NS-Zwangsarbeit: Iwan Semjonowitsch Oserjanskij, geb. 14.4.1926, deportiert Ende August 1943 (Ruhstrat) |
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Iwan Semjonowitsch Oserjanskij, geb. 14.4.1926, wurde im August 1943 aus einer Stadt im Gebiet Dnjepropetrowsk zusammen mit allen jungen Leuten, wie er schrieb, die arbeiten konnten, nach Deutschland verschleppt. Er hat seine Erlebnisse während seiner Zwangsarbeit in Göttingen in einem langen Brief ausführlich beschrieben und legte ausdrücklich Wert darauf, dass er als Zeuge des Geschehens mit vollem Namen genannt wird. Er schrieb: "Während des Angriff der Sowjetarmee wichen die deutschen Truppen zurück. Die erbosten Deutschen verschleppten dabei mit vorgehaltenen Waffen junge und alte Menschen. Wir wurden in einen LKW geladen und unter Bewachung zur Stadt Nikopol zum Bahnhof gefahren. Dort wurden wir in einen Güterwagen geladen, in dem schon viele Menschen waren. Zwei Tage fuhren wir bis zur Stadt Peremyschl. Dort durchliefen wir eine medizinische Kontrolle einer Sanitätskomission und wurden dann in ein großes Gebäude getrieben, wir waren ungefähr 500 Menschen. Dort beschimpfte uns ein polnischer Polizist: Er hat uns mit dem Stock geprügelt und mit einem spitzen Gegenstand gestochen.
Dann wurden wir wieder in die Güterwagen beladen und nach Deutschland gefahren.
Mit "Konzentrationslager" meint Iwan Semjonowitsch Oserjanskij das von Ruhstrat betriebene Lager Tonkuhle. Er bezeichnet in seinem Brief das Lager Tonkuhle durchgängig als "das kleine Konzlager" und das Lager Schützenplatz als "das große Konzlager". Iwan Oserjanskij lieferte eine genaue Beschreibung des Lagers Tonkuhle, der er auch eine Skizze des Lagers beilegte: "Die Beschreibung des Konz(entrations)lager von Göttingen:
"Ich beschreibe die Anordnung der Fabrik [Ruhstrat]. Sie lag am anderen Ende der Stadt [in der Langen Geismarstraße - Oserjanskij bezieht sich hier auf die Entfernung zum Lager Tonkuhle, das an der Groner Landstraße lag – C.T.]. Das Gebäude war groß,etwa 3 Stock hoch. Im Erdgeschoss waren die schwere Werkzeugmaschinen aufgestellt, in den anderen Stockwerken die leichten. Wir arbeiteten im Erdgeschoss. Die Fabrik hieß RUHSTRAT, das zu vergessen, ist unmöglich. Neben der Fabrik war der Wall, ein historischer Platz, auf dem viele schöne Bäume wuchsen.Ich arbeitete dort oft, habe tiefe Gräben und Bunker gegraben. Ich erinnere mich daran ganz genau! [In der Wallanlagen wurden z.B. im Oktober 1943 Luftschutzanlagen angelegt - C.T.]. In einer Ihrer Fragen haben Sie gefragt, ob wir für unsere Arbeit Geld bekommen haben. Ja, wir haben Geld bekommen, aber nicht gleich, sondern nach 2-3 Monaten. Wir haben das Geld (Mark) bei der Fabrik in Umschlägen bekommen und sogar Kleingeld. Für dieses Geld konnten wir Gefangenen nichts kaufen. Nirgendwo. Für uns gab es kein Geschäft oder Laden. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wofür wir das Geld bekamen. Für die Arbeit wurden wir verschieden bezahlt, 25 bis 30 Mark und mehr. Aber Möglichkeiten, das Geld zu verbrauchen, hatten wir keine. Im allgemeinen haben wir es unseren Mädchen gegeben. Sie hatten viel mehr Kontakt zu den deutschen Frauen, die in der Fabrik arbeiteten. Sie gaben unseren Mädchen alte Schuhe, Kleidung u.s.w. Solchen Tauschhandel gab es. Unsere Leute gaben das Geld dem Heizer von unseren Fabrik, der sehr alt war. Wir hatten keine Kontakte mit den anderen Ausländern, wir trafen sie nur bei der Arbeit, sie arbeiteten an denselben Plätzen wie wir. Die Ernährung für die Franzosen war dieselbe wie für die Deutschen.
