendwann im Mai 1943, ein paar Tage später war ich in Bad Lauterberg und einen Monat danach wurde ich aufgefordert, zum Gestaporevier in Bad Herzberg zu kommen. Ich weiß noch dass Alex K. (aus Werchogansk) mir frühmorgens den Weg gezeigt hat. Die Gestapo war nicht freundlich, man drohte mir mit diesem und jenem und schickte mich schließlich zum Arbeitsamt Osterode und gab mir einen "Überweisungsschein" mit. Unterwegs las ich, dass das Arbeitsamt mich zum Arbeiten in das Kalkofenwerk in Herzberg schicken sollte. Es kam mir so vor, als ob hinter dieser Überweisung keine freundliche Absicht steckte, darum habe ich das Papier in der Tasche gelassen. Ich wurde freundlich begrüßt von dem Beamten und sagte ihm, dass ich aus Holland käme und in irgendeiner medizinischen Einrichtung arbeiten wollte. Er sagte, dass er sieben Jahre in Maassluis gearbeitet hätte und bot mir eine Zigarette an - und so ist er in meiner Erinnerung für ewig mein Freund geblieben!
Weil die Nonnen im Krankenhaus Duderstadt nicht reagierten auf seinen Telefonanruf, ist es das Universitätskuratorium Göttingen geworden. Da wurde ich als "Hilfskraft" in der Anatomie eingesetzt und wurde einquartiert bei meinen - Ihnen bekannten - Kollegen in der Augenklinik, Goßlertraße 12. Später sind wir dann alle umgesiedelt in den Oberen Stock (6. Stock) der Pathologie, auf Nummer 10.

Wir bekamen Geld für unsere Arbeit, standen auf den Gehaltslisten als Krankenpfleger, Angestellte oder Hilfskraft. Wie das Geld zu uns kam, weiß ich nicht mehr. Essen und Wäsche kamen von der Zentralküche der Kliniken. Ich weiß nur sicher, dass wir Geld bekamen, weil wir öfters ins Kino gegangen sind, oder ins Opernhaus, ein paar Mal eine Reise machten: ich fuhr zu meinem Bruder in Goslar, wo wir einen schönen Spaziergang im Okertal machten. Einmal sind wir alle zusammen, nach Kassel gefahren, da lag unser Kollege Jan Sl. im Krankenhaus, wegen eines ernsthaften Herzproblems nach einer Diphterie. [Er wurde am 21.1.1943 als krank nach Hause entlassen - C.T.]

In der Anatomie war ich dem Präparator, Herrn Julius Treibe [richtig Treiber – Hinweis Brian Freeman], zugeordnet, ein sehr ruhiger freundlicher Mann, klein, mager und mit einem großen Geschwür im Unterschenkel, wovor er dann und wann mit peinlichem Lärm den Verband herunterzerrte. Erst später begriff ich, warum er das tat! Herr Treibe hat mich nicht schwer mit Arbeit belastet und wir führten oft Gespräche. Nach der Erfahrung im Harz war ich vorsichtiger geworden. Ein Beispiel für ein Gespräch, an das ich mich erinnere:
T: Ich liebe Musik, sie auch, Herr M?
M: Ja, ich auch, Herr T. (wir nannten Komponisten).
M Wer auch schöne Musik gemacht hat, ist Felix Mendelsohn, Herr T.
T: Ja, wissen Sie, Herr M., der hat schon schönes produziert, aber nicht originell, er hat es geklaut von den anderen, den deutschen Komponisten.
M: Ach so, Herr T.
Dieses Gespräch demonstriert wie vorsichtig wir beiden einander abtasteten.

