NS-Zwangsarbeit: Abtreibungen

Die NS-Politik gegenüber den ausländischen Schwangeren und deren Kindern war von zwei Elementen geprägt: Beim Generalbevollmächtigten der Arbeit und den Arbeitsverwaltungen stand der möglichst wenig behinderte Arbeitseinsatz der Frauen im Vordergrund, während für viele Parteistellen, insbesondere aber für die SS unter Himmler und das Reichssicherheitshauptamt, "rassische" Motive, die "Reinhaltung des deutschen Volkskörpers" von unerwünschtem Nachwuchs, überwogen (siehe dazu auch den Abschnitt über Hausschwangere). Beide Interessen ließen sich am besten miteinander vereinbaren, wenn die Kinder gar nicht erst ausgetragen, sondern abgetrieben wurden. Abtreibung war jedoch im nationalsozialistischen Deutschland ein heikles Thema (Abtreibung an deutschen "erbgesunden" Frauen war mit schwerer Strafe bedroht), und so erging erst im März 1943 in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den allgemeinen Regelungen über die Behandlung der schwangeren Ausländerinnen und ihrer Kinder ein Erlass des Reichsgesundheitsführers Leonardo Conti, nach dem Schwangerschaften bei "Ostarbeiterinnen" "auf Wunsch" unterbrochen werden konnten. Eine entsprechende Anordnung für Polinnen folgte im August 1943. Dieses "Verbrechen gegen das Leben eines unschuldigen Kindes" evozierte den Protest von Bischof Clemens von Galen, was dazu führte, daß konfessionell geführte Krankenhäuser von der Abtreibungspflicht ausgenommen wurden und die Abtreibungen bei Polinnen und "Ostarbeiterinnen" noch einmal unter strengste Geheimhaltungspflicht gestellt wurden. Diese Geheimhaltung und die Vernichtung der meisten Gesundheitsamtsakten nach 1945 sind der Grund, warum wir über das Ausmaß und die konkrete Durchführung dieser Abtreibungen vergleichsweise schlecht informiert sind. Zwar gibt es Hinweise in den Erinnerungen von Zwangsarbeitern, so z.B. bei einer jugendlichen polnischen Zwangsarbeiterin, die in den Aluminiumwerken arbeiten musste, und auch der Schriftsteller Hermann Stresau, der seit Februar 1943 bei Schneider & Co dienstverpflichtet war, und darüber eine Tagebuch veröffentlichte, berichtete von Abtreibungen bei "Russinnen", ebenso wie Cees Louwerse in seinem Tagebuch. Doch wissen wir nicht, wo diese stattgefunden haben.

In dem Erlass von Conti vom 11. März 1943 war vorgesehen, dass die Abtreibungen in den Kranken- und Entbindungsbaracken für Ostarbeiter stattfinden sollten. Insofern wäre es denkbar, dass auch in der Baracke im Ludendorffring 20 b Abtreibungen durchgeführt wurden, und Frewer et al (2004) vermuten dies auch umstandslos. Doch wissen wir, dass selbst kleinere Eingriffe wie etwa ein Dammschnitt nicht in der Krankenbaracke, sondern in der Klinik selbst durchgeführt wurde, so dass dies auch für Abtreibungen anzunehmen ist. Für diese gibt es aber keinen Hinweis in den Akten. Nun werden Abtreibungen natürlich nicht besonders gut dokumentiert worden sein, aber einen Hinweis auf "Abort", der ja nicht in der Klinik herbeigeführt worden sein musste, wie wir ihn etwa auch bei französischen Arbeiterinnen finden, müsste man eigentlich erwarten. Ein solcher Hinweis findet sich zwar 1943 für immerhin drei Polinnen, wobei die Bemerkung "Abortus incompl." sowohl auf eine unvollständige, selbst herbeigeführte Abtreibung, als auch auf eine spontanen Abgang weisen kann. Darüber hinaus gibt es in den Akten auch den Fall einer Ukrainerin aus dem Lager Schützenplatz, die im Juni 1943 (also nach Contis Erlass) einen Antrag auf Abtreibung stellte, der von den Klinikärzten abgelehnt wurde. Das lässt eine Abtreibung auch in der ärztlich ja von den Universitätskliniken betreuten Krankenbaracke für Zwangsarbeiter eher unwahrscheinlich erscheinen, zumal sich auch der dort als Pfleger tätige Stanislaw Goik nicht daran erinnerte, dass in der Baracke Abtreibungen stattgefunden hätten. Er hielt es nur für möglich, dass diese bevor er Ende Mai 1944 dorthin kam, durchgeführt worden seien. Das aber ist eher unwahrscheinlich. Denn aus welchem Grund sollte man gerade ab Mai 1944 damit aufgehört haben? Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass die "offiziellen" Abtreibungen in Göttingen, womit diese von Abtreibungsversuchen durch die Zwangsarbeiterinnen selbst unterschieden werden sollen, außerhalb Göttingens stattfanden.

