NS-Zwangsarbeit: Iwan Semjonowitsch Oserjanskij, geb. 14.4.1926, deportiert Ende August 1943 (Ruhstrat)

Iwan Semjonowitsch Oserjanskij, geb. 14.4.1926, wurde im August 1943 aus einer Stadt im Gebiet Dnjepropetrowsk zusammen mit allen jungen Leuten, wie er schrieb, die arbeiten konnten, nach Deutschland verschleppt. Er hat seine Erlebnisse während seiner Zwangsarbeit in Göttingen in einem langen Brief ausführlich beschrieben und legte ausdrücklich Wert darauf, dass er als Zeuge des Geschehens mit vollem Namen genannt wird.

Er schrieb:

"Während des Angriff der Sowjetarmee wichen die deutschen Truppen zurück. Die erbosten Deutschen verschleppten dabei mit vorgehaltenen Waffen junge und alte Menschen. Wir wurden in einen LKW geladen und unter Bewachung zur Stadt Nikopol zum Bahnhof gefahren. Dort wurden wir in einen Güterwagen geladen, in dem schon viele Menschen waren. Zwei Tage fuhren wir bis zur Stadt Peremyschl. Dort durchliefen wir eine medizinische Kontrolle einer Sanitätskomission und wurden dann in ein großes Gebäude getrieben, wir waren ungefähr 500 Menschen. Dort beschimpfte uns ein polnischer Polizist: Er hat uns mit dem Stock geprügelt und mit einem spitzen Gegenstand gestochen. Dann wurden wir wieder in die Güterwagen beladen und nach Deutschland gefahren.
Der Zug hielt in einer deutschen Stadt. Dort bekamen wir den Befehl, die Wagen zu verlassen. Wir wurden in Reihen aufgestellt. Dann kamen die Deutschen, wählten Jungen und Mädchen aus und transportierten sie ab. Die übrigen wurden wieder in die Wagen geladen und weiter gefahren. Und so wieder und wieder. Auf einer der Stationen wurden wir in einen Personenwagen geladen und weiter gefahren. Auf den Bahnhöfen standen die Deutschen und nahmen uns, 10-20 Menschen auf einmal. Auf einem der Bahnhöfe wurden wir gefragt, wer zuvor schon in einer Fabrik gearbeitet hat, der solle zwei Schritte vorwärts machen. Ich habe das gemacht. Wir zwei wurden von einem Deutschen genommen und nach Göttingen gefahren. Vom Bahnhof wurden wir von einem Polizisten in ein Konzentrationslager gebracht. Ich und Aljoscha K. waren sehr erschrocken. Von diesem Augenblick an begann für mich die Zwangsarbeit."

Mit "Konzentrationslager" meint Iwan Semjonowitsch Oserjanskij das von Ruhstrat betriebene Lager Tonkuhle. Er bezeichnet in seinem Brief das Lager Tonkuhle durchgängig als "das kleine Konzlager" und das Lager Schützenplatz als "das große Konzlager". Iwan Oserjanskij lieferte eine genaue Beschreibung des Lagers Tonkuhle, der er auch eine Skizze des Lagers beilegte:

"Die Beschreibung des Konz(entrations)lager von Göttingen:
Das Konzlager lag in der Umgebung der Stadt Göttingen. Rings um das Lager war Stacheldraht. Es gab 7 Baracken, die auf Holzblöcken aufgebockt waren. In einer Ecke war ein Raum für den Kommandanten. Vorne, hinter dem Stacheldraht, war vor dem Krieg ein Ziegelwerk. Hinter unserem Konzlager gab es noch weitere Baracken. Dort wohnten Franzosen, Belgier, Polen. Sie konnten sich frei bewegen ohne Bewachung, sie bekamen Paketsendungen. Hinter dem Konzlager waren bewohnte Häuser.
Einmal, als ich ins Lager gekommen bin, hat mich der Kommandant (des Wachkommandos) gefragt,wo ich herkomme und wie mein Name ist. Dann hat er etwas geschrieben und auf russisch mir gesagt: "Deine Nummer ist 103 OST". Und damit war das Gespräch zu Ende. Dann haben wir uns erkundigt, daß der Kommandant im Krieg 1918 in der Ukraine gewesen war. Er war ein älterer Mann, 75-80 Jahre alt, er hat uns niemals gekränkt, ein ruhiger Mensch. In jenen Zeiten gab es sehr wenig solche Leute."

