NS-Zwangsarbeit: Göttinger Leinenweberei - Kiesseestraße 149 (bei der Stegemühle in Geismar) - "arisierte" ehemalige in jüdischem Besitz befindliche Firma |
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Gegründet wurde die Göttinger Leinenweberei als Leinenweberei S. & A. Rosenberg 1872, zunächst in der Groner Straße 15 und ab 1896 auf dem Grundstück der Stegemühle am südlichen Stadtrand von Göttingen. Bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die Firma stetig, Schwierigkeiten ergaben sich erst während der Zwanziger Jahre. 1924 kauften die Brüder von der Stadt Göttingen das Grundstück an der Stegemühle, das sie bisher nur gepachtet hatten. Die Stadt ließ dabei im Kaufvertrag festschreiben, dass die Rosenbergs dafür eine weitere Weberei mit 200 zusätzlichen Arbeitskräften bauen mussten. Das ließ sich nur durch die Aufnahme von Bank- und Lieferantenkrediten finanzieren. Aufgrund dieser Kredite und wegen ihrer Abhängigkeit von Großabnehmern der öffentlichen Hand geriet die Rosenbergsche Leinenweberei mit der Weltwirtschaftskrise in finanzielle Schwierigkeiten und musste Ende 1932 ein Vergleichsverfahren eröffnen. Nur Otto Rosenberg verblieb danach in der Geschäftsführung der Leineweberei, die er zuvor mit seinen Brüdern Fritz und Ernst gemeinsam geführt hatte. Ihm wurde als zweiter treuhänderischer Geschäftsführer Gustav Fremdling zur Seite gestellt, ein vertrauenswürdiger branchenkundiger Mann, der seit 34 Jahren bei S. & A. Rosenberg tätig war. Obwohl Fritz Rosenberg schon Anfang Mai 1933 von seinem SA-Hauswirt mit vorgehaltener Pistole und wüsten Drohungen aus seiner Privatwohnung in der Schillerstraße 26 geworfen worden war und die Firma die Annullierung einiger Aufträge hatte hinnehmen müssen, blieben die meisten Lieferanten und Kunden (insbesondere die öffentlichen Auftraggeber, darunter auch Heer und Marine) der Leineweberei S. & A. Rosenberg zunächst treu. Otto Rosenberg gelang es daher, den Umsatz so zu steigern, daß die Krise bereits Ende 1934 als weitgehend überwunden gelten konnte.
Allerdings konnte die Weberei aufgrund ihrer noch nicht behobenen Liquiditätsschwäche ihren Verbindlichkeiten aus dem Vergleich nicht nachkommen und lieferte damit der Industrie- und Handelskammer (IHK), der Stadtverwaltung und vor allem der Partei den Vorwand, "das schwerste Hemmnis für den Fortbestand der Firma, nämlich die Personen der gegenwärtigen Firmeninhaber zu beseitigen" - so die IHK schon am 19. Juli 1933 an Regierungspräsident Dr. Hermann Muhs. Muhs seinerseits stellte in einer Besprechung Anfang Februar 1934 mit der IHK die Notwendigkeit fest, "daß mit der bisherigen Firma S. u. A. Rosenberg durch Konkurs Schluß gemacht wird, um die Firma in andere Hände zu überführen". Das Problem war allerdings, daß die aufgelaufenen Schulden potentielle Interessenten abschreckten. Voraussetzung für die "Arisierung" waren also Sanierung und Aufrechterhaltung der Produktion. Deshalb bezuschusste die Stadt Göttingen, die kein Interesse an weiteren 200 Arbeitslosen hatte, das Unternehmen mit 70 000 RM. Sie erwarb damit im übrigen nebenbei so gut wie kostenlos die Stromerzeugungssgerechtsamkeit, die der auf dem Gelände der Stegemühle liegenden Firma erlaubte, ihre Maschinen mit der Wasserkraft der Leine anzutreiben. Außerdem stellte die Commerz- u. Privatbank Kapital für die Sanierung zur Verfügung, und genau dies bot wenig später den Ansatzpunkt für die