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Iwan Oserjanskij legte seinem Brief den auf Millimeterpapier gezeichneten Namen der Firma bei, in der er Zwangsarbeit verrichten musste: "Die Fabrik hieß RUHSTRAT, das zu vergessen, ist unmöglich", schrieb er dazu. Da es im Russischen kein H gibt, hat er dieses durch ein G ersetzt. |
Auch eine andere ehemalige Zwangsarbeiterin von Ruhstrat berichteten davon, dass sie auf der Toilette vom Meister mit kalten Wasser übergossen wurden. Unter dem Stichwort "Die beste Erinnerung" erzählte Iwan Oserjanskij die folgende Geschichte: "Die beste Erinnerung. Das war im Herbst 1944. Ich arbeitete damals im Hauptwerk [von Ruhstrat, Lange Geismarstraße - C.T.]. Eines Tages kam zu mir ein alter Meister und hat mich und auch einen anderen Mann mitgenommen. Damals verstanden wir ein bisschen Deutsch. Wir sind in einen Garten gegangen. Dort kam zu uns ein etwa 30 Jahre alter Mann und sagte uns, wir sollten in den Garten von unseren Chef gehen und Obst pflücken. Das Auto, mit dem wir fuhren, war alt, und als Treibstoff wurde Holz verbrannt [Holzvergaser - C.T.]. Der Mann hat uns erklärt, wie wir den Wagen behandeln müssten. Mein Freund Sascha (er stammte von der Krim, im Lager hatten wir keinen Nachnamen, nur die Rufnamen) hat den Wagen zuerst versorgt, dann habe ich das gemacht. Als wir in dem Garten angekommen waren, sagte uns der Mann, wir sollen die Kisten nehmen (sie waren für 5-6 kg) und die Früchte sehr vorsichtig hinein legen.Und das wichtigste: Wir dürften keine Frucht selbst essen! Neben diesen Garten war ein anderer Garten, der einem anderen Deutschen gehörte. Der Fahrer des Wagens stand neben den Wagen und warf das Holz in den Ofen. Der Garten war klein - etwa 0,02 ha. Zum Mittagsessen bekamen wir ein paar Butterbrote, der Fahrer aß selbst etwas. Während des Essens erzählte er uns seine Lebensgeschichte. Er war selbst sehr krank. Sein Vater war von der Gestapo verhaftet worden, er war ein Anhänger von Thälmann. Der Mann hat den Krieg verflucht. Als wir zurückfuhren, versorgten wir alle den Holzvergaser. Plötzlich hielt er den Wagen an, holte uns in die Fahrerkabine und sagte:" Singen wir mal ihr Lied !" Und er begann das Lied "Stenka Rasin" zu singen, genau nach russischer Art und Weise. Da weinten wir. Dann luden wir den Wagen beim Chef aus und gingen ins Lager. Ich erzähle jetzt noch eine Geschichte von dem Leben im Konzlager.