Dies stützt eine Ende der 1980er Jahre aufgenommene Zeitzeugenaussage eines ehemaligen Arbeiters bei Ruhstrat, der sich daran erinnerte, dass die jungen Mädchen aus Odessa, die bei Ruhstrat arbeiteten und im firmeneigenen Lager Tonkuhle untergebracht waren, zur Abtreibung nach Bad Lauterberg gebracht worden seien. Wörtlich erinnerte er sich:
"Wenn diese große Ausräucherung [Desinfektion – C.T.] war / da mußten alle auf den Flur / alle Vierteljahr war das [so]wie sie geboren waren / und dann wurden diese Zimmer mit den Klamotten ausgeräuchert / und das ... die Mädchen kamen dann nachher zu uns und sagten / 'das ist nicht gut' / denn das waren junge Männer / die sind dann auch mal nachts / schon mal zugreiflich geworden / dann kamen diese Frauen auch mal zu uns / was sie machen können / nach Lauterberg haben sie sie geschickt / denn die wollten ja kein Kind haben.
"... und wenn ich denn zum Meister kam / und sagte denn / 'ich muß mal was sagen' / denn sagt der / 'jetzt fang Du nicht schon wieder an / Mensch / wie wollen wir denn die ersetzen? / schon wieder eine weg' und denn kam die nach Lauterberg / und nach vierzehn Tagen war sie wieder gesund / dort war / da war so' ne Sache / daß die eben keine Kinder kriegen sollen / und .. / da waren die / woll'n mal sagen / die Mädchen waren sogar froh."
Um dann direkt im Anschluss und im Gegensatz zu der eben getroffenen Aussage, dass die Mädchen sogar froh über die Abtreibung gewesen seien, hinzuzufügen: "Die haben geweint / die haben solange geweint / ich hab zum Meister gesagt / nein / ob es nicht auch anders / weil wir waren ja jung / wir haben ja gar nicht an so was denken können / wir mußten / wir waren ganz erstaunt / wie sie das erstemal gekommen sind."
Das war das erste Mal in dem gesamten Interview, dass er Mitgefühl mit den jungen Zwangsarbeiterinnen äußerte.

Um welche Einrichtung in Lauterberg - wenn diese Erinnerungen denn richtig ist - es sich gehandelt haben könnte, ließ sich nicht eruieren. Eine zentrale Abtreibungseinrichtung, wie sie etwa im westfälischen Waltrop bestand, hat es in Bad Lauterberg nicht gegeben. Denkbar wäre allenfalls, dass nicht Lauterberg, sondern ein Heim in Lautenthal, ebenfalls im Harz, gemeint war, in dem nachweislich Geburten stattfanden und das wegen der dort herrschenden katastrophalen Zustände mehrfach aktenkundig geworden ist. Doch handelte es sich dabei um ein von der NSV betriebenes Heim, von dem nicht sicher ist, ob dort überhaupt polnische oder sowjetische Schwangere untergebracht waren.

In Contis Erlass findet sich die Formulierung, dass die Schwangerschaft bei "Ostarbeiterinnen" "auf Wunsch" unterbrochen werden könne. Das klingt nach einer freiwilligen Entscheidung. Doch vielfach wurden Abtreibungen einfach verfügt: Nach Waltrop gab es Masseneinweisungen von Frauen und die ehemalige polnische Zwangsarbeiterin aus Göttingen schrieb: "Die Deutschen haben es nicht bis zur Entbindung kommen lassen. Sie haben vorzeitig einen Schwangerschaftsabbruch vorgenommen." - ein Formulierung, die sicher nicht zufällig gewählt wurde. Sehr wahrscheinlich hat es auch Fälle gegeben, in denen die Frauen von ihren Arbeitgebern zur Abtreibung überredet wurden. Doch abgesehen davon war die Situation für die Frauen grundsätzlich und immer so zwanghaft, dass von einer eigenen Entscheidung zur Abtreibung in keinem Fall gesprochen werden kann. Das hat sich auch in den Erinnerungen des ehemaligen deutschen Ruhstratarbeiters eingegraben: "Die haben geweint, die haben so lange geweint"

Schätzungen gehen davon aus, dass reichsweit etwa 20-30 % der Schwangerschaften von Polinnen und Ostarbeiterinnen abgebrochen worden sind, der weitaus größere Teil der Frauen also die Kinder austrug. Siehe dazu Geburten von Zwangsarbeiterkindern in Göttingen.

Einige Französinnen, die wegen den Folgen einer Abtreibung in den Göttinger Kliniken behandelt, waren wahrscheinlich deshalb oder wegen ihrer damit zusammenhängenden sexuellen Aktivitäten im Gefängnis und/oder Arbeitserziehungslager.


 

Literatur:

Zusammenstellung von ausländischen Patientinnen der Göttinger Frauenklinik, Stand 2002, erstellt von Mitarbeitern des Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, überlassen von Jörg Janssen.

Erinnerungen von Herrn H., 6.2.1988, aufgezeichnet von Kathrin Prüger, in: Kathrin Prüger, Osteuropäische Zwangsarbeiter (1939-1945) im Regierungsbezirk Braunschweig, Examensarbeit Göttingen 1988, S.87, S. 90f.

Fragebogen Janina L., geb. 23.5.1928, o.D. (Eingang 7.3.2001), Notizen von einem Telefongesprächen am 26.1.2002 mit Stan Goik, Stadtarchiv Göttingen, Sa. 32- Sammlung Tollmien.

Andreas Frewer / Schmidt, Wulf / Wolters, Christine, Hilfskräfte, Hausschwangere, Untersuchungsobjekte. Der Umgang mit Zwangsarbeitenden an der Universitätsfrauenklinik Göttingen, in: Andreas Frewer / Günther Siedbürger (Hg.), Medizin und Zwangsarbeit im Nationalsozialismus. Einsatz und Behandlung von „Ausländern“ im Gesundheitswesen, Frankfurt/M./New York 2004, S. 341-362, hier S. 354 f.

Reiter, Raimond, Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg, Hannover 1993, S. 36.

Gisela Schwarze, Kinder, die nicht zählten. Ostarbeiterinnen und ihre Kinder im zweiten Weltkrieg, Essen 1997, S. 143-150.
 


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