erfolgreiche "Umwandlung" des Betriebs. Zur Überwachung der Sanierung wurde ein Gläubigerausschuß eingesetzt, der zunächst dafür sorgte, daß auch Otto Rosenberg aus der Geschäftsführung ausscheiden mußte. Gustav Fremdling blieb zwar weiter Prokurist und Betriebsleiter, bekam aber von der Gauleitung den alten Parteigenossen Rudolf Pfeiffer an die Seite gestellt, der die Interessen der Gläubiger vertrat und über die Einhaltung der „ideellen Gesichtspunkte“ bei der schrittweisen „Arisierung“ wachte. Nachdem sich der Betrieb unter der neuen "arischen" Geschäftsführung weiter konsolidiert hatte, kündigte schließlich die Commerz- u. Privatbank zum Jahresende 1935 völlig überraschend auf einen Schlag sämtliche Kredite und zwang so die Brüder Rosenberg, die bis dahin formal immer noch Eigentümer der Leinenweberei gewesen waren, die Bedingungen der Gläubiger zu akzeptieren. Ohne jede Barzahlung mussten sie Firma und Grundstück allein für die Übernahme der buchmäßigen Aktiva und Passiva auf die Gläubiger überschreiben. Dabei war die ausgewiesene Verschuldung von 33 695 RM überhaupt nur aus steuerlichen Gründen in der Bilanz erschienen. Ein Gutachter errechnete 1952, daß ein angemessener Kaufpreis bei mindestens 182 000 RM gelegen hätte. Fritz Rosenberg war mit seiner Familie noch im April 1933 nach Hamburg gezogen, am 9. November wird er mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in das Ghetto Minsk deportiert. Nur sein Sohn Heinz überlebt nach einer Odysee durch 12 Konzentrationslager die NS-Zeit.
Die "arisierte" Leinenweberei wird unter Pfeiffers Aufsicht zu einem zweimal im "Leistungskampf der deutschen Betriebe" mit einem Leistungsabzeichen ausgezeichneten Betrieb, der nicht nur Zwangsarbeiter beschäftigte, sondern im Mai 1941 auch im Jugendkonzentrationslager Moringen eine zweite Produktionsstelle einrichtete, in der die jugendlichen Häftlinge Wehrmachtsbedarf herstellen mussten. Im Juli 1940 hatte die Göttinger Leinenweberei erstmals einen Antrag auf die Zuweisung von Zwangsarbeitern gestellt, und zwar aus dem Kontigent von französischen Kriegsgefangenen, die im Lager Sültebeck untergebracht werden sollten. Obwohl der Antrag - weil keine Kriegsgefangenen zur Verfügung standen - zunächst abgelehnt wurde, taucht die Firma mit 18 weiteren Betrieben auf einer Genehmigungsliste vom 23. August 1940 mit den beantragten 15 französischen Kriegsgefangenen auf. In erster Linie aber setzte die Göttinger Leinenweberei wie alle Göttinger Textilbetriebe "Ostarbeiterinnen" ein. Untergebracht waren diese in einer Baracke auf dem Gelände der Stegemühle. Wahrscheinlich nutzte der Betrieb aber auch das Lager Schützenplatz und war Mitglied der sog. Küchenvereinigung. Mitte 1944 wurde die Leinenweberei wie auch die Texilfabrik Schöneis und viele andere Textilunternehmen als nicht kriegswichtig zwangsweise geschlossen. Das Rüstungsunternehmen Sartorius übernahm danach die gesamte Produktionsstätte der Leinenweberei einschließlich der sowjetischen Zwangsarbeiterinnen und der Baracke, in der diese untergebracht waren. Im Entnazifizierungsverfahren für Erich Sartorius, einem der Mitbesitzer der Firma Sartorius, gab dessen Rechtsanwalt zu Protokoll, dass die Baracke bei Übernahme durch Sartorius völlig verwanzt gewesen sei und Erich Sartorius diese sofort habe reinigen und in einen "menschenwürdigen Zustand" versetzen lassen. Dies ist insofern interessant, als es Fotos des Lagers