Ausführlich beschrieb Iwan Semjonowitsch den Bombenangriff auf das Lager Schützenplatz am 1. Januar 1945: "Der anglo-amerikanische Bombenangriff: Erbarmungslose Vernichtung unseres und eures Volkes von der anglo-amerikanischen Luftwaffe am Neujahrsfest 1945. Augenzeugen waren ich und mein Landsmann aus […] Aleksej K. Abends bekamen wir unsere Suppe mit Brot und gratulierten uns zum Neuen Jahr und gingen schlafen. Nachts gab es keinen Alarm. Morgens war auch still, kein Aufruf zur Arbeit. Plötzlich um 11 Uhr 30 gab es Luftalarm. Das ganze Lager lief zum Bunker, er war genau neben den Baracken. Doch ich und mein Freund blieben draußen und versteckten uns hinter der Baracke. Plötzlich hörten wir den Lärm von Flugzeugen. Zuerst kamen nur einige Flugzeuge. Die Luftabwehr schwieg. Die Mannschaften der Luftabwehrkanonen hatten sich versteckt. Eine Kanone stand 50 m von unserer Baracke entfernt. Wahrscheinlich gab es einen Befehl, nicht zu schießen. Plötzlich hörten wir schrecklichen Lärm von den Flugzeugen und den Explosionen der Bomben. Dort waren etwa 2500 Flugzeuge, die in einer Höhe von 1000 m und einem Streifen von 2-3 km Breite flogen. Sie warfen 50 bis 1000 kg Bomben ab. Dann begannen sie unser großes Lager [Schützenplatz] zu bombardieren.
Oserjanskijs erzählte auch von der Misshandlung seines Freundes Wasja durch die Gestapo, weil dieser es gewagt hatte, zu fragen, wieviel ein Mensch eigentlich noch arbeiten solle, als man die Zwangsarbeiter wieder einmal auch am Sonntag zur Arbeit trieb. Er kam dafür in ein "Arbeitserziehungslager": "Noch ein schrecklicher Fall. Sehr schwer zu erinnern. Einen Sonntag wurden wir zur Arbeit in der Stadt gesammelt. Wir wurden von einem Polizisten getrieben und liefen in einen Hof. Einer unserer Freunde, namens Wassja sagte zu dem Polizist: “Wieviel soll ein Mensch denn eigentlich noch arbeiten?!“ Der Polizist begann, den Mann mit einem Stock zu prügeln und hat ihn halbtot geprügelt. Wir wurden zur Arbeit getrieben. Der Polizist rief die Gestapo an, die ist sofort gekommen, der Mann wurde zum Wagen verschleppt und wieder geprügelt. Genau nach einen Monat kam er zurück [wahrscheinlich war er in einem Arbeitserziehungslager" - C.T.]. Niemand konnte ihn wiedererkennen. Er wurde zum Konzlager gefahren und einfach hingeworfen. Die Mädchen haben bemerkt, dass etwas neben dem Tor lag und es war Wassja. Langsam trugen sie ihn zur Baracke. Er war ganz verprügelt und verletzt, es gab keine unverletzte Stelle auf seinem Körper. Er blutete vom Kopf bis zu den Füßen, er war überall verbunden, nur ein Auge sah noch. Als wir von der Arbeit kamen, sahen wir das alles, das war schrecklich. Von jenen Tag an pflegten ihn die Mädchen, wer konnte, brachte ihm Essen. Genauso machten es die Jungen, sie halfen ihm. Er ist bis zur Befreiung nicht gesund geworden. Er wurde von den Amerikanern in ein Lazarett gebracht. Von seinem weiteren Schicksal weiß ich nichts. So quälte uns die Gestapo." Von Oserjanskij stammt auch eine der ausführlichsten Beschreibungen von der Freude unter den Zwangarbeitern, als am 8. April 1945 die Amerikaner in Göttingen einmarschierten. Er verwechselt allerdings die Daten, was aber nach einer so langen Zeit nicht verwunderlich ist: "Die Zeit der Zwangsarbeit ist endlich vorbei! Das war am 29. April 1945. Die Amerikaner waren schon in der Nähe der Stadt Göttingen. Wir warteten auf diesen Tag und wussten, wo sich unsere Truppen und wo sich die Alliierten befanden. Am 28. April wurden wir nicht zur Arbeit getrieben. Am 29. April gingen wir hinter die Wohnhäuser und sahen, wie die amerikanischen Truppen manövrierten. Wir haben sie an ihrer Uniform erkannt. Als wir das unseren Freunden erzählt haben, freuten sie sich sehr.