Professor Blechschmidt [Leiter der Anatomie - C.T.] war durchaus ein "netter Mensch". Es schien mir, dass er das bewusst sein wollte und mir das auch deutlich machen wollte. Meine Hauptarbeit war das Anfertigen von instruktiven Modellen von Embryonen und Teilen davon. Die waren für den Hörsaal. Er hat mich auch aufgefordert, bei den Vorlesungen anwesend zu sein, das brachte mich aber in Konflikt mit meiner Angst vor verräterischem Verhalten.
Weitere Arbeiten: Bei verschiedenen Gelegenheiten musste ich Herrn Treiber helfen und das lieferte mir die ersten grausamen Erfahrungen mit Leichen, meistens war ich behilflich bei der "Abkürzungs"-Arbeit von Herrn Treibe. [Gemeint ist das Absägen von Körperteilen - C.T.]
Viel grausamer aber war es, als (1 x pro Woche?) ein großes Auto kam aus dem Gefängnis von Wolfenbüttel. Darin "enthauptete" Leichen. Ich musste immer allen Toten genau ins Gesicht sehen, um sicher zu sein, dass mein Bruder nicht dabei war. (Wolfenbüttel liegt nicht weit von Watenstedt!)
Die meisten Leichen kamen aus Wolfenbüttel: guillotiniert. Sporadisch gab es auch Schusswunden. Direkt am Tag nach der Befreiung habe ich einem Medical Officer der Amerikaner in den Trümmern der
Anatomie den Leichenkeller gezeigt. Er meinte, dass alles legal war, weil guillotinieren in Deutschland die offizielle Art war, die Todesstrafe zu vollziehen. Im letzten Kriegsjahr hatte ich häufiger Kontakte mit Göttinger Medizinstudenten. Zwei von ihnen (Rudolf D. und Franz Sch.) wurden einmal von der Anatomie aus nach Wolfenbüttel geschickt für eine spezielle Behandlung direkt nach dem Tode. Die zwei haben mir ihre Erschütterung mitgeteilt, das Gespräch beendete Rudolf mit "Köpfe müssen rollen für den Sieg", eine phlegmatisch ausgesprochene Parodie auf "Räder müssen ...."


Das Anatomische Institut der Universität Göttingen, das am 7. April 1945 zerstört wurde.
Das rechte Foto wurde 1952 von dem Pathologen Georg Benno Gruber (1884 - 1977) aufgenommen.

Wie gesagt, Prof. Blechschmidt hatte einen deutlichen Begriff von meiner Situation, obwohl er - wie alle anderen - vorsichtig war. Anfang Oktober 1943 kamen zwei Herren von der Göttinger Gestapo, einer war der "Chef" und sein Name war Kerl. Prof. Blechschmidt kam mit beiden Herren in mein Arbeitszimmer, er war deutlich in Verlegenheit. Die Herren hatten meine Spur ein halbes Jahr suchen müssen. Prof. Blechschmidt sagte mir das und auch dass er den Herren gesagt hätte, dass ich ungefährlich sei und dass er meine Arbeit nicht entbehren könne.
Die Gestapo brachte mich in einem Auto mit Gitterfenster nach Hildesheim, zusammen mit zwei polnischen Mädchen und zwei französischen jungen Männern. Ich hatte zufällig sieben "illegale" Briefe bei mir und die habe ich in kleine Portionen gerissen und aufgegessen. Als mein Magen protestierte, habe ich die Reste in kleinen Teilen aus dem Gitterfenster geworfen. [Ich weiß nicht mehr, woher diese Briefe kamen und wohin sie sollten - ergänzte Lambert Muskens später auf Nachfragen - jedenfalls waren sie für andere Holländer und ich kannte deren Inhalt nicht und denke, dass ich sie deshalb als potentiell gefährlich ansah. In Göttingen hatte die Gestapo meine Sachen noch nicht durchsucht; im Gestapobüro gab es nur einen kurzen Aufenthalt, wobei verschiedene Häftlinge in ein ziemlich kleines Gefängnisauto gesperrt wurden - und dann ging es fort nach Hildesheim. Erst unterwegs realisierte ich, dass der Inhalt meiner Taschen zu Tage kommen würde. Und das war im Gestapobüro Hildesheim dann auch der Fall.]