Stegemühle gibt, die wahrscheinlich 1943 von der DAF zu Propagandzwecken aufgenommen wurden. Darauf sieht man ein properes Lager, mit Spitzendecken verzierte Betten und mit Blumen und und unter einem Hitlerbild glücklich auf den Betten liegende Zwangsarbeiterinnen. Die Zuordnung der Fotos zu diesem Lager wurde möglich, weil uns eine der auf diesen Propagandafotos abgebildeten Zwangsarbeiterinnen der Leinenweberei, die gegen Kriegsende für Sartorius Metallplatinen für Flugzeuge herstellte, ein Portraitfoto von sich geschickt hat, das der Göttinger Fotograf Hübner aufgenommen hatte und auf dem sie dasselbe Kleid trägt, wie auf den DAF-Propagandafotos. Efrosinja Wassiljwena Belbrowa, geb. 9.7.1921, gest. 2003, berichtete auch, dass der bei der Leinenweberei angestellte Webmeister Richard Birnbaum persönlich in ein Lager an der holländischen Grenze gereist sei, wohin man die von der Krim stammenden Zwangsarbeiterinnen nach ihrer Deportation im Juli 1942 zunächst gebracht hatte, und dort für die Leinenweberei 20 besonders kräftige Mädchen ausgewählt habe, die er mit nach Göttingen genommen habe. Rückseite des Portraitsfotos von Belobrowa mit dem Stempel des Fotografen Hübner, der eventuell auch die Propagandafotos gemacht hat und der Aufschrift: "Zum Gedenken meinen Eltern, Vater, Mutter und allen Brüdern. Nehmen Sie es und erinnern sich an ihre Tochter Frosja. Vergessen Sie sie nicht und bewahren sie es. Es wird ihnen ein Gedenken sein. Das Foto wurde am 1 Mai 1943 fotografiert." Siehe dazu auch Erfassungsfotos als private Aneignung. |
Postkarte des Gasthauses Stegemühle um die Jahrhundertwende
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Alex Bruns-Wüstefeld, Lohnende Geschäfte. Die "Entjudung der Wirtschaft am Beispiel Göttingens", Göttingen 1997 S. 193-198 (Zitate: S. 196)
Heinz Rosenberg Heinz, Jahre des Schreckens ... und ich blieb übrig, daß ich Dir's ansage, Göttingen 1985, S. 9 f.
Cordula Tollmien, Juden in Göttingen, in: Göttingen. Geschichte einer Universitätsstadt Band 3: Von der preußischen Mittelstadt zur südniedersächsischen Großstadt 1866 - 1989 (hg. von Rudolf von Thadden und Günter J. Trittel), Göttingen 1999, S. 675-760, hier S.708 f.
Aktennotiz 23.7.1940, Landesarbeitsamt an Stalag 23.7.1940, Aktennotizen 25.7.1940, 7.8.1940, Aufstellung 23.8.1940, Aktennotiz 24.8.1940, 28.8.1940, 16.10.1940, Ratssitzung 4.9.1940, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 48, o.P.
Lagerliste auf Anforderung der Gestapo vom 6.9.1944, Stadtarchiv Göttingen Pol.Dir. Fach 124 Nr. 2, Bl. 545 ff.
Sitzung 4.3.1941, Stadtarchiv Göttingen AHR I A Fach 11 Nr. 55.
Schreiben Luftgaukommando 15.8. 1942, Aktennotiz 30.10.1942, Stadtarchiv Göttingen Bauamt Abt. I Fach 16 Nr. 49, o.P.
Fragebogen, Brief und Fotos von Eforsinja Walisjewna Belebrowa, geb. 9.7.1921, gest. 2003, o.D. (Eingang 2.4.2001), Stadtarchiv Göttingen, Sammlung 32- Tollmien, Korrespondenz und Fotos.
Entnazifizierungsakte Niedersächsisches Haupt- und Staatsarchiv Hannover Nds. 171 Hildesheim Nr. 17089.
Eintrag 12.12.1942, 12.9.1944 Ausländerliste, Stadtarchiv Göttingen, Geismar Nr. 716
Betriebskrankenkasse Sartorius, Liste der „Ostarbeiter“ und „Ostarbeiterinnen“, in: Schörle, Eckart, Gutachten zur Situation von "Zwangsarbeitern" bei der Firma Sartorius Göttingen während der Zeit des Nationalsozialismus, Göttingen im Juni 2000 (Manuskript im Stadtarchiv Göttingen), o.S. (zwischen S. 54 und 55).