Doch es gab auch schlimme Erinnerungen aus der Nachkriegszeit: "Ich beschreibe Ihnen einen sehr unangenehmen Fall. So war es. Nach der Befreiung gaben uns die Amerikaner viel zu Essen. Aber es waren Trockenrationen. Bis jetzt kann man nicht glauben, wie wir das alles überlebt haben. Einige unserer Mädchen gingen zum Bahnhof, um etwas zum Essen zu suchen. Sie wollten Kartoffeln und gingen zum Bahnhof, wo viele nach dem Bombenangriff ausgebrannte Wagen standen. Sie begannen zu suchen. Plötzlich kam eine amerikanische Patrouille auf sie zu und begann, sie zu vertreiben. Wahrscheinlich war der Soldat betrunken. Alle Mädchen sind fortgegangen, nur eine setzte die Suche fort. Der Amerikaner ging noch ein Mal auf sie zu und ermahnte sie mit einem Schuss in die Luft. Und dann sofort schoss er ihr in die Brust. Das Mädchen war sofort tot. Als die anderen Mädchen die Schießerei hörten, kamen sie zu ihr zurück und sahen, dass sie tot war. Die Jungen trugen sie ins Lager und benachrichtigten die amerikanische Kommandatur. Sie kamen und entschuldigten sich und sagten: "Der Täter wird bestraft und ein Grab wird gestellt." Und so machten sie es. Am nächsten Tag gingen zum Begräbnis unsere Leute und die Amerikaner .Das Mädchen wurde auf Ihrem Friedhof begraben. Ich war auch bei dem Begräbnis. Ich und andere Leute sind über den ganzen Friedhof gegangen und waren von der Sauberkeit und Ordnung erstaunt. Überall war es schön und sauber, abgesehen von der Nation. Alles das, was bei dem Bahnhof passiert ist, haben mir die Mädchen erzählt. [In einer Kriegsgräberliste von durch Feindeinwirkung verstorbenen Zivilpersonen ist als einzige Ausländerin nach dem 8.4.1945 unter dem 7.5.1945 aufgeführt: Anna Kopytina, 19 Jahre alt, Ostarbeiterin. Das wären dann allerdings schon die Engländer gewesen. - C.T.] Und abschließend beschwor Oserjanskij noch einmal sein Bemühen um Wahrheit: "Alles,was ich beschrieben habe, ist die absolute Wahrheit. Ich schwöre es! Keine Übertreibung bei den Beschreibungen. Ich habe Ihnen beschrieben, was ich und meine Freunde in dem Konzlager überlebt haben. Als Historikerin verstehen Sie, wenn ich die Leiden und Quälereien im Einzelnen beschreiben würde, würde dies viele Bücher füllen. Wenn irgendetwas nicht klar ist, schreiben Sie mir. Ich werde in kürzester Zeit antworten. Ihre Fragen kosteten mich viel Gesundheit, weil es für mich so schrecklich ist, mich an alles wieder zu erinnern. Oh, wie schwer ist es! Aber ich versuche, soweit wie möglich, Ihnen zu antworten. Heute den 12.12.2000 habe ich beschlossen, das Schreiben zu beenden. Es ist jetzt 10 Uhr Abends. Alles habe ich Nachts geschrieben. Es ist für mich ruhiger. Morgen schicke ich den Brief ab. Und noch etwas. Ich habe keine Fotos. Woher auch? Ich habe keine Briefe, keine Zeichnungen, keine Unterlagen. Ich hatte meinen Geburtsschein von zu Hause mitgebracht. All die Zeit habe ich den Schein bei mir behalten. Er ist jetzt in einem schlechten Zustand. Das war alles, was ich mit nach Hause gebracht habe. Ich habe die Uhr, die ich für Büchsenfleisch bei einem Amerikaner bei der Befreiung eingetauscht habe. Also, habe ich Ihnen das alles beschrieben. Ich bewahre das alles zur Erinnerung für den Enkel auf. Was in Göttingen in dem Konzlager passiert war, habe ich beschrieben." |
Quellen:
Fragebogen und Brief Iwan Semjonowitsch Oserjanskij 12.12.2000, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32 - Tollmien.
Totenliste vom 20.1.1954, Stadtarchiv Göttingen, Grünflächenamt C 83 Nr. 9, o.P.