Wir kamen in ein "Vor-Lager" der Gestapo und da wurde meine "Sache" behandelt von Herrn Glorian, der mich nach zehn Tagen auch wieder entlassen hat. Das Entlassungsritual enthielt auch das Unterschreiben eines Protokolls, worin stand, dass es mir leid tat, dass ich mich so staatsfeindlich benommen hatte und dass es ein nächstes Mal ein richtiges Gestapo-Erziehungslager sein würde (wahrscheinlich das Lager in Liebenau). Dies Protokoll endete wie alle anderen "Geschichten" mit "Heil Hitler" und darunter musste ich dann zeichnen. Der Schrecken fuhrt mir in die Glieder, weil unterschreiben zu verräterisch war. Ich musste das verweigern. Zu meinem Erstaunen hat Herr Glornau es dabei belassen. Er gab mir meine Sachen zurück und einen Reiseschein für Göttingen.
Das Lager in Hildesheim war relativ klein (etwa 60 Häftlinge). Das Essen war erbärmlich und die Hygiene unbeschreiblich. Die Haare wurden abrasiert; mein Protest dagegen lockte den Unterlagerführer (einen Polen) mit einer großen Stange zu mir, worauf ich schnell nachließ. Der "Oberkapo" war ein Russe, er hatte seinen Spaß daran, die Häftlinge sehr früh im Dunkeln aus den Baracken zu jagen, man musste dann durch eine Türöffnung zum Appelplatz. Den Ersten, die hindurchgingen, geschah nichts, die Darauffolgenden kriegten alle einen Schlag mit dem Stock auf den Kopf, je später man war, desto kräftiger. Der Russe war ein dummer Mann. Der Pole war ein Sadist, schloß ich aus der Tatsache, dass er wohl täglich auch mit dem Quälen der Kaninchen beschäftigt war, die beim Stacheldraht in einem Käfig untergebracht waren. Auch weil er zwei französische Jungen geprügelt hat in Anwesenheit von zwei aggressiven Hunden.
Der Lagerführer war ein Deutscher - ein etwas älterer Mann, der dann und wann immer ruhig auftrat. Ich habe kein schlechtes Benehmen an ihm bemerkt, im Gegenteil, beachten Sie folgendes Geschehnis: Die tägliche Arbeit war mit der Hand Hochofenschlacken in einen Bauernwagen werfen, dann zusammen den Wagen einen ansteigenden Weg hochschieben und dann wieder umladen in einen Eisenbahnwaggon. Während dieser Arbeit bin ich einmal aus den Latschen gekippt. Jemand hat mir ein Stück Brot zugeworfen und danach kam der Lagerführer, er hatte eine Schubkarre bei sich und befahl mir, mit dieser Karre hinter ihm herzugehen. Er ging zu einer Küche, ich musste draußen warten; er kam wieder mit einem großen Paket mit Butterbroten für mich. - Das ist doch rührend, nicht? Aber ich war - und bin - überzeugt, dass über diese Rollenverteilung zwischen Deutschen und Ausländern auf irgendeiner Stufe nachgedacht worden ist. Auch war es immer so, dass in jeder Lage die Behandlung und die Lebensumstände der "Ostarbeiter" viel schlechter waren als die unsrigen. Später ist das noch mehr aufgefallen, weil sich unsere Sprache verbesserte und manche Leute dachten, dass wir aus dem Rheinland kämen. [Auf Nachfrage ergänzte Lambert Muskens: Wie das Lager in Hildesheim hieß, weiß ich nicht, ebenso wenig weiß, wo es lag und für welchen Betrieb gearbeitet wurde. Was das letzte angeht: das Material, das wir schleppen mussten, habe ich als Hochofenschlacke angesehen und es lag nahe an einer Eisenbahnlinie, vielleicht ist das noch ein Hinweis?
Ihre letzte Frage kann ich mit Sicherheit beantworten: Jawohl,
Liebenau war uns bekannt als Name eines Straflagers. Ich will Ihnen gerne zeigen, woher ich das so sicher weiß und brauche dazu Ihre Geduld nur noch für eine kurze Geschichte: In unserer Wohnung lebten zwei Gefährten, die beide im Kesselhaus der Kliniken arbeiteten, nämlich ein Holländer, Joep K. [kein Student - C.T.] - und ein Franzose, Robert D. [kein Student - C.T.] Sie kamen gut miteinander aus, verstanden aber die Sprache des jeweils anderen nicht. Manchmal wurde das Nicht-Verstehen sehr komisch kompensiert mit einem Immer-lauter-in-das-Ohr-des Anderen-rufen (jeder in seiner eigenen Sprache). Eines Morgens war ich Zeuge, als Robert versuchte Joep (spr: Jupp) aus dem Bett zu kriegen, weil er sonst zu spät zur Arbeit gekommen wäre: "Joep, Kraanse" (Herr Kranz war der Chef im Kesselhaus). - Joep blieb unwillig, und dann kam der schwerste Trumpf : "Joep, Liebenau!!", dann stand Joep auf.]