"Ich beschreibe die Anordnung der Fabrik [Ruhstrat]. Sie lag am anderen Ende der Stadt [in der Langen Geismarstraße - Oserjanskij bezieht sich hier auf die Entfernung zum Lager Tonkuhle, das an der Groner Landstraße lag – C.T.]. Das Gebäude war groß,etwa 3 Stock hoch. Im Erdgeschoss waren die schwere Werkzeugmaschinen aufgestellt, in den anderen Stockwerken die leichten. Wir arbeiteten im Erdgeschoss. Die Fabrik hieß RUHSTRAT, das zu vergessen, ist unmöglich. Neben der Fabrik war der Wall, ein historischer Platz, auf dem viele schöne Bäume wuchsen.Ich arbeitete dort oft, habe tiefe Gräben und Bunker gegraben. Ich erinnere mich daran ganz genau! [In der Wallanlagen wurden z.B. im Oktober 1943 Luftschutzanlagen angelegt - C.T.].

In einer Ihrer Fragen haben Sie gefragt, ob wir für unsere Arbeit Geld bekommen haben. Ja, wir haben Geld bekommen, aber nicht gleich, sondern nach 2-3 Monaten. Wir haben das Geld (Mark) bei der Fabrik in Umschlägen bekommen und sogar Kleingeld. Für dieses Geld konnten wir Gefangenen nichts kaufen. Nirgendwo. Für uns gab es kein Geschäft oder Laden. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, wofür wir das Geld bekamen. Für die Arbeit wurden wir verschieden bezahlt, 25 bis 30 Mark und mehr. Aber Möglichkeiten, das Geld zu verbrauchen, hatten wir keine. Im allgemeinen haben wir es unseren Mädchen gegeben. Sie hatten viel mehr Kontakt zu den deutschen Frauen, die in der Fabrik arbeiteten. Sie gaben unseren Mädchen alte Schuhe, Kleidung u.s.w. Solchen Tauschhandel gab es. Unsere Leute gaben das Geld dem Heizer von unseren Fabrik, der sehr alt war.

In der Fabrik arbeiteten: Russen, Ukrainer, Weißrussen, Franzosen, gefangene Flieger: Engländer und Amerikaner. Aber hauptsächlich Deutsche. Niemals gab es Streit und nirgendwo.

Wir hatten keine Kontakte mit den anderen Ausländern, wir trafen sie nur bei der Arbeit, sie arbeiteten an denselben Plätzen wie wir. Die Ernährung für die Franzosen war dieselbe wie für die Deutschen.
Das war für uns eine Freude, wenn die Franzosen 2-3 Liter Suppe mit Nudeln übrig ließen. Wir gaben diese Suppe den Mädchen, besonders in der Nachtschicht. Wenn sie eine echte Suppe sahen, weinten sie. Mit großer Ungeduld warteten wir auf die Befreiung.

Iwan Oserjanskij legte seinem Brief den auf Millimeterpapier gezeichneten Namen der Firma bei, in der er Zwangsarbeit verrichten musste: "Die Fabrik hieß RUHSTRAT, das zu vergessen, ist unmöglich", schrieb er dazu. Da es im Russischen kein H gibt, hat er dieses durch ein G ersetzt.

Wir begannen die Arbeit genau um 6 Uhr Morgens und arbeiteten bis 6 Uhr Abends. Wir waren so müde, daß wir nach Beendigung der Arbeit kaum zum Konzlager gehen konnten.
Es gab einen Meister, namens Karl. Er war sehr widerlich. Am Anfang der Schicht hat er die Arbeit für ungefähr 300 Arbeiter verteilt. Dann ging er in seine Kabine (die über der Werkhalle war) und beaufsichtigte die Arbeit. Von dort oben konnte man alles gut beobachten. Wenn jemand von den Arbeitern zur Toilette ging, lief der Meister sofort auf ihn zu, nahm den Schlauch und begoss den Arbeiter mit eiskaltem Wasser. Im Sommer war es nicht so schrecklich, aber im Winter! Das war schrecklich. Der Arbeiter wurde nass und dazu noch vom Meister verprügelt. So nass, musste er bis zum Schichtende arbeiten. Erst am Ausgang der Fabrik gaben die Leute ihm trockene Kleidung zum Umziehen. So eine Quälerei!"

Auch eine andere ehemalige Zwangsarbeiterin von Ruhstrat berichteten davon, dass sie auf der Toilette vom Meister mit kalten Wasser übergossen wurden.

