NS-Zwangsarbeiter: Juden, die getarnt als nichtjüdische Zwangsarbeiter überlebten |
"Vom Zehneckturm ist der Anfang der Feldstraße zu sehen ...
Hanna Krall, Legoland, Frankfurt am Main 1990, S. 122. |
Auch in Göttingen gab es eine Reihe von polnischen und auch sowjetischen Juden, denen es gelang, getarnt als nichtjüdische Zwangsarbeiter die NS-Zeit zu überleben. Wegen der benutzten falschen Namen sind auf solche Weise "untergetauchte" Juden in den Akten eigentlich nur dann zu finden, wenn die Betroffenen enttarnt wurden oder ihr Judesein nach dem Krieg gegenüber den Behörden selbst offenbarten.
Sammi M., alias Leopold L. [Sammi M. hatte ein sehr polnisch klingenden Namen auf ...inski als Tarnnamen gewählt - C.T.], konnte Zeugen für seine Identität beibringen (sein im Lebenslauf erwähnter Bruder Carol hatte auch überlebt) und so nahm ihn der Landesverband der jüdischen Gemeinden in Niedersachens per Schreiben vom 31. Dezember 1952 in die jüdische Gemeinde auf - unter der Bedingung, dass er wieder seinen richtigen Namen Sammi Meisels annehmen sollte. Zwar trat Sammi M., alias Leopold L. daraufhin im Januar 1953 immerhin aus der katholischen Kirche aus, korrespondierte aber im Mai 1954 noch immer unter dem Namen, unter dem ihn in Göttingen jeder kannte: Leopold L. - ein Zeichen dafür, welche Identitätsverwerfungen selbst eine solche gelungene Rettungsaktion zur Folge hatten.
Für die Frage, ob dem Antragsteller ein Anspruch auf Entschädigung nach dem BEG für die Zwangsarbeit in Göttingen zusteht, ist es von Bedeutung, ob der Aufenthalt im Lager Güterbahnhof Göttingen ein Leben unter menschenunwürdigen Bedingungen gewesen ist. Ich bitte deshalb um Ermittlungen, wie die Verhältnisse im genannten Lager gewesen sind. Es ist mir insbesondere an der Feststellung von Zeugen gelegen, die über dieses Lager aus eigener Anschauung aussagen können." Zeugen für die Verhältnisse in den Reichsbahnlagern (so es sie denn zu diesem Zeitpunkt in Göttingen gegeben hätte) brachte die Stadt Göttingen nicht bei, sie fragte lediglich bei der Bundesbahn (als Rechtsnachfolgerin der Reichsbahn) an: Bei sehr wohlwollender Betrachtung mag dies in den letzten Kriegsmonaten, in denen kaum noch Deutsche bei der Reichsbahn arbeiteten, für den Arbeitsprozess im engeren Sinne vielleicht tatsächlich zutreffend gewesen zu sein, wobei natürlich einer Gruppe von "Fremdarbeitern" immer ein deutscher Vorarbeiter und/oder Aufpasser zugeteilt war. Völlig außer Acht gelassen wurde bei dieser Sichtweise jedoch, die Tatsache der Deportation aus dem Heimatland, die unzureichende Ernährung, die - wie wir aus vielen Zeitzeugenaussagen wissen - häufig nicht gezahlte Entlohnung - und die für die osteuropäischen Zwangsarbeiter vorgeschriebene Lagerunterbringung. Jan D. wurde in der Antwort der Bundesbahn im Übrigen nicht wie ein überlebender Jude, sondern wie ein ausländischer nichtjüdischer Zwangsarbeiter behandelt, für die die Bundesregierung bis Anfang der 90er Jahre sich grundsätzlich weigerte, wie auch immer geartete Entschädigungszahlungen zu leisten.