[In den Göttinger Akten (Stadtarchiv Göttingen Pol. Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 561) befindet sich eine Meldung, wonach sich am 25.11.1944 vier Holländer - darunter Lambert Muskens - sich nach dem Bombenangriff vom 23. November 1944 "ohne Grund an den Schadenstellen aufhielten". Die vier wurden für den 26. Februar zur Arbeit einbestellt und ihre Ausweise bis zur Ableistung der Arbeit einbehalten. Welche Arbeit sie leisten mussten, steht nicht der Meldung. Lambert Muskens antwortete auf eine diesbezügliche Frage: Auch dazu kann ich nichts sagen, ich muss es vergessen haben. Aber bezüglich Kontakten mit der Polizei kann ich noch zwei Erfahrungen reproduzieren:
1944 wurde ich eingeteilt zur Rettungsstelle I, d.h. bei jedem nächtlichen Fliegeralarm musste ich zur Kantine des Sportplatze gehen (an der gegenüberliegenden Seite der Goßlerstraße), um nötigenfalls eingesetzt zu werden. Es war mir zu oft Alarm und eines Nachts wollte ich schlafen, blieb also im Bett. Da kam von hinten, quer über die Goßlerstraße eine Serie von Bomben. Man hörte das Pfeiffen und danach die Explosion. Es kam immer näher und ich beschloss aufzustehen. Wie ich in der vertikalen Lage war, hörte ich "meine" Bombe auf mich zupfeiffen. Es folgte aber keine Detonation und die folgende Bombe blies die Scherben der Fenster über mich rüber. Am nächsten Tag war gerade vor "unserem" Gebäude eine Gruppe von Häftlingen tätig, die Bombe auszugraben. Einer der Häftlinge war Roger M., der auch bei uns wohnte, er war wegen irgendeiner (nicht-politischen) kriminellen Tat in Polizeihaft.

Mein zweiter Polizeikontakt: Jedes Jahr bekamen wir (alle Ausländer) einen Brief vom Polizeikommandanten mit der Aufforderung, sich am nächsten Tag "für eine Rücksprache" auf dem Polizeirevier zu melden. Da wurde uns dann gesagt, wie schön das Leben bei der Waffen-SS sei und wie wir uns damit einen Haufen Elend ersparen könnten. Nach dieser Religionsübung mussten wir einzeln in ein Zimmer kommen, wo außer einem Polizisten auch ein holländischer Waffen-SS-Mann saß. Der fordert uns dringlich auf, uns zu melden. Die meisten weigerten sich natürlich und dann kamen die Drohungen, namentlich zu einem "Rüstungsbetrieb in Hannover" (bekannt wegen der vielen Bombenangriffe).]

Ich war in Göttingen bis nach dem Kriegsende. Ich meine, dass die Amerikaner am 8. April nach Göttingen kamen. Gekämpft wurde nicht: "Offene Stadt" sagte man. Bloß eine Granate in einen Kirchturm, offenbar gegen einen "Schützen". Kurz danach bin ich an die Arbeit gegangen für das "HQ 8th arm[ored] div[ision] 3rd army" beim "Town Major" im Hotel zur Krone. Ich dolmetschte, vor allem für die Leute, die sich auf der "Schreibstube" meldeten mit allerlei Fragen. Auch eine andere Kategorie musste sich da melden: SS und Gestapo. Für mich war der Kreis ganz rund, als sich Herr Kerl und sein Gefährte gemeldet haben. Ich habe ihn höflich empfangen und korrekt weiter gewiesen.

