Zusammenfassende Auswertung der Fragebögen und Briefe ehemaliger Göttinger "OstarbeiterInnen" und polnische ZwangsarbeiterInnen |
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Da der Fragebogen im Kontext des Nachweisverfahrens für eine Zahlung nach dem Gesetz zur Errichtung einer Stiftung "Erinnerung, Verantwortung und Zukunft" entwickelt worden war, stellte er notwendigerweise eine Befragung in dem faktenorientierten Sinne dar, wie dies auch bei einer Zeugenbefragung vor Gericht geschieht. Viele der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen verleitete daher der Fragebogen zu Kurzantworten. Bemüht ja nur alles richtig zu machen, vermieden sie es, über die durch meine Fragen "geleitete Erinnerung" hinauszugehen und einfach hinzuschreiben, was ihnen einfiel.
Dabei wurde etwas deutlich, was schon das erste Ergebnis dieser Fragebogenaktion darstellt: Die Schriftlichkeit, die der Fragebogen forderte, stellte in vielen Fällen ein weitaus größeres Hindernis dar, als wir bei den Vorüberlegungen, bei denen uns natürlich bewusst war, dass man schriftlich nicht so leicht plaudert und erzählt wie mündlich, angenommen hatten. Dies lag nicht nur am Alter der Befragten, die fast alle über 70 Jahre alt waren, häufig schlecht sehen und hören und in einigen Fällen gar nicht mehr in der Lage waren, selbst zu schreiben; es lag auch daran, dass schriftsprachliche Eigenproduktionen nur bei einer sehr kleinen, an der Ausführlichkeit ihrer Antworten leicht erkennbaren Gruppe der Befragten zum normalen Alltagsleben zählten, und dass sich darüber hinaus unter den ehemaligen "OstarbeiterInnen" eine große Zahl von Analphabeten befand, da diesen als Schüler oder Schülerin deportiert eine normale Schulausbildung verwehrt geblieben war. Aufgrund der Diskriminierung, der ehemalige Zwangsarbeiter in der Sowjetunion ausgesetzt waren, konnten sie diese fehlende Schulausbildung häufig auch nach ihrer Rückkehr nicht mehr nachholen. Die meisten versuchten, dieses Handikap zu verbergen, in einigen Fällen gaben sie es aber auch offen zu. Was es für sie bedeutete, den Fragebogen dennoch mit fremder Hilfe so gut wie möglich auszufüllen, kann man nur erahnen. Interessanterweise war übrigens die Gruppe der zumindest in schriftlicher Form nicht-zeitzeugenfähigen Befragten, wie ich diejenigen einmal charakterisieren möchte, deren Antworten zumeist nur aus einem einfachen Ja oder Nein bestanden, nicht identisch mit den Analphabeten, von denen eine ganze Reihe ihrem Schreiber oder ihrer Schreiberin viele interessante Details in die Feder diktierten.
Ebenfalls als nicht ganz unproblematisch erwies sich die Hin- und Rückübersetzung der Fragen und Antworten. Übersetzungsverluste lassen sich dabei nicht vermeiden. Einige kleinere Übersetzungsfehler ließen sich beispielsweise schon an den Antworten ablesen (so wird in Frage 58 eigentlich nach den Namen anderer Zwangsarbeiterlager gefragt, übersetzt worden war aber offenbar nur "Namen anderer Zwangsarbeite". Auch wussten viele Befragten offensichtlich nicht was ein Kapo ist, was eventuell auch an der Übersetzung lag. In einigen Fällen antworteten die Befragten auch auf Ukrainisch, was mein Übersetzer für Russisch aber mithilfe von vielen Telefonaten zu Landsleuten dennoch bewältigte. Doch das Problem von Verlusten durch Übersetzung besteht für alle Anfragen ehemaliger Zwangsarbeiter, seien sie nun von vornherein in fehlerhaften, ungelenken Deutsch oder aber in Russisch verfasst. Dennoch wird diesen Anfragen, die sich ja inzwischen in fast allen Archiven zu hunderten finden, generell ein hoher Quellenwert zumindest als Ergänzungsüberlieferung zur behördlichen Überlieferung, aber auch als Grundlage und Basis für die gezielte Erstellung von Dokumenten der Oral History zugemessen.
Der von mir entwickelte Fragebogen hat gegenüber den unsystematisch in den Archiven eintreffenden Anfragen den Vorteil einen einheitlichen Fragenkomplex zu enthalten, mit dem sich alle Befragten, auch wenn sie nicht alle Fragen beantwortet haben, auseinandergesetzt haben. Ein Vergleich der Antworten ist etwa bezogen auf einen bestimmten Betrieb durch eine einfache Synopse der jeweiligen Fragebogenantworten möglich.