In Göttingen selbst überlebten also mindestens zwei - sehr wahrscheinlich sehr viel mehr - polnische Juden getarnt als nichtjüdische Zwangsarbeiter. Dies konnte man aus Akten erfahren, die sich im Stadtarchiv Göttingen befinden, und war daher schon länger bekannt. Gänzlich unbekannt war aber bis vor kurzen, dass auch Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, dass auch wie in Hanna Kralls Geschichte Jüdinnen in Göttingen überlebten. Davon wissen wir nur durch Zeitzeugenaussagen von "Ostarbeiterinnen" (in einem Fall sogar von einer selbst betroffenen):
Wenn dies alles wirklich zutreffend ist, dann wäre das Überleben von Lida und Lena nicht nur deswegen sehr erstaunlich, weil deutsche Vorgesetzte von ihrer Identität wussten, sondern auch und vor allem deshalb, weil es sich bei ihnen offenbar um weibliche Angehörige der Roten Armee gehandelt hat. Denn die Frauen in der Roten Armee, von denen viele - wie offenbar auch Lida und Lena - aktiv am Kampfgeschehen teilnahmen, stießen bei den männerfixierten deutschen Militärs auf besonderen Hass und Ablehnung. Bereits zu Beginn des Russlandfeldzuges scheint es einen Geheimbefehl gegeben zu haben, nach dem alle "Flintenweiber", so die Bezeichnung der NS- und Wehrmachtführung für weibliche Mitglieder der sowjetischen Armee, zu erschießen seien. Lena und Lida waren daher nicht nur als Jüdinnen, sondern auch als weibliche Angehörige der Roten Armee besonders gefährdet. Gerettet hat sie wohl, dass sich im Laufe des Jahres 1942 eine etwas pragmatischere Haltung durchsetzte und man einen Teil der Frauen wie beispielsweise das Sanitätspersonal und einfache Soldatinnen nach Deutschland in die Zwangsarbeit schickte.
"Ich will, dass Du Dich an meinen Namen erinnerst" - genau das hat Polina Aleksejewna getan und deshalb kennen auch wir heute den Namen dieser jüdischen Ärztin, deren Mann und Tochter von den Deutschen ermordet wurden und die selbst direkt aus dem Krankenhaus, in dem sie arbeitete, zur Zwangsarbeit nach Göttingen verschleppt wurde:
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Helena Browtschinsky, oder wie sich Polina Aleksejewna in der korrekten weiblichen Form des Namens richtig erinnerte, Elena Stepanowa Browtschinskaja, geb. am 5.6.1899, arbeitete in Göttingen zunächst bei Albert Rust, dem Inhaber der Firma Winkelhoff & Glaeser als Hausgehilfin in dessen Privatwohnung in der Düsteren Straße 24/25. Deshalb ist auch die Einwohnermeldekarte von ihr erhalten. Denn die im Haushalt beschäftigen "Ostarbeiterinnen" wurden zumeist ordentlich gemeldet, während dies in den Betrieben nur sehr selten geschah. Möglich, dass auch Rust davon wusste oder es ahnte, dass Helena Browtschinskaja Jüdin war. Denn Albert Rust war bis zu deren Deportation eng mit den bedeutendsten jüdischen Göttinger Geschäftsleuten Nathan und Max Raphael Hahn befreundet, von deren großen Fabrikgrundstück in der Weender Landstraße 59 er schon seit Beginn der 1920er Jahre große Teile gepachtet hatte, die er bei Auslaufen des Pachtvertrags 1930 erwarb. Diese Freundschaft hinderte Rust allerdings nicht daran, schon 1932 die nationalsozialistische Bewegung durch eine Annonce zu unterstützten, aber so widersprüchlich verhielten sich nicht nur Geschäftsleute, die auf ihre jüdischen Geschäftspartner nichts kommen ließen. Spätestens im Januar 1944 kam Helena Browtschinskaja dann nach einer Aktennotiz auf dieser Karte ins Lager Schützenplatz, in die Baracke 8, in der auch Polina Aleksjewna untergebracht war, wie sie sich - ohne Kenntnis von dieser Einwohnermeldekarte - richtig erinnerte. Und dort schrieb sie eine Rezeptur für eine Salbe auf, die aus Fischfett, Eicheln und noch einem dritten unbekannten Substanz bestand. Ein polnischer Sanitäter, der russisch sprach, besorgte die Zutaten: "Diese Salbe" schrieb Polina Aleksejewna, "hat mir sehr geholfen. [...] die Wunden in meinem Gesicht heilten ab und die Entzündung meiner Augen ging zurück. Es ging mir allmählich besser und ich war Elena Stepanowna und dem Sanitäter, der mich behandelt hat, sehr dankbar. [...]. Aber natürlich bin ich am meisten Gott dafür dankbar, dass er mir eine solche Frau geschickt hat."
Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Göttingen hat Polina Aleksejewna Helena Browtschinskaja aus den Augen verloren. Sie hat sie sowohl in Göttingen als auch in dem Verteilungslager in Frankfurt an der Oder, in dem sie noch drei Monate festgehalten wurde, bis sie in ihre Heimat zurückkehren konnte, intensiv gesucht - ohne Erfolg.