Unter dem Stichwort "Die beste Erinnerung" erzählte Iwan Oserjanskij die folgende Geschichte:

"Die beste Erinnerung. Das war im Herbst 1944. Ich arbeitete damals im Hauptwerk [von Ruhstrat, Lange Geismarstraße - C.T.]. Eines Tages kam zu mir ein alter Meister und hat mich und auch einen anderen Mann mitgenommen. Damals verstanden wir ein bisschen Deutsch. Wir sind in einen Garten gegangen. Dort kam zu uns ein etwa 30 Jahre alter Mann und sagte uns, wir sollten in den Garten von unseren Chef gehen und Obst pflücken. Das Auto, mit dem wir fuhren, war alt, und als Treibstoff wurde Holz verbrannt [Holzvergaser - C.T.]. Der Mann hat uns erklärt, wie wir den Wagen behandeln müssten. Mein Freund Sascha (er stammte von der Krim, im Lager hatten wir keinen Nachnamen, nur die Rufnamen) hat den Wagen zuerst versorgt, dann habe ich das gemacht. Als wir in dem Garten angekommen waren, sagte uns der Mann, wir sollen die Kisten nehmen (sie waren für 5-6 kg) und die Früchte sehr vorsichtig hinein legen.Und das wichtigste: Wir dürften keine Frucht selbst essen! Neben diesen Garten war ein anderer Garten, der einem anderen Deutschen gehörte. Der Fahrer des Wagens stand neben den Wagen und warf das Holz in den Ofen. Der Garten war klein - etwa 0,02 ha. Zum Mittagsessen bekamen wir ein paar Butterbrote, der Fahrer aß selbst etwas. Während des Essens erzählte er uns seine Lebensgeschichte. Er war selbst sehr krank. Sein Vater war von der Gestapo verhaftet worden, er war ein Anhänger von Thälmann. Der Mann hat den Krieg verflucht. Als wir zurückfuhren, versorgten wir alle den Holzvergaser. Plötzlich hielt er den Wagen an, holte uns in die Fahrerkabine und sagte:" Singen wir mal ihr Lied !" Und er begann das Lied "Stenka Rasin" zu singen, genau nach russischer Art und Weise. Da weinten wir. Dann luden wir den Wagen beim Chef aus und gingen ins Lager.

Ich erzähle jetzt noch eine Geschichte von dem Leben im Konzlager.
Im Laufe der Zeit wurde das Leben im Lager immer schlechter. Es kam der Winter. Von der Zwangsarbeit und der schlechten Ernährung wurden die Leute krank und schwollen an. Wenn wir unsere Mädchen sahen, waren wir zu Tränen gekränkt. Sie gingen zur Arbeit fast barfuß. Die Holzschuhe, die ihnen der Lagerkommandant gegeben hatten, waren schrecklich. Da habe ich die Entscheidung getroffen, ihnen zu helfen. Die Schuhe machte ich am Sonntag, wenn ich nicht zur Arbeit nicht getrieben wurde. Das war, als die Tore schon offen waren. Und einmal, mein eigenes Leben riskierend, ging ich zu dem Müllhaufen, von den mir die Mädchen erzählt hatten.
Und ich ging allein mit einem Sack. Ich hatte Glück, niemand begegnete mir und fragte, wohin gehst du, Iwan? Ich fand den Müll, dort waren viele Sachen, aber alles war alt. Ich war aber doch glücklich darüber! Ich habe davon geträumt, unseren Mädchen mit den Schuhen etwas zu helfen. Ich habe alles, was zum Schuhemachen brauchbar war, gesammelt und ins Lager getragen. Mich hat mein Vater gelehrt, Schuhe zu machen. Am nächsten Sonntag arbeitete ich den ganzen Tag, machte den Mädchen die Schuhe. Ich machte sie so gut ich es konnte. Instrumente dafür hatte ich. Die Mädchen kamen und nahmen ihre Schuhe. Wie glücklich waren sie. Dafür gaben sie mir ein kleines Stückchen Brot oder Kartoffeln. Geld für die Arbeit habe ich niemals genommen.Ich freute mich sehr, dass die Mädchen die Schuhe hatten.
So habe ich auch diese Geschichte geschrieben und solche Geschichten gab es viele, ich kann sie alle nicht beschreiben. Ehrlich gesagt, bin ich für Gerechtigkeit und muss sagen, mir gefällt ihr Müllhaufen. Ich habe verstanden, dass dieser schon lange weit hinter der Stadt lag. Vor dem Müll war ein schöner Garten, und das ist sehr gut. Wir haben so etwas Ähnliches nicht."