Ein Vertreter der 8. Panzerdivision der Amerikaner in Göttingen am 3. Mai 1945

Nach einigen Tagen kam mein Bruder zu mir. Er war gegen Ende 1944 geflohen aus Watenstedt und ist unversehrt zu unseren Eltern gekommen. Der südliche Teil von Holland wurde kurz danach befreit und Gerard ist als Dolmetscher mit den Kanadiern auf den Feldzug durch Oldenburg gegangen, wonach er nach Göttingen kam. Ich bekam einen kurzen Urlaub und wir gingen zusammen nach Hause. Dann bin ich wieder zurückgegangen. Als die Amerikaner nach München gezogen sind, bin ich mitgefahren, kehrte dann aber zurück, weil es in München für mich nichts zu tun gab. Danach kam ich in derselben Funktion zum "Scotch Reg[iment] Roy[al] Artill[ery] 405" und die zogen später weiter nach Norden. Im Dezember 1945 habe ich in Cuxhaven meinen Abschied genommen und bin nach Hause gefahren. Die Angabe auf der "Einwohnermeldekarte" [wo vermerkt ist, dass Lambert Muskens Göttingen schon im Januar 1945 verlassen habe - C.T.] ist also nicht richtig.

Ich erinnere mich noch, dass ich am Tag vor der Befreiung mit einer Botschaft zum neuen Haus des Professors Blechschmidt geschickt wurde (Adresse war: Am weißen Steine 18). Seine Frau Traute-Marie hat mir (viel) Weißwein angeboten und ich bin schnell wieder weggegangen, weil mir die Beine fast weggeknickt sind.

In diesem Zusammenhang wäre zu vermelden, dass ich ab 65 Jahre eine deutsche Altersrente bekomme. In diesem Alter wird man hier von einem Beamten besucht, der hat mich ausgefragt, wo ich gearbeitet habe, auch im Krieg. Damit ist er zu den deutschen Behörden gegangen mit dem Ziel einer Altersrente. Jetzt kann man verstehen, warum die deutschen Behörden einen Teil meiner Zeitangaben verneint haben! [Lambert Muskens meint die falsche Angabe auf der Einwohnermeldekarte - C.T.]

Ab Ende 1945 habe ich in Utrecht wieder angefangen zu studieren und versucht, einen Teil der drei verlorenen Jahre wieder einzuholen. Im Mai 1951 war ich Arzt, bis Sommer 1953 war ich Gesundheitsoffizier, 1953 bis 1957 habe ich an dem Utrechtschen Institut für Medizinische Physiologie gearbeitet, dann promoviert mit einer neurophysiologischen Doktorarbeit. Dann absolvierte ich bis 1962 eine Ausbildung in Neurologie und Psychatrie in Wassenaas (Ursulaklinik) und schließlich habe ich als Nervenarzt gearbeitet in Eindhoven, Vlaardingen und Winterswyk.

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Ein paar Bemerkungen:
Was mir auffällt ist, dass es hier eigentlich zwei Geschichten gibt: eine von den Tatsachen und die "Abenteuer", die Sie wahrscheinlich suchen - und eine andere von meinem persönlichen Erleben und meiner Entwicklung. Und das sind zwei sehr unterschiedliche Erzählungen. - Wenn man mich fragen würde, was nun eigentlich so schlimm war, an dieser Zeit, dann sage ich: der Verlust eines wichtigen Teils meiner Jugend - und weiter nicht so viel.

 

Die Studenten in den Universitätskliniken hatten intensiven Kontakt mit den Studenten, die gemeinsam mit ihnen deportiert im Göttinger Flakzeugamt Zwangsarbeit leisten mussten. Siehe dazu vor allem das Tagebuch von Cees Louwerse.


Der australische Wissenschaftler Brian Freeman, der sich intensiv mit dem Göttinger Anatomen Erich Blechschmidt beschäftigt hat, hat eine englische Übersetzung des Textes von Lambert Muskens angefertigt.


Quellen:

Brief und Mail von Lambert Muskens, geb. 27.8.1925, vom 25.1.2003 und 18.2.2003, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien.

Foto holländische Zwangsarbeiter, über Johann K. B., geb. 16.11.1922, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien.

Foto der 8. Panzerdivision, https://www.facebook.com/usarmoredmemory/posts/965034510254161, Eintrag vom 22.5.2016.

Fotos des Anatomiegebäudes, Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Göttingen, Fotosammlung 3:1 und Cod. Ms. Gruber 5, Beil. Nr.1.

 


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