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Die Einwohnermeldekarte von Helena Browtschinsky, richtig Helena Browtschinskaja - als Familienstand ist richtig verwitwet, als Religion: griech.orth. eingetragen. |
Es gerieten auch viele französische und sowjetische Juden in deutsche Kriegsgefangenschaft. Diese hatten jedoch nur in den seltensten Fällen, die Chance diese Gefangenschaft zu überleben, da besonders bei den sowjetischen Gefangenen die Deutschen gezielt nach (beschnittenen) Juden suchten. Von einem französischen Kriegsgefangenen, der in Göttingen auf dem Lager Lohberg als Dolmetscher tätig war, wissen wir, dass er jüdisch war, aufgrund einer entsprechenen Bemerkung auf den Fotos eines dort stationierten Soldaten: "... franz. Dolmetscher G.", steht in der Fotolegende. "Später hat sich herausgestellt, dass G. Jude war." Leider wissen wir nicht, wann dieses "später" war, ob nach dem Krieg oder noch während des Krieges. Deshalb wissen wir nichts über das Schicksal des jüdischen französischen Dolmetscher im Lager Lohberg. Außerdem gab es in Göttingen einen jüdischen französischen Zivilarbeiter mit dem Namen Smolinski (also eventuell ein in Frankreich lebender russischer Emigrant), der auf einer Liste des Grünflächenamtes vom 1. April 1949 auftaucht, in der die Franzosen aufgelistet sind, die exhumiert und nach Frankreich überführt wurden. Max Smolinski war am 24.1.1945 im Alter von 42 Jahren gestorben und am 31.1.1945 auf dem jüdischen Friedhof bestattet worden. Eine Sterbeurkunde von ihm gibt es im Göttinger Standesamt nicht, seine Todesursache ist daher unbekannt. |
Quellen und Literatur:
Leopold L., Lebenslauf vom 28.10.1952, Stadtarchiv Göttingen, Sammlungen Nr. 16/8 (unter L).
Reg.präs. an Stadtverwaltung Göttingen 11.11.1968, Anfrage der Stadt bei der Bundesbahn 19.11.1968, Antwort Bundesbahn 10.12.1968, StadtAGö Amt für öffentliche Ordnung O XXII 11.1 Entschädigungsverfahren A-K (unter D).
Einwohnermeldekarte Jan D...owski, geb. 1913, Helena Browtschinksy, geb. 1899, Stadtarchiv Göttingen, Alte Einwohnerregistratur.
Fragebogen und Briefe Maria Jemeljanowa L., geb. 11.2.1926, o.D. (Eingang 10.11.2000 und 15.1.2001), Polina Aleksejewna L,. geb. 18.6.1926, o.D. (Eingang 31.1.2001, 8.8.2001, 12.9.2001), Andrej Artjomowitsch B., geb. 29.2.1925, o.D. (Eingang November 2000), Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien.
Liste über die in der Zeit vom 1.9.1939 bis 1947 auf dem hiesigen Stadtfriedhof bestatteten Franzosen, o.D. (1947), Liste über die in der Zeit vom 1.9.1939 bis 22.5.1947 auf dem hiesigen Stadtfriedhof bestatteten Zivilisten französischer Nationalität o.D. (1947), Ausgrabung von 31 Frazosen am Freitag den 1. April 1949, Stadtarchiv Göttingen, Grünflächenamt C 83 Nr. 9, o.P.
Alex Bruns-Wüstefeld, Lohnende Geschäfte. Die "Entjudung der Wirtschaft am Beispiel Göttingens", Göttingen 1997, S. 237 f., S. 257 Anm. 174.
Ulrich Herbert, "Wiedergutmachung an NS-Verfolgten ist eine moralische Pflicht" - Die Lücken des bundesdeutschen Entschädigungsgesetzes oder warum ausländische Opfer der Nazi-Diktatur leer ausgehen, Zeitungsartikel, Frankfurter Rundschau 2.8.1988
Peter Jahn (Hg.): Mascha + Nina + Katjuscha. Frauen in der Roten Armee 1941-1945. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung des Deutsch-Russischen Museums Berlin Karlshorst vom 15.11.2002-23.2.2003, Berlin 2002.
Hanna Krall, Legoland, Frankfurt am Main 1990.
Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 41 f.
Cordula Tollmien, Juden in Göttingen, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866 - 1989 (hg. von Rudolf von Thadden und Günter J. Trittel), Göttingen 1999, S. 675-760, hier S, 751 f.
Cordula Tollmien, ".... und die deutschen Juden machten den Weg" - Jüdische Zwangsarbeiter in Göttingen 1938-1945", Vortrag vom 7.11.2001 (Manuskript).