Ausführlich beschrieb Iwan Semjonowitsch den Bombenangriff auf das Lager Schützenplatz am 1. Januar 1945:

"Der anglo-amerikanische Bombenangriff: Erbarmungslose Vernichtung unseres und eures Volkes von der anglo-amerikanischen Luftwaffe am Neujahrsfest 1945. Augenzeugen waren ich und mein Landsmann aus […] Aleksej K. Abends bekamen wir unsere Suppe mit Brot und gratulierten uns zum Neuen Jahr und gingen schlafen. Nachts gab es keinen Alarm. Morgens war auch still, kein Aufruf zur Arbeit. Plötzlich um 11 Uhr 30 gab es Luftalarm. Das ganze Lager lief zum Bunker, er war genau neben den Baracken. Doch ich und mein Freund blieben draußen und versteckten uns hinter der Baracke. Plötzlich hörten wir den Lärm von Flugzeugen. Zuerst kamen nur einige Flugzeuge. Die Luftabwehr schwieg. Die Mannschaften der Luftabwehrkanonen hatten sich versteckt. Eine Kanone stand 50 m von unserer Baracke entfernt. Wahrscheinlich gab es einen Befehl, nicht zu schießen. Plötzlich hörten wir schrecklichen Lärm von den Flugzeugen und den Explosionen der Bomben. Dort waren etwa 2500 Flugzeuge, die in einer Höhe von 1000 m und einem Streifen von 2-3 km Breite flogen. Sie warfen 50 bis 1000 kg Bomben ab. Dann begannen sie unser großes Lager [Schützenplatz] zu bombardieren.
Baracken wurden zerstört, Menschen getötet. Wir haben geschimpft: Sie sind doch unsere Alliierten, oder? Wir beobachteten, ob sie zurückkehrten, um uns wieder zu bombardieren. Aber Gott rettete uns. Unser Konzlager bombardierten sie nicht. Aljoscha sagte zu mir: Es scheint, das sind die letzten. Wir freuten uns sehr, dass unser Konzlager [Tonkuhle] nicht zerstört war. Nach dem Ende des Bombenangriffs gingen wir zum großen Konzlager, um dort zu helfen. Wir durchbrachen den Stacheldraht fast ohne Kraftanstrengung. Entlang des Weges sahen wir Löcher im Boden. Das waren die Bomben mit Zeitzünder. Aber Gott hat uns gerettet. Was wir gesehen haben, ließ uns erschrecken. Alles brannte, die Bomben explodierten. Zwei Männer, die am Tor standen [wahrscheinlich Wachen], fragten uns, woher wir gekommen sind. Wir antworteten, wir sind von den kleinen Konzlager gekommen und wir wurden nicht bombardiert. Wir sind gekommen, um Ihnen zu helfen. Die Männer haben uns empfohlen, in unser Konzlager zurückzugehen und alles, was wir gesehen haben, unseren Leuten zu erzählen, was die Engländer gemacht haben.
Wir standen und sahen uns um. Die am Leben gebliebenen Menschen trugen die Toten und legten sie in Reihen nebeneinander. Ein Mann sagte uns, wir sollten zurückgehen, weil hier die Bomben explodieren. Eine Bombe explodierte in der Nähe und wir wurden unter Erde begraben.
Als wir in unser Lager zurückkamen, war dort niemand. Als unsere Leute zurück waren, haben wir alles erzählt. Wir haben sehr auf die Anglo-Amerikaner geschimpft. So schrecklich war das Neujahr 1945. An diesen Tag bekamen wir kein Frühstück, Mittag- und Abendessen.
Am nächsten Tag war wieder alles wie immer: „Aufstehen !" u.s.w. und wir wurden zur Arbeit getrieben, aber diesmal nicht in die Fabrik, sondern zum Bahnhof, um dort nach dem Bombenangriff aufzuräumen. Dort war alles zerstört, Züge waren umgestürzt und ausgebrannt, die Gleise zerstört, die Bombenexplosionen gingen weiter .Die Löcher in der Erde wurden umzäunt. So haben wir das alles wiederherstellt.Nach etwa zwei Tagen fuhren wieder die ersten Züge. Keiner von unseren Freunden wurde diesmal getötet. Wir arbeiteten zusammen mit Deutschen. Dann wurden wir zur Wiederherstellung der Wohnhäuser geschickt.
Solch ein Neujahr 1945 hatten wir.
Gott behüte uns von den blutigen Krieg! Frieden und Ruhe herrsche in der ganzen Welt!"