Bei aller quellenkritischen Vorsicht, die sowohl das Alter und den schlechten Gesundheitszustand der Betroffenen, den zeitlichen Abstand zum Geschehen, als auch den Prozess der Verdrängung von unbewältigten Erlebnissen, das selbstauferlegte Schweigen und die eventuell gegebene mentale und emotionale Überforderung im Blick zu behalten hat, kann ich hier einen ersten Überblick über den konkreten Forschungsertrag dieser Fragebögen und der ihnen beigelegten Briefe geben:
Zusammengefasst: Trotz der in den Fragebögen immer wieder durchschlagenden Tendenz zu stereotypen Antworten, die sich als Ausdruck kollektiver Erinnerungsmuster in schriftlichen Befragungen grundsätzlich stärker zeigt als bei mündlichen Interviews, erlauben die Antworten der ehemaligen Göttinger "Ostarbeiter" sowohl wichtige Einblicke in ihr individuelles als auch in ihr kollektives Schicksal. Trotz der verglichen mit einem lebensgeschichtlichen Interview, wie es sich inzwischen in der Oral History durchgesetzt hat, quellenkritisch besonders zu beachtenden Problematik von schriftlich erhobenen lebensgeschichtlichen Informationen erweisen sich die Fragebögen im Verein mit den in diesem Kontext gewechselten Briefen durchaus nicht nur als zur Behördenüberlieferung komplementäre Quellen, deren "Wahrheitsgehalt" anhand dieser behördlichen Überlieferung überprüft werden kann, sondern durchaus als eigenständiger auch individuelle Einstellungen und kollektive Erinnerungsmuster spiegelnde Quellenkorpus.
Erinnerungen ehemaliger "OstarbeiterInnen"
Beispielantworten (Briefe und Fragebögen)
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Quellen:
Fragebögen und Briefe ehemaliger OstarbeiterInnen, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien, hier insbesondere Fragebogen Anna Lukjanowna G. (Schöneis), Brief von Nikolai Petrowitsch S. (Rube), Veröffentlichung dazu im Göttinger Tageblatt am 24.2.2001, Brief von Jewgenija Timofejewna D. (Fleischerei Kraft), Brief von Iwan Semnonowitsch O. (Ruhstrat), Brief von Natalia Sergejewna L. (Aluminiumwerk, Schneeweiß, Ohrenklinik), Brief von Natalia Sergejewna T. (Außenlager Ravensbrück), Nina Ignatjewna M. (Phywe).
Literatur:
Jens Binner, Die Repatriierung und das Leben in der Sowjetunion, in: Hans-Heinrich Nolte (Hg.), Häftlinge aus der UdSSR in Bergen-Belsen. Dokumentation der Erinnerungen, Frankfurt a. M. 2001, S. 205-255.
Roswitha Breckner, Von den Zeitzeugen zu den Biographen. Methoden der Erhebung und Auswertung lebensgeschichtlicher Interviews, in: Berliner Geschichtswerkstatt (Hg.), Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994, S. 199-222, hier S. 199 f.
Anette Hennigs, Der dokumentarische Gehalt von Anfragen ehemaliger Zwangsarbeiter/-innen an das Staatsarchiv Münster, in: Wilfried Reininghaus und Norbert Reimann (Hg.), Zwangsarbeit in Deutschland 1939-1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld 2001, S. 84-90, insb. S. 89.
Katharina Hoffmann, Schichten der Erinnerung. Zwangsarbeitserfahrungen und Oral History, in: Wilfried Reininghaus und Norbert Reimann (Hg.), Zwangsarbeit in Deutschland 1939-1945. Archiv- und Sammlungsgut, Topographie und Erschließungsstrategien, Bielefeld 2001, S. 62-75, hier insb. S. 64, S. 66 f. und S. 70.
Ulrike Jureit, Erinnerungsmuster. Zur Methodik lebensgeschichtlicher Interviews mit Überlebenden der Konzentrations- und Vernichtungslager, Hamburg 1999.
Lutz Niethammer (Hg.), Lebensgeschichte und Sozialerfahrung im Ruhrgebiet, 3 Bde. Berlin / Bonn 1983-1985; hier insb. Bd. 1 Die Jahre weiß man nicht, wo man die heute hinsetzen soll Faschismuserfahrungen im Ruhrgebiet, Berlin / Bonn 1983 (dies ist das vor allem interpretatorisch immer noch unübertroffene Standartwerk zur Oral History, in dem sich auch ein Kapitel über Zwangsarbeiter findet: Ulrich Herbert, Apartheid nebenan. Erinnerungen an die Fremdarbeiter im Ruhrgebiet, in: ebd., S. 233-266 - Zeitzeugen waren hier allerdings der Anlage des Projekts entsprechend ausschließlich Deutsche.)
Pavel Polian, Deportiert nach Hause. Sowjetische Kriegsgefangene im Dritte Reich und ihre Deportierung, München 2001.
Cordula Tollmien, ".... und die deutschen Juden machten den Weg" - Jüdische Zwangsarbeiter in Göttingen 1938-1945, Vortrag auf Einladung der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit und der Bücherfrauen e. V. Göttingen gehalten am 7.11.2001,
Cordula Tollmien, Zeitzeugenbefragung am Beispiel der NS-Zwangsarbeiter, in: Archiv Nachrichten Nieder-sachsen. Mitteilungen aus niedersächsischen Archiven Nr. 6/2002, S. 9-21.
Ulrike Winkler, "Hauswirtschaftliche Ostarbeiterinnen" Zwangsarbeit in deutschen Haushalten, in: Dies. (Hg.), Stiften Gehen NS-Zwangsarbeit und Entschädigungsdebatte, Köln 2000, S. 148-168, hier S.160 f.