Oserjanskijs erzählte auch von der Misshandlung seines Freundes Wasja durch die Gestapo, weil dieser es gewagt hatte, zu fragen, wieviel ein Mensch eigentlich noch arbeiten solle, als man die Zwangsarbeiter wieder einmal auch am Sonntag zur Arbeit trieb. Er kam dafür in ein "Arbeitserziehungslager":

"Noch ein schrecklicher Fall. Sehr schwer zu erinnern. Einen Sonntag wurden wir zur Arbeit in der Stadt gesammelt. Wir wurden von einem Polizisten getrieben und liefen in einen Hof. Einer unserer Freunde, namens Wassja sagte zu dem Polizist: “Wieviel soll ein Mensch denn eigentlich noch arbeiten?!“ Der Polizist begann, den Mann mit einem Stock zu prügeln und hat ihn halbtot geprügelt. Wir wurden zur Arbeit getrieben. Der Polizist rief die Gestapo an, die ist sofort gekommen, der Mann wurde zum Wagen verschleppt und wieder geprügelt. Genau nach einen Monat kam er zurück [wahrscheinlich war er in einem Arbeitserziehungslager" - C.T.]. Niemand konnte ihn wiedererkennen. Er wurde zum Konzlager gefahren und einfach hingeworfen. Die Mädchen haben bemerkt, dass etwas neben dem Tor lag und es war Wassja. Langsam trugen sie ihn zur Baracke. Er war ganz verprügelt und verletzt, es gab keine unverletzte Stelle auf seinem Körper. Er blutete vom Kopf bis zu den Füßen, er war überall verbunden, nur ein Auge sah noch. Als wir von der Arbeit kamen, sahen wir das alles, das war schrecklich. Von jenen Tag an pflegten ihn die Mädchen, wer konnte, brachte ihm Essen. Genauso machten es die Jungen, sie halfen ihm. Er ist bis zur Befreiung nicht gesund geworden. Er wurde von den Amerikanern in ein Lazarett gebracht. Von seinem weiteren Schicksal weiß ich nichts. So quälte uns die Gestapo."

Von Oserjanskij stammt auch eine der ausführlichsten Beschreibungen von der Freude unter den Zwangarbeitern, als am 8. April 1945 die Amerikaner in Göttingen einmarschierten. Er verwechselt allerdings die Daten, was aber nach einer so langen Zeit nicht verwunderlich ist:

"Die Zeit der Zwangsarbeit ist endlich vorbei! Das war am 29. April 1945. Die Amerikaner waren schon in der Nähe der Stadt Göttingen. Wir warteten auf diesen Tag und wussten, wo sich unsere Truppen und wo sich die Alliierten befanden. Am 28. April wurden wir nicht zur Arbeit getrieben. Am 29. April gingen wir hinter die Wohnhäuser und sahen, wie die amerikanischen Truppen manövrierten. Wir haben sie an ihrer Uniform erkannt. Als wir das unseren Freunden erzählt haben, freuten sie sich sehr.
Am 29. April verschwand die Polizei (die Wachmannschaft des Lagers). Das kann man nicht beschreiben! Wir alle sind am Leben geblieben! In dieser Zeit sind über die Stadt Göttingen einige Geschosse geflogen und weit hinter der Stadt aufgetroffen. Alle Jungen und Mädchen waren auf der Straße und haben alles gesehen. Nach einigen Tagen war die ganze Stadt weiß von weißen Fahnen. Die Stadt wurde ohne einen einzige Schuss von den Amerikanern eingenommen. Wir haben gesehen, wie amerikanische Motorräder den Weg entlang fuhren.
Nach den Motorrädern kamen die Panzer und dann gleich die LKWs mit den amerikanischen Soldaten und den Negern. Sie fuhren auf der Autobahn Kassel-Hannover. Unsere Leute standen am Straßenrand und begrüßten unsere Befreier. Die ersten Panzer und LKW hielten nicht, erst die folgende hielten an. Auf den Panzern saßen amerikanische Soldaten und Neger, alle waren jung, etwa 25 Jahre alt. Alle haben einander die Hände gedrückt und Küsse gegeben, besonders den Mädchen. Besonders freundlich waren die Neger.
Diese Begegnungen werde ich niemals vergessen. Dann haben die Amerikaner uns Geschenke gegeben, alles, was sie hatten: Kölnischwasser, Ketten, Uhren u.s.w. - Essen. An das alles erinnere ich mich, ganz deutlich. Dann sprang ein Offizier auf den Panzer und befahl, weiter zu fahren. Alle fuhren weg. Abends kamen LKWs mit Lebensmitteln. Wir haben das alles in der Mitte des Lagers ausgeladen. Die Mädchen haben alles verteilt. Das war eine große Freude."

Doch es gab auch schlimme Erinnerungen aus der Nachkriegszeit:

"Ich beschreibe Ihnen einen sehr unangenehmen Fall. So war es. Nach der Befreiung gaben uns die Amerikaner viel zu Essen. Aber es waren Trockenrationen. Bis jetzt kann man nicht glauben, wie wir das alles überlebt haben. Einige unserer Mädchen gingen zum Bahnhof, um etwas zum Essen zu suchen. Sie wollten Kartoffeln und gingen zum Bahnhof, wo viele nach dem Bombenangriff ausgebrannte Wagen standen. Sie begannen zu suchen. Plötzlich kam eine amerikanische Patrouille auf sie zu und begann, sie zu vertreiben. Wahrscheinlich war der Soldat betrunken. Alle Mädchen sind fortgegangen, nur eine setzte die Suche fort. Der Amerikaner ging noch ein Mal auf sie zu und ermahnte sie mit einem Schuss in die Luft. Und dann sofort schoss er ihr in die Brust. Das Mädchen war sofort tot. Als die anderen Mädchen die Schießerei hörten, kamen sie zu ihr zurück und sahen, dass sie tot war. Die Jungen trugen sie ins Lager und benachrichtigten die amerikanische Kommandatur. Sie kamen und entschuldigten sich und sagten: "Der Täter wird bestraft und ein Grab wird gestellt." Und so machten sie es. Am nächsten Tag gingen zum Begräbnis unsere Leute und die Amerikaner .Das Mädchen wurde auf Ihrem Friedhof begraben. Ich war auch bei dem Begräbnis. Ich und andere Leute sind über den ganzen Friedhof gegangen und waren von der Sauberkeit und Ordnung erstaunt. Überall war es schön und sauber, abgesehen von der Nation. Alles das, was bei dem Bahnhof passiert ist, haben mir die Mädchen erzählt. [In einer Kriegsgräberliste von durch Feindeinwirkung verstorbenen Zivilpersonen ist als einzige Ausländerin nach dem 8.4.1945 unter dem 7.5.1945 aufgeführt: Anna Kopytina, 19 Jahre alt, Ostarbeiterin. Das wären dann allerdings schon die Engländer gewesen. - C.T.]

Und abschließend beschwor Oserjanskij noch einmal sein Bemühen um Wahrheit:

"Alles,was ich beschrieben habe, ist die absolute Wahrheit. Ich schwöre es! Keine Übertreibung bei den Beschreibungen. Ich habe Ihnen beschrieben, was ich und meine Freunde in dem Konzlager überlebt haben. Als Historikerin verstehen Sie, wenn ich die Leiden und Quälereien im Einzelnen beschreiben würde, würde dies viele Bücher füllen. Wenn irgendetwas nicht klar ist, schreiben Sie mir. Ich werde in kürzester Zeit antworten. Ihre Fragen kosteten mich viel Gesundheit, weil es für mich so schrecklich ist, mich an alles wieder zu erinnern. Oh, wie schwer ist es! Aber ich versuche, soweit wie möglich, Ihnen zu antworten. Heute den 12.12.2000 habe ich beschlossen, das Schreiben zu beenden. Es ist jetzt 10 Uhr Abends. Alles habe ich Nachts geschrieben. Es ist für mich ruhiger. Morgen schicke ich den Brief ab. Und noch etwas. Ich habe keine Fotos. Woher auch? Ich habe keine Briefe, keine Zeichnungen, keine Unterlagen. Ich hatte meinen Geburtsschein von zu Hause mitgebracht. All die Zeit habe ich den Schein bei mir behalten. Er ist jetzt in einem schlechten Zustand. Das war alles, was ich mit nach Hause gebracht habe. Ich habe die Uhr, die ich für Büchsenfleisch bei einem Amerikaner bei der Befreiung eingetauscht habe. Also, habe ich Ihnen das alles beschrieben. Ich bewahre das alles zur Erinnerung für den Enkel auf. Was in Göttingen in dem Konzlager passiert war, habe ich beschrieben."


Quellen:

Fragebogen und Brief Iwan Semjonowitsch Oserjanskij 12.12.2000, Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32 - Tollmien.

Totenliste vom 20.1.1954, Stadtarchiv Göttingen, Grünflächenamt C 83 Nr. 9, o.P.

 


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